Kulturterror oder die Macht der Musik
Eigentlich bin ich Autofahrer, ich weiß, jetzt werden mich einige dafür hassen, aber ich gebe es zu. Meistens fahre ich allein und kann dann entspannt Radio oder eine meiner Lieblings-CD hören. Ich liebe Musik!
Neulich aber hatte ich einen wichtigen Termin und ich wollte nicht zu spät kommen. Ich suchte also eine gute Verbindung mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Ticket gekauft und schon sollte es losgehen.
Bereits im Bahnhofsgebäude vernahm ich Klänge von einem Akkordeon. Vor den Treppen zum Bahnsteig saß ein etwas schmuddelig gekleideter und unrasierter Herr der auf seinem alten Schifferklavier versuchte die richtigen Töne zu finden. Vor ihm auf dem Boden lag ein ebenso fettiger Hut wie er selbst und darin einige wenige Münzen wahrscheinlich festgeklebt als gutes Marketinginstrument mit der Botschaft: ich spiele gut, also bezahlt dafür!
Ich fiel auch darauf rein und eigentlich tat er mir auch leid. Der versuchte wenigstens, etwas für seinen Lebensunterhalt zu tun. Es hätte bloß nicht auf diese Art sein brauchen. Ich
warf einen Euro in seinen Hut und nickte freundlich, auch er bedankte sich. Die S-Bahn kam und ich stieg ein. Kaum hatte ich Platz genommen und der Zug fuhr an, stand in der Mitte des Zuges ein kleines Männchen, sauber gekleidet mit ziemlich alte Klamotten, die Hosen hatten die Beatles sicher noch live gesehen, und er fing laut an zu sprechen. „Guten Tag, mein Name ist Harry, ich bin arbeitslos und habe keine Wohnung und bitte Sie um ein paar Minuten Gehör. Ich versuche meinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten und biete hier den „Straßenfeger“, einer Zeitung von Obdachlosen, zum Verkauf an. Ein Teil des Erlöses ist für mich für Essen und
Trinken und Kleidung. Der andere Teil ist für die Herstellung der Zeitung. Mit Ihrem Kauf helfen Sie mir und anderen in gleicher Situation. Vielen Dank für Ihre Zeit“.
Es klang wie vorbereitet und runtergespult. Kaum war er fertig, zog er ein paar dieser Exemplare hervor und lief strukturiert durch alle Reihen, nicht unbedingt aufdringlich, dennoch zielstrebig. Gut 80 Prozent aller Fahrgäste waren plötzlich wahnsinnig am Fußbodenbelag im Zug interessiert, denn Alle schauten nach unten. Einer aber kaufte eine Zeitung, ein anderer drückte ihm etwas in die Hand. Vor der nächsten Station bedankte er sich nochmals laut
bei allen und wünschte einen guten Tag. Am Bahnhof stieg er aus und verschwand im nächsten Abteil.
Ich selbst versuchte mich wieder auf den Termin vorzubereiten und ging im Gedanken nochmal alles durch. Der Zug fuhr an. Da fing einer hinter mir an, mit seiner Gitarre zu spielen. Etwas genervt schauten auch die anderen Fahrgäste zu diesem Möchtegern-Eric Clapton, der Song war nicht zu erkennen. Gott sei Dank fing er nicht noch an zu singen. Im Stillen dachte ich: „Abstellen, Tür auf und raus“. Das Gitarrenkonzert in A-Doll oder B-Mur von Friedrich Katzenjammer zu Quietsch endete abrupt kurz vor der nächsten Station. Es blieb
diesem Saitenkümmerling aber noch genügend Zeit wieder an allen vorbeizumarschieren und die Hand aufzuhalten. Einige gaben ihm etwas, wahrscheinlich aber nur, weil er aufgehört hatte.
Der Zug fuhr an und wieder wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, diesmal versuchten sich drei Musiker mit
Balkanfolklore, der jüngste der Musiker war wahrscheinlich erst zwölf Jahre alt. Es klang grauenvoll. Ich war schon leicht gereizt als eine Gruppe Jugendlicher im hinteren Bereich grölte „ Aufhör´n, aufhör´n“ und ich erwischte mich, wie ich erst die Lippen bewegte, dann aber auch schon laut mitmachte. Es schaukelte sich hoch und immer mehr machten im Chor mit. Das albanische Trio hingegen ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen und quälte die Fahrgäste weiter. Pünktlich vor dem Erreichen der nächsten Station waren sie fertig, die Instrumente verschwanden vollständig in ihrer Kleidung und als die Türen aufgingen, hielten sie demonstrativ in
alle Richtungen ihre Hände auf sie blieben aber alle leer, die Fahrgastgemeinschaft war nicht mehr bereit etwas zu geben.
Ich brauchte jetzt einige Zeit, um mich wieder auf den Termin zu konzentrieren, versank auch nach einigen Minuten im Gedanken und war so schon in der Zukunft. Alles geplant, so muss es laufen. Ich war gerade dabei, das Schlußstatement zu formulieren, da wurde ich jäh unterbrochen. Panflöten und Trommeln zerrissen meine Gedanken und Indianer tanzten dazu im Gang. Dann doch lieber Michael Hirte mit seiner Zittermonika und uns bekannten Liedern. Man konnte bei diesen hier nur schwer
„El Condor pasa“ erkennen und der Condor, der im Original noch vorüberflog muss hier ein Geier auf Speed gewesen sein. So klang es jedenfalls. Sie passten auch die Länge des Liedes der Entfernung zwischen den Bahnhöfen an und waren erwartungsgemäß kurz vor Einfahrt fertig. Auch hier wieder die Schlussgeste mit den offenen Händen. Da die Indianer sichtbar nicht bewaffnet waren mit Pfeil und Bogen und die Fahrgäste alle wie am Marterpfahl durch die schlechte Musik gefesselt waren, gab es auch diesmal nichts.
Ich war langsam völlig aus meinem Konzept und konnte keinen vernünftigen
Gedanken mehr fassen. Wut stieg in mir hoch, wäre ich doch bloß mit dem Auto gefahren. So viele Musiker hätten in meinem Fahrzeug keinen Platz gehabt! Innerlich aufgeregt versuchte ich erneut die Gedanken zu sortieren und mich auf das Treffen vorzubereiten. Der Zug fuhr wieder an, einen Moment war es still, da kam es aus der Mitte des Zuges laut aber deutlich- „Fahrscheinkontrolle. Ihre Fahrausweise bitte“ und gleichzeitig zogen von allen Türen aus die Kontrolleure ihre Bahn und ließen keinen Fahrgast aus. Und plötzlich stand einer vor mir. Meine Erinnerung daran ist, dass ich freundlich meinen Fahrschein zeigte und den Männern noch einen schönen
Tag wünschte.
Im Polizeibericht jedoch steht, dass ein Fahrgast bei der Fahrscheinkontrolle völlig unerwartet aufsprang, einem Kontrolleur die Faust mitten ins Gesicht schlug und dabei brüllte“ Lasst mich doch einfach nur fahren, ich will keine Zeitung, ich hasse Gitarren, Mundharmonikas, Balkanmusik, Panflöten und Indianer, verpisst Euch ihr Geier, „El Controlleur pasa“ , ich will einfach nur Ruhe“. Mit Hilfe anderer Fahrgäste konnte der Mann überwältig werden. Bis zu seiner Einlieferung in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie leistete er erbitterten Widerstand. Es gab keinen sichtbaren Grund, er hatte einen
gültigen Fahrausweis.
Heute bin ich nun wieder zu Hause, den Termin vor 14 Tagen habe ich natürlich verpasst. Hier habe ich sofort alle Zeitungen abbestellt, die GEZ gekündigt und alle Radios und Tonträger aus der Wohnung und dem Auto verbannt. Ich hasse Musik!
Und mit der S-Bahn fahre ich auch nie wieder.
Copyright Bild und Text by Thomas Göpfert