Kapitel 6 Der Brief desMinisters
Auf dem Weg fasste Aaren schließlich alles zusammen, was bisher geschehen war. Mia hörte ihm lediglich aufmerksam zu, außer, wenn sie aus den noch geschützten Seitenstraßen heraus mussten und die dicht begangenen und befahrenen Asphaltstreifen überquerten, die das Herz der Stadt durchschnitten. Gebäude ragten dicht an dicht auf beiden Seiten der Straße gen Himmel und erweckten beinahe den Eindruck, man würde sich auf einem ummauerten Weg befinden. Die kleinen Abzweigungen verschwanden vor der Kulisse der
Wolkenkratzer und den hier weiß getünchten Bauten. Trotz der Aufstände wollte sich das Elektorat wohl von seiner besten Seite zeigen. Aaren glaubte jedoch nicht, dass das für die tausenden von Menschen in den Straßen gedacht war. Die Wahrheit war längst bekannt. Nur sie auch auszusprechen, das wagte kaum einer…
In der Ferne konnte Aaren die aufragenden Ministeriumsbauten sehen. Vor dem inneren Bezirk stauten sich bereits die morgendlichen Pendler, die allesamt kontrolliert wurden, bevor man sie weiter ließ und auch die Fußgänger bildeten lange Schlangen vor den Schildgeneratoren, welche mittlerweile
die Regierungsviertel überall auf dem Planeten abriegelten.
Und immer wieder kam es auch vor, dass die stummen Wächter an den Zugängen sich einzelne Personen aus der Menge griffen und bei Seite schafften. Wohin auch immer. Ab und an konnte man das Heulen von Sirenen und Schüsse in der Ferne hören.
Jack hatte ihm bereits erzählt, welche Zustände neuerdings hier herrschten, aber erst jetzt, wo er es sah begriff er das ganze Ausmaß dessen, was sich verändert hatte. Die Angst war beinahe greifbar, hing wie eine Glocke über der Stadt… Und für all das hatte es nur einen vergleichsweise kleinen Anstoß
gebraucht.
Aaren beeilte sich, Mia durch die Menschenmenge zu folgen, mitten durch den Strom der Pendler und in eine weitere Seitengasse, die im Schatten der Hochhäuser verschwand.
Als er den Faden wieder aufnahm und von Sonea erzählte unterbrach Mia ihm zum ersten Mal.
,,Und sie sind sicher, dass sie nicht zu lange in der Sonne gelegen haben ?“ , fragte sie ungläubig.
,,Warten sie es ab.“ , antwortete Aaren nur. ,,Das beste kommt noch. Die Ulanen sind… vielleicht ein indirektes Ergebnis des Ganzen.“
Mittlerweile hatten sie eine weniger
hoch bebaute Gegend erreicht. Statt gewaltigen Apartmentbauten gab es hier kleinere zwei oder sogar einstöckige Häuser, manche davon sogar mit kleineren Vorgärten.
,,Das Elektorat hat also… das Blut dieser Wesen abgezapft ?“
Aaren nickte.
,,Das ist krank.“, stellte Mia schlicht fest. ,,Das ist einfach nur…. Ich verstehe langsam gar nichts mehr.“
Aaren rang sich ein Grinsen ab. Eine Geste, die er , wie so vieles, erst wieder hatte lernen müssen, nachdem er jedes Gefühl und jeden eigenständigen Gedanken mehr als fünf Jahre lang unterdrückt hatte. Und Mia ging es wohl
nicht besser, dachte er. Die Wunden, die bei ihm bereits Zeit hatten, zu heilen, waren bei ihr noch frisch, wenige Stunden alt.,, . Ja, das kenne ich, keine Sorge, man gewöhnt sich daran…“
Die Kommissarin schüttelte lediglich den Kopf, doch mehr, als wollte sie eine lästige Fliege loswerden, anstatt seine Worte zu verneinen. Sie ging zielsicher auf ein zweistöckiges Gebäude zu. Ein exakt rechteckiger Bau mit Flachdach, den ein Schild als Praxis eines Dr. Wernher auswies.
Dieser erwies sich , als ihnen schließlich die Tür geöffnet wurde, als ein übermüdet wirkender Mann mittleren Alters mit langsam schütter werdendem
Haar und dunklen Ringen unter den Augen.
,,Ja ?“ , fragte er, während er seine zwei Besucher musterte, nur um gleich darauf zu erbleichen, als er die Kommissarin sah. Waffen und Anstecknadel ließen erst gar nicht zu, dass bei irgendjemanden Zweifel aufkommen könnten, mit wem er es zu tun hatte.
,,Kommission.“ , erklärte Mia mit kalter Stimme. ,,Ich kann doch reinkommen ?“
Der Mann nickte nur hastig, bevor er beiseitetrat und ihnen schlicht bedeutete, in einen kurzen Flur zu treten, der in einen Warteraum führte. Einige leere Stühle standen in einem Halbkreis angeordnet um einen niedrigen Tisch
herum. Ansonsten war niemand her. Licht viel durch ein Fenster herein, das die Schweißperlen, die dem Arzt auf der Stirn standen, sichtbar wiederspeigelten.
Er hatte beinahe vergessen, welchen Eindruck ein Kommissar auf die Menschen haben konnte. Vor allem, wenn sie etwas zu verbergen hatten. Doch selbst wenn nicht machten die meisten einen großen Bogen um sie.
,,A… Also, was kann ich für sie tun?“ , fragte Dr. Wernher schließlich nervös. ,,Ich habe… Es geht doch nicht…“
Mia unterbrach ihn. ,,Nein, es geht nicht darum, das sie seit Monaten heimlich Rezepte für Rebellen und Aufständische
ausstellen.“
Die Mine des Arztes erstarrte einen Moment. ,,Ich… verstehe nicht.“
,,Und ich bin heute bereit, darüber hinwegzusehen.“ , gab die Kommissarin zurück. War er eigentlich genau so gewesen? , fragte Aaren sich unwillkürlich. ,,Wenn sie mir einen Gefallen tun.“
,,Gefallen… ?“
,,Erstens, sie flicken meinen Freund hier soweit es geht wieder zusammen. Zweitens. Ich war nie hier. Verstehen wir uns?“
,,Ich…“
,,Wenn nicht, komme ich wieder. Diesmal mit Verstärkung. Dann schließe
ich ihre Praxis. Und sie können dann beten, das es nur dabei bleibt.“
,,Mia… lassen sie ihn. Nicht jeder hier ist unser Feind.“
,,Ach ja ? Wissen sie, im Augenblick bin ich mir überhaupt nicht sicher, wem ich trauen kann und ich verwette deswegen ganz sicher nicht mein Leben. Das ist…“ Sie hielt inne und stützte einen Moment den Kopf in die Handfläche. ,,Gott, das ist das reinste Chaos.“
,,Wie gesagt, man gewöhnt sich daran.“ , meinte Aaren.
,, Wenn ich vielleicht erfahren dürfte…“ , setzte der immer noch wartenden Arzt an, während er ratlos von einem zum anderen
sah.
,,Sie haben den Rebellen hier auf der Erde geholfen ?“ , wollte der Kommissar wissen.
,,Ich würde eher sagen, dass ich niemanden wegschicke, der mich um Hilfe fragt. Ob nun Elektorat oder sonst jemand. Auch einen Abtrünnigen.“
,,Sie wissen also, wer ich bin.“
,,Verzeihen sie… Aaren, aber ihr Bild war die letzten Monate überall zu sehen, zusammen mit dem einiger anderer. Mir war klar wer sie sind. Aber nicht, was sie hier wollen. Mal davon abgesehen, das sie nicht besonders gut aussehen.“
Aaren nickte. ,,Genau deshalb bin ich hier. Wenn sie mir einfach irgendetwas
geben, das die Blutungen stoppt, sind wir wieder weg.“
Der Mann nickte. ,,Sicher.“ , bevor er hinzufügte : ,,Gott, dafür macht mir das Elektorat nicht nur meine Praxis dicht, sie hängen mich auch noch. Aber das ist es wert. Sie sind nicht hier, um sich zu verstecken, oder ?“
,,Nein.“ , antwortete Aaren nur, was für den Arzt offenbar genug war. Er nickte kurz, bevor er aus dem Wartezimmer verschwand und die Tür verriegelte, bevor er durch den Flur in einem kleinen Behandlungszimmer verschwand und begann, einige Schränke zu durchsuchen.
Aaren nahm derweil auf einem der Stühle Platz und zog den Umschlag
zusammen mit der Karte, die Mia ihm gegeben hatte aus der Tasche. Die Kommissarin suchte sich ebenfalls einen Platz, während er sich zuerst die Karte und dann den einfach versiegelten Brief näher besah.
Es war ein simpler Plastikchip mit einem Magnetstreifen darauf, wie man ihn überall fand. Auf der Vorderseite jedoch prangten das Waagen und das Justitiaemblem des Ministeriums nebeneinander.
Wenn das wirklich Jones persönlicher Pass war… Dann hatte der Mann ihnen damit einen Schlüssel gegeben, der praktisch jede Tür in dieser Stadt öffnen würde. Im Stillen dankte Aaren dem
Minister dafür. Es würde vieles einfacher machen, wenn sie es wirklich wagen sollten, sich hier dem Elektorat entgegenzustellen… und die erstickte Rebellion wieder anzufachen. Wenn er so darüber nachdachte, hätten sie sich wohl kaum eine größere Aufgabe suchen können. Aber sobald er Sonea und Jack wiederfand, würde sie vielleicht etwas weniger schwer wirken.
Aaren steckte die Karte weg und hielt den Briefumschlag einen Moment gegen das Licht. Wie es aussah, befand sich ein einzelnes Blatt Papier darin.
,,Haben sie ein Messer , oder irgendwas, womit ich das hier aufbekomme ?“ , fragte er an Mia
gerichtet.
Die Kommissarin zog wortlos eine etwa handlange Klinge aus ihrem Stiefel und reichte Aaren das Wurfmesser mit dem Griff zuerst. In den Silbernen Griff der Waffe war, genau wie auf die persönliche Feuerwaffe jedes Kommissars, ein Leitspruch geätzt.
,,Inter arma enim silent leges.“ , las er. Unter den Waffen schweigen die Gesetze. Es schien beinahe so, als hätte Mia damit genau die Situation kommentieren wollen, in der sie sich jetzt wiederfanden. Aber auch seine eigene Inschrift war ihm einmal viel zu treffend erschienen
Ex iniuria ius non oritur. Aus Unrecht
wird kein Recht. Eine bittere Lektion für ihn.
Mit einem sauberen Schnitt durchtrennte Aaren das Papier des Umschlags und fischte schließlich das darin zusammengefaltete Blatt heraus. Der Text darauf war nicht mit einem Computer oder einer Maschine verfasst, wie Aaren feststellte, sondern in einer sauberen, ordentlichen Handschrift, die wohl Arthur Jones gehören musste. Vermutlich hatte der Minister nicht riskieren wollen, dass das Dokument irgendwo Zwischengespeichert wurde. Aaren fragte sich nebenbei, wann er überhaupt das letzte Mal etwas von Hand geschriebenes gelesen
hatte.
,,Was steht drin ?“ , fragte Mia mit einem Anflug von Neugier.
,,Jack, Aaren, ich hoffe sie haben es beide geschafft. Wenn sie das lesen, bin ich vermutlich bereits tot.“ Aaren konnte nicht anders, als sich Jones vorzustellen, der seelenruhig wie immer in seinem Büro hoch über den Straßen saß… und das schrieb, was wohl sein letztes Testament werden sollte. Irgendwie würde das passen. Er hatte den Mann nie anders gekannt.
,,Ich habe eine simple Wahrheit zu spät erkannt. Etwas, für das ich keine Vergebung erwarte. Das Elektorat, dem ich gedient habe, ist gestorben. Weder
weiß ich, wann das geschehen ist, noch wieso, aber es gibt nur eine einzige Heilung. Es muss Enden. Es hätte vielleicht schon vor Jahrzehnten enden müssen. Die Pfeiler, die das Elektorat tragen, sind morsch geworden. Unser Sinn für Gerechtigkeit wurde zur Selbstgerechtigkeit, unsere Eleganz zu Arroganz.
Ein Symptom davon, kann ich von meinem Fenster aus sehen. Rauchsäulen über den Außenbezirken. Feuer. Offene Rebellion in den Straßen. Ich werde das Ende nicht mehr erleben, aber egal was geschieht, die Tage des Elektorats sind gezählt. Vielleicht werden die anderen Minister es noch ein paar Jahre
zusammenhalten können, vielleicht auch ein Jahrzehnt. Aber sie müssten blind sein, den Verfall zu übersehen. Doch ich fürchte, wenn es auf diesem Weg zugrunde geht, wird das Ende des Elektorats das sein, was für die Wölfe das letzte Mal vor dem Winter ist…
Etwas gutes hat unsere Ordnung immer noch, auch wenn das keiner von ihnen glauben wird. Es gibt tausende von Welten, die ohne unsere gesicherten Handels und Verwaltungswege nicht existieren würden, Millionen, vielleicht Milliarden, an Leuten, die andernfalls verhungern würden. Geht das Elektorat unter, ohne, das etwas seinen Platz einnimmt, wird das Universum ein gutes
Stück finsterer werden.
Beenden sie es, bevor es dazu kommt. Ich weiß, dass sie einen Weg finden werden.
Ordnung und Licht. Auf das diese Worte erneut eine echte Bedeutung bekommen.
Arthur“
,,Glauben sie, er hat Recht ?“ , fragte Mia, während der Arzt mit mehreren kleinen Tablettenfläschchen , einigen Tinkturen und Wattestückchen und einem Handscanner zurückkehrte.
,,Ich wünschte, ich könnte sagen, nein.“ , meinte Aaren nach einer Weile, während er auf eine Geste des Arztes hin Aufstand. Der Mann hielt den Scanner vor sich, der einen Moment ein
Suchraster auf Aarens Körper projizierte.
,, Sagen sie, sind sie durch ein gläsernes Nadelkissen gelaufen ?“ , fragte Wernher entsetzt, als er auf die Anzeige sah.
,,So was in der Art.“
,,Ich kann ihre Blutungen Stillen und die tieferen Verletzungen mit Polymer-Hautersatz versiegeln, aber eigentlich müsste man sie örtlich betäuben und erst einmal die ganzen Splitter rausholen…“
,,Desto kürzer ich an einem Ort bleibe, umso unwahrscheinlicher, das mich jemand findet.“ , antwortete Aaren. Er würde damit leben können und, das war das wichtigste, nicht mehr allzu sehr
auffallen.
,,Wenn irgendetwas knirscht, sind sie das also nur, ja ?“
,,Wenn das ein Witz sein sollte, Mia, tuen sie mir einen gefallen.“ , erwiderte Aaren grinsend.
,, Und zwar ?“ Die Kommissarin lächelte zum ersten Mal, seit er ihr begegnet war. Ein schwaches Zucken der Mundwinkel, aber doch da. Dafür, dass sie erst seit ein paar Stunden ohne Mentalblocker war, war das beinahe schon beeindruckend.
,,Üben sie noch etwas. Sie haben ein paar Jahre
nachzuholen.“