Findelkind 7
Fortsetzung von Findelkind 6
Maya erfÀhrt die ganze Wahrheit.
Es schien, dass der Sommer sich  in diesem Jahr nicht verabschieden wollte. Noch wĂ€hrend der letzten Septembertage konnten Sofie und Maya den Garten genieĂen. Die Blumen blĂŒhten, als wollten sie zeigen, was sie zu bieten hatten, bevor sie sich in den Winterschlaf begaben. âEs könnte so schön seinâ, seufzte Sofie und schaute  zu Maya, die wie aufgebahrt auf der Liege lag und in den Himmel starrte. Mayas Miene passt so gar nicht zu der leichten heiteren AtmosphĂ€re. StĂ€ndig
hatte sie den Blick nach innen gerichtet. Sofie wagte es kaum, sie anzusprechen. Dabei hĂ€tte sie so gerne mit einer lockeren Unterhaltung aus der Reserve gelockt. Sie versuchte es mit banalen Bemerkungen wie: âWeiĂt du, dass du  nun schon ĂŒber ein Jahr bei mir bist?â  sagte Sofie, wĂ€hrend sie den Kaffeetisch auf der Terrasse deckte. âUnglaublich, was in der kurzen Zeit alles geschehen kann. Ein ganzes Leben wird auf den Kopf gestelltâ, folgerte Maya. âMehr als ein  Jahr, in dem du unablĂ€ssig nach deinen Wurzeln gesucht hast.â Weiter gedieh das GesprĂ€ch nicht.  Maya signalisierte eindeutig: Lass mich zufrieden.
Zwei Tage spĂ€ter verdĂŒsterte ein schweres Gewitter den Himmel, ein Ereignis, das Maya immer wieder mit Angst erfĂŒllte. Mit angezogenen Beinen kauerte sie auf dem Sofa und hielt sich die Ohren zu. Sie wirkte wie ein Kind, das sich am liebsten verkrochen hĂ€tte. Sofie setzte sich ganz sacht neben sie, legte  einen Arm um ihre Schulter und zog sie an sich. Maya lieĂ es geschehen. Sofie hatte sogar den Eindruck, sie gab ein wenig nach, schmiegte sich dankbar an sie. âKann ich dir helfen?â flĂŒsterte Sofie. Mayas Kopf rutschte noch ein wenig tiefer, sie lieĂ es zu, dass Sofie ihr ĂŒber die Haare strich. âJetzt ist alles noch viel schlimmerâ, stieĂ sie heftig
hervor. Sofie wusste sehr gut, was Maya sagen wollte und tröstete: âIch verstehe deine Unruhe, aber du musst warten, bis Breitstein zurĂŒck ist.â Maya nickte und gab zu, dass ihr  das schwer fiel.
,
Lange wurde sie zum GlĂŒck nicht auf die Folter gespannt. Von Julia erfuhren sie, dass sie Breitstein bei seiner Mutter gesehen habe.
âNa bitteâ, Sofie strahlte, ânun kannst du handeln. Wie siehst du es? Freust du dich?â âFreuen ist falsch, ich bin gespannt, habe aber auch ein wenig Angst. Wer weiĂ denn, was ich erfahren.â âMach, wie es fĂŒr dich richtig erscheint. Aber ich wette, lange
hĂ€ltst du es nicht aus.â
Sofie behielt recht .In Maya ĂŒberwog die Neugier. Ohne Sofie davon zu erzĂ€hlen, rief Maya schon wenige Tage spĂ€ter  Julia an und bat sie, fĂŒr  sie mit Dr. Breitstein ein GesprĂ€ch zu arrangieren, wenn möglich  im Hause von Sofie. Sie wollte sicher gehen, dass sie im Fall einer schrecklichen Offenbarung nicht schutzlos wĂ€re. Sofie sollte bei dem GesprĂ€ch  nicht zugegen sein, aber sich im Haus aufhalten. Breitstein nahm die Einladung an.  Maya hatte zwei Tage Zeit, sich auf das GesprĂ€ch vorzubereiten. Sie schwankte zwischen  Angst und Neugier. Um ihre
Aufregung zu ĂŒberdecken, plante sie den Nachmittag immer wieder neu.    SorgfĂ€ltig deckte sie dann den Tisch fĂŒr zwei und kleidete sich betont schlicht. Dr. Breitstein erschien pĂŒnktlich auf die Minute. Es war ihm anzusehen, dass auch er  angespannt war. âErinnern Sie sich an mich?â eröffnete er das GesprĂ€ch. âBitte sagen Sie duâ, bat sie âdas klingt nicht so streng.â âIn Ordnung, ich bin Jochenâ, bot Breitstein im Gegenzug an. Und Maya stellte die Frage, die ihr auf der Seele brannte. âBist du  sicher, dass wir uns schon einmal begegnet sind?â Jochen nickte. âdeine Reaktion  auf den Begriff Tobardillo lieferte mir den
Beweis. âIch weiĂ nĂ€mlich nicht einmal, was es bedeutet.â
âDas verstehe ich alles nicht.â Maya musste sich beherrschen, nicht  in TrĂ€nen auszubrechen oder nach Sofie zu rufen. âKannst du mir nicht ganz einfach erzĂ€hlen, wie es zu einer Begegnung kam? Woher wir uns kennen?â setzte sie nach einer kleinen Pause hinzu.
âGutâ, Breitstein nahm einen Schluck vom Kaffee âDu musst aber ein wenig Geduld haben, denn ich erzĂ€hle  die ganze Geschichte.â
âDas ist gutâ, ermutigte ihn Maya, âich möchte alles wissen, alles ohne Ausnahme.â
âFĂŒr mich war es immer wieder eine
Herausforderung, als Schiffsarzt zur See zu fahrenâ, begann er. âKapitĂ€n Petersen ist ein alter Freund von mir. Er kann es einrichten, mich ab und an fĂŒr Reisen anzufordern. Und Mexiko reizte mich ganz besonders. Ich hoffte, dass ich bei lĂ€ngerer Liegezeit Gelegenheit bekĂ€me, ĂŒber Land zu fahren. Meinen alten Jeep nehme ich immer mit an Bord. In Ciudad del Carmen sollten wir vier Tage liegen, um auf eine Gruppe Touristen zu warten. Da blieb genug Zeit fĂŒr mich, in den Urwald von Chiapas zu fahren. Ich wollte unbedingt zu den Lacandonen vordringen, von denen man sagt, sie seien extrem menschenscheu. Bis in die kleine Provinzstadt Tenosique brauchte
ich vier Stunden. Von dort aus musste ich mich durchfragen und auf mein GlĂŒck hoffen. In der Stadt herrschte reges Treiben, jetzt  brauchte ich einen Hinweis,  mein unbekanntes Ziel zu erreichen.
Ich hielt Ausschau nach einer Tankstelle. Geduldig stellte ich mich hinter einer Schlange alter, verbeulter, verrosteter Vehikel an. Der Tankwart gab mir ein Zeichen, an die hinterste, die freie ZapfsĂ€ule zu fahren. Ich stellte drei Kanister neben den Jeep und bedeutete dem Mann, die zu fĂŒllen.
Der fragte auf Englisch, ob ich Amerikaner sei oder Deutscher? Es war ihm nicht anzusehen, was er dachte. In
jedem Fall war er an einem GesprĂ€ch interessiert und wollte wissen,  ob ich in Mexiko lebe. Dabei musterte er mich abschĂ€tzend. Dass ich als Schiffsarzt unterwegs sei, schien ihm nichts zu sagen, als ich allerdings erwĂ€hnte,  dass ich ein paar Tage lang  hier durchs Land fahren wollte, horchte er auf und fragte recht skeptisch ob ich mich auskennen wĂŒrde.
Ic gestand, dass ich viel ĂŒber Mexiko gelesen habe und mich  Chiapas von allem am meisten anzog, die dichten WĂ€lder, das UnberĂŒhrte und UrsprĂŒngliche mache mich so neugierig und  eines dieser versteckten Lacandonendörfern zu besuchen reize
mich besonders.
Der Tankwart schĂŒttelte den Kopf und meinte, an die Lacandonen komme keiner ran. Seit zwanzig Jahren stehe er an der Tankstelle, Â habe aber nicht einmal mit einem dieser Typen gesprochen. Sie tauchen hin und wieder in den StraĂen auf in ihren schmuddeligen Kitteln, dem struppigen Haar und dem Blick, der zu sagen scheint: sprich mich nur nicht an. Die glauben, sie kommen gleich nach dem lieben Gott. Nur weil sie angeblich die reinen und unvermischten Nachfahren der Maya sind, brauchten sie nicht so feindselig zu tun.
Ist es wirklich Feindseligkeit? Wollte ich
wissen. Oder ist es nur Scheu? Scheu, er lachte verÀchtlich. Vor ein paar Wochen war hier ein Tourist, neugierig wie Sie, auch er suchte die Lacandonen. Man fand ihn wenige Tage spÀter in der NÀhe eines der Dörfer mit einem Pfeil in der Brust. Nennen Sie so etwas Scheu?
Grinsend fragte er, ob es mich immer noch locke? Nun erst recht.
Er schĂŒttelte nur den Kopf und gab mir dennoch die Wegbeschreibung: Die HauptstraĂe geradeaus vom Ortsausgang  nach etwa zwei bis drei Kilometern geht rechts ein Weg ab. Der ist nicht gut, aber mit dem Jeep befahrbar. Dieser Weg  fĂŒhrt nach etwa 15 Kilometern zu einem HolzfĂ€llerlager. Die MĂ€nner dort
haben hin und wieder Kontakt zu den versteckt lebenden Lacandonen. Die können vielleicht weiterhelfen.
Ich bedankte mich und drĂŒckte dem Mann einen Schein in die Hand. DafĂŒr bekam ich den guten Rat: Vorsichtig zu sein, mich vor allem  vor den Frauen zu hĂŒten, da kennen die keinen SpaĂ.
Ich fand mĂŒhelos die Abzweigung von der HauptstraĂe. Der Weg war schmal, aber nicht so holprig, wie ich es befĂŒrchtet hatte. Rechts und links Urwald, dichtes, struppiges Unterholz, fleischige Lianen, die sich wie grasgrĂŒne Schlangen an den hohen Baumriesen hinauf ranken. Das Laubdach ist so dicht, dass nur hier und
da ein schmaler Sonnenstreifen durchschimmerte. Die stickige Luft nahm mir fast den Atem. FĂŒr einen Augenblick ĂŒberlegte ich, ob es nicht doch ein zu gewagtes Unternehmen wĂ€re, drĂŒckte aber gleichzeitig den Gashebel ein wenig weiter durch. Es ist nicht meine Art, ein einmal begonnenes Unternehmen abzubrechen.
Keine Menschenseele begegnete mir. Ich bezweifelte schon, dass hier Menschen lebten und in diesem Dickicht ĂŒberhaupt Platz fĂŒr Siedlungen wĂ€re. Ich versuchte mir vorzustellen, welche Vielfalt von Tieren in diesem schĂŒtzenden Dickicht beheimatet war, Tiere, die sich nicht zeigen, die man nicht hört wie Spinnen,
Schlangen, Echsen, KĂ€fer, Skorpione.
Ich fuhr den Weg weiter und wĂ€re gerne irgendwo vom Pfad abgewichen, um das Buschwerk zu durchdringen und einen neugierigen Blick auf das zu werfen, was dahinter lag.  Ich war etwa eine knappe halbe Stunde gefahren, der KilometerzĂ€hler zeigte neun Kilometer an, als eine gebĂŒckte Gestalt aus dem GrĂŒn schlĂŒpfte, mitten auf den Weg sprang und sich gehetzt umschaute. Dabei stieĂ sie Laute aus, die wilden Schreien oder eher noch einem irren Lachen glichen. Ich war mir nicht sicher, ob das Wesen in dem grauweiĂen, sackartigen Gewand und der wirr vom Kopf abstehenden
HaarmĂ€hne ein Mann oder eine Frau war. Erneut brĂŒllte es dumpf wie ein Tier. Drehte sich um die eigene Achse und verschwand  auf der anderen Wegseite im Dickicht. Betroffen ĂŒber die soeben beobachtete Szene saĂ ich einige Augenblicke bewegungslos am Steuer  und versuchte zu verarbeiten, was ich gesehen hatte. War das ein Lacandone, eines dieser menschenscheuen Wesen? Lebten sie tatsĂ€chlich hier? Und der Dschungel war doch durchlĂ€ssig?
Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, stieg aus und untersuchte die Stelle, an der der Mensch aus dem GrĂŒn aufgetaucht war. Umgeknickte Ăste
zeigten dies an. Mit HĂ€nden und FĂŒĂen drĂ€ngte ich die Zweige auseinander. Es ging einfacher, als es von auĂen möglich erschien. Um mich her raschelte und knisterte es. Ich hatte das GefĂŒhl, von unzĂ€hligen Augen beobachtet zu werden. Mein Blick streifte meine festen Stiefeln. Bei der WĂ€rme waren sie mir eigentlich ĂŒbertrieben vorgekommen, aber jetzt gaben sie mir ein sicheres GefĂŒhl. Nicht einmal eine Schlange konnte mir gefĂ€hrlich werden.
Ich hielt inne. Der wĂŒrzig schwere Duft der Tropenpflanzen war berauschend. Tief sog ich die Luft ein. Ich glaubte, Rauch zu riechen, so als schwelte in der NĂ€he ein Feuer. War das bei dieser
Feuchtigkeit ĂŒberhaupt möglich?
Es drĂ€ngte mich voran, aber ich schaute vorsichtshalber zurĂŒck. Noch konnte ich die Spur erkennen, die ich mir gebahnt hatte und arbeitete mich weiter vor. Meine Neugier war nicht zu bremsen. Ein ZurĂŒck gab es nicht mehr. Dann stand ich vor einer Lichtung mit Blick auf  drei HĂŒtten, die groĂen Heuhaufen Ă€hnelten. Erst als ich genau hinsah, entdeckte ich die Flammen, die sich mĂŒhsam am BlĂ€tterdach entlang fraĂen. Da war er wieder der Mensch, den ich bereits im Busch schemenhaft gesehen hatte, jetzt erkannte ich ihn als Mann.  Eine Frau kam schreiend aus der HĂŒtte, sie schien den Mann verbal anzugreifen,
ihre Stimme ĂŒberschlug sich, wĂ€hrend er ihr mit einer gebieterischen Bewegung der Hand bedeutete, zu verschwinden. Die Frau zog sich zurĂŒck, hielt sich jedoch dicht an der TĂŒröffnung auf.  Ohne zu zögern betrat der Mann die  andere HĂŒtte, tauchte jedoch kurz darauf  mit einem tierischen BrĂŒllen erneut auf, in jeder Hand ein Kleinkind, die er wĂŒtend zu Boden schleuderte. Wie eine Wildkatze  umkreiste er die NachbarhĂŒtte. Er gewahrte die Frau am Eingang, rief ihr etwas zu und stĂŒrzte sich in wilder Wut auf sie. Kein Laut kam ĂŒber ihre erstarrten Lippen. Er riss ihr das Gewand vom Leib, schĂŒttelte sie derart, dass  das Brechen der Knochen
bis zu mir zu  hören war.â Maya stieĂ einen Schrei aus. Sie schlug die HĂ€nde vor das Gesicht. âHör aufâ, wimmerte sie. âDas kann ja man nicht einmal anhören.â
âErkennst du etwas wieder?â fragte Jochen ganz vorsichtig. Maya schĂŒttelte stumm den Kopf. âBist du sicher, dass ich schweigen soll?â Er schaute Maya fragend an und wartete, bis sie ganz leicht den Kopf schĂŒttelte, dann fuhr er mit sanfter Stimme fort. âStille breitete sich aus, bis der Mann sich schreiend aufrichtete. Aufgestaute Wut schien sich zu entladen, wie von Sinnen drehte er sich um die eigene Achse, als suche er etwas.
Ich stand wie gelĂ€hmt. Der Verstand riet mir,  mich unter keinen UmstĂ€nden einzumischen, jedoch mein Gewissen als Arzt drĂ€ngte mich, dem schrecklichen Treiben ein Ende zu setzen. Mir war klar, jedes Eingreifen meinerseits wĂ€re Selbstmord. Der Mann war besessen, vermutlich stand er unter Drogen.  RĂŒckzug, unbemerkter RĂŒckzug war die einzige Möglichkeit. Vorsichtig schaute ich mich nach allen Seiten um. Da bemerkte ich eine Frau, in den HĂ€nden hielt sie einen KrĂ€uterbuschen.â Hier machte Jochen Breitstein eine Pause und versuchte in Mayas Gesicht zu lesen. Vergebens, sie hatte den Kopf gesenkt.  âDie Frau stand wie versteinert, sie
muss die grauenvolle Szene mit angesehen haben. Ehe ich begriff, was vor sich ging, war der Wilde  mit zwei langen SprĂŒngen bei ihr, riss  ihr brutal  das Kleid vom Leib und fiel wie ein rasendes Tier ĂŒber sie her. Mit einem markerschĂŒtternden Schrei lieĂ er von der Frau ab. Er schaute sich nach allen Seiten um und huschte  durch die BĂŒsche davon. Aus seinem schrillen Schrei wurde ein Lachen, das sich zu einem unmenschlichen BrĂŒllen steigerte.  Jetzt  hielt mich nichts mehr. Mit langen SprĂŒngen war ich bei der bewusstlosen Frau, lief dann weiter zu der HĂŒtte, vor der die andere Frau  und die beiden Kleinkinder lagen. Hier kam
jede Hilfe zu spĂ€t. Weitere Personen konnte ich nicht entdecken. Ich kehrte zu der Bewusstlosen zurĂŒck, nahm sie  kurz entschlossen auf die Arme und bahnte mir mĂŒhsam den Weg zurĂŒck zum Jeep. Dort versorgte ich sie so gut wie möglich war und bettete sie auf den RĂŒcksitz. Bis zum nĂ€chsten Krankenhaus drohte ihr keine Gefahr.
Als ich den Motor startete, tauchte vor mir das Bild des Lacandonen auf, der hier meinen Weg gekreuzt hatte. Ich meinte, noch immer das irre GelÀchter zu hören. Ich war mir fast sicher, dass er es war, der die grauenvollen Taten begangen hatte.
Am Ortseingang von Tenosique suchte
ich nach einem Krankenhaus. Spanisch spreche ich nicht. Auf gut GlĂŒck versuchte ich es auf Englisch: âHospitalâ, rief ich einem Mann am StraĂenrand zu. Der zuckte verstĂ€ndnislos die Achseln. Die Tankstelle fiel ihm ein.
Wie schon zuvor herrschte reger Betrieb an den ZapfsÀulen. Ich  musste mich eine Weile gedulden.
Ihr Ausflug zu den Lacandonen war aber kurz, scherzte der Tankwart; sein LĂ€cheln verflog, als ich ihn nach einem Krankenhaus fragte und auf die RĂŒckbank des Jeeps deutete.
âWas haben Sie gemacht? Haben Sie die angefahren?â fragte er
Mit kurzen Worten schilderte ich, was ich erlebt hatte.
âDa haben Sie sich aber etwas aufgeladenâ. Der Tankwart machte ein bedenkliches Gesicht und meinte, dass ich kaum eine Chance hĂ€tte, die Frau hier im Krankenhaus unterzubringen. âNormalerweise haben die keinen Platz frei.â Es kĂ€me auf einen Versuch an und er erklĂ€rt mir den Weg âZweite StraĂe rechts, merkte ich mir. Da war es schon! Ein zweigeschossiges, verwahrlostes GebĂ€ude. Hinter einem kleinen Fenster saĂ eine Ă€ltere Indiofrau in Schwesterntracht. Sie erhob sich, als ich energisch ans Fenster klopfte. Ihr Blick verriet, dass sie solch ungestĂŒmes
Verhalten nicht schÀtzte. Ich ignorierte den bösen Blick, deutete auf den Jeep und machte der Alten Zeichen, mir zu öffnen. Stattdessen glotzte sie  mich neugierig an. Ich wiederholte meine Geste. Die Schwester zuckte die Achseln, folgte  mir aber zum Wagen. Ich gab ihr per Zeichen zu verstehen, dass ich die Patientin aus dem Auto heben und ins Haus bringen wollte. Aber die Alte packte mich am Arm und machte mir klar, dass das nicht in Frage kÀme.
Ich zeigte auf die ohnmĂ€chtige Frau und beschrieb eine fragende Bewegung der Schultern. Die Frau schĂŒttelte nachdrĂŒcklich den Kopf, lieĂ sich aber
 herab, den Puls der Kranken zu fĂŒhlen und fuhr ihr mit der Hand ĂŒber die Stirn. Aus ihrer Kitteltasche kramte sie ein ZweierpĂ€ckchen Aspirin hervor, drĂŒckte es mir in die Hand und machte noch einmal deutlich, dass man die Frau nicht aufnehmen könnte. Dann verschwand sie in ihrer Kammer.
Da stand ich nun neben dem Jeep. Was sollte ich tun mit  zwei Aspirin?
Auf der Suche, in einem der nÀchsten Ortschaften ein besseres, ein hilfsbereites Krankenhaus zu finden, setzte ich meine Fahrt fort. Ich  warf noch einen Blick auf meine Patientin. Sie schien zu schlafen, sie bewegte sich nur hin und wieder unruhig und murmelte
unverstĂ€ndliche Worte. Lebensgefahr bestand im Augenblick nicht.â
Breitstein warf einen kurzen Blick auf Maya. Sie hatte sich offenbar beruhigt, Â schaute mich wieder an und folgte meinem Bericht.
âSeit gut einer Stunde war ich nun schon von Tenosique aus in Richtung GolfkĂŒste unterwegs. Die MĂŒdigkeit lastete schwer auf mir, die Augen brannten vom Staub der StraĂe. Meine Arme waren so schwer, sie konnten das Steuer kaum noch halten. Ich fuhr an den StraĂenrand und nickte kurz ein. Leises Stöhnen lieĂ mich aufschrecken. Ich schaute nach der Kranken auf der RĂŒckbank. Ihre Stirn fĂŒhlte sich heiĂ an,
der Puls ging schneller als vorhin. Das bereitete mir Sorge. Die KĂŒhlbox fiel mir ein. Im Licht der Taschenlampe prĂŒfte ich ihren Inhalt, entnahm eine Flasche lauwarmes Wasser, darin löste ich  eine der Tabletten auf und flöĂte der Frau das Medikament ein. ZunĂ€chst wollte sie nicht schlucken, dann aber trank sie mit gierigen ZĂŒgen. Wenn sie Malaria hĂ€tte wĂŒrde das Medikament keine besondere Wirkung zeigen. Aber in jedem Fall verschafft es ihr ein wenig Erleichterung. Nichts wĂŒnschte ich mir jetzt mehr, als an Bord zu sein. Ich könnte eine Blutanalyse vornehmen und hĂ€tte bald schon Gewissheit.
Ich bettete die Kranke so bequem wie
möglich und entschied, sie mit an Bord zu nehmen und dort zu versorgen. Erst in drei Tagen wĂŒrde die neue Reisegruppe erwartet. Diese Zeitspanne mĂŒsste reichen, die Fremde so weit zu versorgen, dass ich sie nach Tenosique zurĂŒckschicken könnte. Die Idee erleichterte mich, und machte die Suche nach einem Krankenhaus ĂŒberflĂŒssig Wichtig war nun, so rasch wie möglich das Schiff zu erreichen. In etwa drei Stunden mĂŒsste ich es schaffen.
In der KĂŒhlbox fand ich noch zwei belegte Brötchen, zwei Ăpfel, ein paar Bonbons und eine Flasche Coca Cola. Ich  aĂ und trank ohne Genuss und fĂŒhlte mich ein wenig besser, zumindest
stark genug, um durchzufahren.
Ich hatte GlĂŒck. Als die Sonne aufging, erreichte ich das Schiff. Mit einem Hupton machte ich mich bei dem Wachhabenden bemerkbar. Die Ladeluke öffnete sich, die Rampe fuhr aus, der Jeep rollte an Bord. HĂ€tte ich MuĂe gehabt, wĂ€re mir das geschĂ€ftige Treiben aufgefallen. So ĂŒberlegte ich nur, wie ich die Kranke möglichst ungesehen und schnell aus dem Jeep in die Krankenabteilung bringen konnte. Kurz entschlossen hĂŒllte ich sie in eine Decke und trug sie wie ein Kind unter Deck. Niemand begegnete mir, so brauchte ich keinem Rede und Antwort zu stehen. Ich begann sofort mit den
notwendigen Untersuchungen und entnahm die Proben fĂŒr die Laboruntersuchungen. Ich arbeitete grĂŒndlich und konzentriert, ohne auf die Zeit zu achten. Alle drei Krankenbetten waren leer. Ich  legte die Patientin in das dem Bullauge am nĂ€chsten stehende und setzte mich an ihre Bettkante. Ich flöĂte ihr nochmals Wasser ein und betupfte ihr die feuchte Stirn mit einem nassen Tuch. Zum ersten Mal betrachtete ich ihr Gesicht. Ob ein Gesicht hĂŒbsch ist, ist bei geschlossenen Augen schwer festzustellen. Aber eines war sicher, ihre ZĂŒge waren ebenmĂ€Ăig, die Haut braun wie Milchkaffee, die Nase schlank und der Mund war, wenn sie lĂ€cheln
könnte, gewiss weich. Die Frage nach ihrem Alter blieb offen. Ich schĂ€tzte sie auf Mitte zwanzig, eher auf dreiĂig zugehend. Sanft strich ich ĂŒber ihr krĂ€ftiges Haar und ĂŒberlegte, was ich sagen sollte, wenn sie die Augen aufschlug. Dass Worte ĂŒberflĂŒssig waren, kam mir im Augenblick nicht in den Sinn.
Da es nichts weiter zu tun gab, beschloss ich, den KapitĂ€n von dem vorĂŒbergehenden Bordbesuch zu unterrichten. Als ich den Raum verlieĂ, spĂŒrte ich ein eigenartiges Vibrieren im Schiffskörper. Hastig stieg ich an Deck.
Was hat das zu bedeuten?, rief ich einem Matrosen zu und erfuhr: wir gehen auf
Fahrt.
Verdammt, das durfte nicht wahr sein. Fluchend und zwei Stufen auf einmal nehmend lief ich die Treppe hinauf zur KommandobrĂŒcke auf: Fahren wir  schon?, schrie ich den KapitĂ€n an.
So war es. Die PlĂ€ne mussten geĂ€ndert werden. Die Touristengruppe war im Landesinneren mit einem Bus verunglĂŒckt. Viele Passagiere lagen in KrankenhĂ€usern. Die Reise wurde abgebrochen. Die gesunden Passagiere kehrten  per Flugzeug nach Deutschland zurĂŒck. Daraufhin hatte die Reederei Order gegeben, so bald wie möglich zum Heimathafen zurĂŒckzukommen. Neue Ladung wartet schon. Nur der Doktor
fehlte. Das Schiff hÀtte gestern bereits ablegen können.
Ich setzte sich auf einen der DrehstĂŒhle und bat den KapitĂ€n um ein GesprĂ€ch unter vier Augen.  Petersen nickte, und versprach zu kommen gleich, wenn das Schiff den Hafen verlassen hatte.
Ich ging hinaus,  lehnte mich ĂŒber die Reling und schaute auf die entschwindende Stadt. Der warme, gleichwohl erfrischende Wind, half ein wenig, meine Gedanken zu beruhigen. Es hatte jetzt keinen Zweck, mich zu fragen, was mit der jungen Frau werden sollte. Das musste Petersen entscheiden. Meine Gedanken eilten nach Hause voraus. Ich  hatte mich wie ein Kind
darĂŒber gefreut, dass Petersen mir fĂŒr diese Reise die Vertretung fĂŒr den erkrankten Bordarzt angeboten hatte. Mexiko war schon lange mein Traum. Und jetzt das.
Petersen tippte mir auf den RĂŒcken und wollte wissen. Was es gĂ€be, hoffentlich keine schlechte Nachricht.
Ob sie gut oder schlecht ist, musste er beurteilen. Ich ĂŒberlegte, wie ich am besten beginnen sollte. Die HĂ€nde in den Taschen vergraben, den Blick auf meine staubigen Stiefel gerichtet, suchte ich nach Worten und begann recht umstĂ€ndlich zu schildern, was sich ereignet hatte. Petersen machte keine Anstalten, mir mit Zwischenfragen zu
helfen, sondern schaute mich schweigend an und lauschte. Er hatte kein Erbarmen, ich musste alles bis zum bitteren Ende erzÀhlen.
âEs blieb mir nichts anderes ĂŒbrig, als die Frau in meinen Jeep zu laden, denn weit und breit war keine Menschenseele zu entdecken. In Tenosique versuchte ich vergebens, sie in einem Krankenhaus unterzubringen. Da ich der Meinung war, wir wĂŒrden erst in drei Tagen auslaufen, habe ich sie zur Erstversorgung mit an Bord gebracht. Vermutlich hat sie Malaria. WĂ€hrend ich sie untersuchte, merkte ich erst, dass wir ablegten.â
Noch immer Ă€uĂerte sich Petersen nicht.
Er schaute mich nur von oben an , als wollte er sagen: Na, stimmt das, was du mir da auftischst? Ich fĂŒhlte mich mehr als mies und sprach aus, was ich eigentlich von Petersen erwartet hatte: Es bleibt uns nichts anderes ĂŒbrig, als sie mit nach Deutschland zu nehmen.
âOder wir drehen bei und lassen sie von Bord gehen,â war Petersens  Alternative. vor
âVon Bord gehen? Das ist unmöglichâ, erregte ich mich. âDie Frau fiebert. Sie hat die Augen nicht aufgeschlagen, seit ich sie gefunden habe. Sie ist unfĂ€hig, das Bett zu verlassen.â
âIch habe nichts dagegen, dass die Kranke an Bord ist. Aber Schwester
Hannelore habe ich zu den verunglĂŒckten Passagieren geschickt. Du hast also keine Hilfe.â
âDas ist die kleinste Sorge.â Mir fiel ein Stein vom Herzen, Petersen schien sich mit der unwillkommenen Patientin abzufinden, denn er wollte wissen, wie ich  sie in Deutschland von Bord bringen wĂŒrde? âDu weiĂt, wie penibel die Behörden sind. Und einen Pass wird deine Unbekannte nicht bei sich haben.â
Mir blieb nur der Weg, wie ich sie an Bord gebracht haben, in meinem Jeep versteckt. Â âIm Jeep liegend?â Ein breites Grinsen verzerrte Hansens Gesicht. Â âUnd dann, wie soll es weitergehen? Du kannst sie doch nicht
einfach behalten.ââNatĂŒrlich nicht. Was soll ich mit einer wildfremden Frau?â
âMein Gott, was soll man mit einer zunĂ€chst wilden Fremden wollen, besonders wenn sie hĂŒbsch ist? Und das ist sie vermutlich?â höhnte er.
Aber ich wehrte mich: âDiesmal irrst du, mein Freund. Ich habe die Frau erst richtig angeschaut, als sie schon hier im Bett lag.â
âUnd zu welchem Schluss bist du gekommen?â
âBeurteile du mal eine Bewusstlose.â
Ich atmete auf, unsere Blödelei war ein Zeichen: Petersen wollte nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Er klopfte mir auf die Schulter und ging davon.
âOffensichtlich amĂŒsierte ihn mein Ausrutscher, und er war gespannt, wie ich mich da herauswinden wĂŒrde.  Nun lag alles in meinen HĂ€nden. Dass Probleme auf mich zukĂ€men, war gewiss. Aber das ganze AusmaĂ ahnte ich nicht.â
Breitstein nahm einen Schluck vom Kaffee ein, bevor er fortfuhr:  âWenig spĂ€ter stand ich am Bett meiner Patientin  und versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen, wĂ€hrend ich den Puls an ihrem krĂ€ftigen Handgelenk fĂŒhlte. Das Fieber sank. Zum ersten Mal wagte ich mir auszumalen, welche Folgen das Erwachen haben könnte. Ich hielt noch ihre Hand, da spĂŒrte ich, dass sich ihre
Finger um meine schlossen, als suchten sie Halt. Ich hielt still, streichelte den HandrĂŒcken, um ihr schon vor dem Erwachen Vertrauen einzuflöĂen. Und ich wĂŒnschte mir, sie beim Namen nennen zu können. Es wĂŒrde ihr helfen. Ich betrachtete ihr Gesicht. Eine Maya., Ich merkte nicht, dass ich den Namen leise vor mich hin gesprochen hatte. âJa, Maya, das ist doch ein hĂŒbscher und passender Name.â Ich probierte ihn gleich aus. âMaya, wach auf!â Ich sprach so eindringlich, als wollte ich sie zwingen, mir zuzuhören. Die Bewegung ihrer Finger erschlaffte. Ich  zog die Hand zurĂŒck und sie schlug die Augen auf. Ihre Lider flatterten leicht und
schlossen sich  erneut. Ich blieb noch eine Weile neben ihrem Bett stehen. Das schlafende Gesicht zeigte mir, dass das Schlimmste ĂŒberstanden war,  gesundheitlich  ging es mit meiner Patientin bergauf.
Die nĂ€chsten Schritte malte ich mir klar aus. Ich wĂŒrde zunĂ€chst dafĂŒr sorgen, dass sie gesund wird und sie dann mit einem Schiff nach Mexiko zurĂŒckschicken. Ăber die Frage der Dokumente machte  ich mir als Arzt wenig Sorge. Die hoffte ich, an Ort und Stelle irgendwie regeln zu können. Notfalls könnte ich meine Mutter bitten, die junge Frau vorĂŒbergehend bei sich aufzunehmen.
WĂ€hrend ich  meinen Gedanken nachhing, öffnete die Kranke  die Augen. Ihr Blick glitt ĂŒber mein Gesicht und huschte dann unruhig ĂŒber die Bettdecke.  Sie schloss die Augen, öffnete sie wieder und wandte sich erschöpft ab. Ich versuchte, mich in ihre Lage zu versetzen und machte mir bewusst, wo ich sie gefunden hatte: im Urwald, fern ab der modernen Zivilisation. Wie konnte ich erwarten, dass dieses Krankenzimmer ihr vertraut war. Ich wartete, bis sie erneut  in meine Richtung schaute. Mit zusammengekniffenen Lidern schien sie die nĂ€chsten liegenden GegenstĂ€nde abzutasten. Lange sah sie zu den beiden
runden Bullaugen hinĂŒber und verweilte dann bei den drei Bildern blĂŒhender BĂŒsche, die ĂŒber dem FuĂende ihres Bettes hingen.
âTobardilloâ, presste sie hervor, laut und deutlich noch einmal âTobardilloâ.
âTobardilloâ, Â wiederholte ich und versuchte, mir den Begriff zu merken. Ich vermutete, dass es ein SchlĂŒsselwort war. Tobardillo musste unmittelbar mit dem UnglĂŒck in Verbindung stehen.â
Hier stockte Jochen. Fragend schaute er Maya an, die absolute Konzentration ausstrahlte.
âHier sind wir also  bei Tobardillo angekommenâ, sagte er und wartete auf einen Kommentar von ihr. Vergebens.
âErinnerst du dich?â  Statt zu antworten,  griff sie nach ihrem Skizzenbuch und blĂ€tterte darin. âHier, ich habe es gezeichnet und kam nicht darauf, was es war.â Sie deutete mit dem Finger auf die Zeichnungen und murmelte in Gedanken versunken. âTobardillo,  Mama Nunc, Tobardilloâ, TrĂ€nen stiegen ihr in die Augen, sie schlug die HĂ€nde vors Gesicht und schluchzte.
âSollen wir Schluss machen? Du bist völlig durcheinanderâ, fragte Jochen besorgt,  aber Maya riss sich zusammen und zwang sich zu einem  LĂ€cheln. âEs geht schon, ich möchte die Geschichte  ganz hörenâ, flĂŒsterte sie. âJetzt, da ich weiĂ, dass ich die Frau bin, die du im
Urwald gerettet hast, muss ich alles erfahren.â  In leisem ErzĂ€hlton fuhr er fort: âIch flöĂte dir ein starkes Beruhigungsmittel ein. Du brauchtest dringend  Ruhe, denn du hattest gerade den ersten  Schritt getan, die neue Welt zu ertasten. Wie schwer, wie mĂŒhsam mochte der Weg bis zur vollen Erkenntnis sein?
Nach jeder Schlafphase wirktest du ein wenig wacher. Inzwischen warst du in der Lage, die Umgebung wahrzunehmen und bereit, diese als gegeben anzunehmen. Hin und wieder standest du auf und schautest aus den runden Fenstern hinaus; Wasser so weit das
Auge reichte.
Was sagte dir Wasser wohl  in diesem AusmaĂ? Ab und an murmeltest du  ganze SĂ€tze, wohl in der Hoffnung, ich, der Fremde wĂŒrde dich verstehen. Ich  aber lĂ€chelte dich nur an, hob bedauernd die Schultern. Ich ahnte, was du von mir wissen wolltest, konnte es dir aber nicht verstĂ€ndlich machen. Es war eine schwierige Situation.  Ich brachte dir Essen, das du nie zuvor geschmeckt hattest und gab dir Hemd und Hose von mir, in denen du dich unbehaglich fĂŒhltest. Da ich mich verbal nicht mit dir verstĂ€ndigen konnte, griff ich zu Papier und Bleistift. Ich malte einen Jeep auf, was sinnlos war, du
hattest nie ein derartiges Fahrzeug gesehen. Dann zeichnete ich mich selbst, wie ich dich auf den Armen trug. Ich deutete mit einem Pfeil die Richtung zum Jeep an. Eifrig wie ein kleiner Junge bemĂŒhte ich mich, ein fahrendes Auto darzustellen, in dem ein Mann sitzt, eine Frau liegt, dann das Meer, das Schiff und zuletzt das Krankenzimmer.
Dein zaghaftes Nicken deutete ich als: Ich habe verstanden. Eifrig malte ich weiter. Ich deutete Amerika an, dann Europa, eine Frau im Bett, zunÀchst auf dem Schiff in Richtung Europa, dann im Hospital und im dritten Bild wieder auf dem Schiff in Richtung Amerika. Fragend schaute ich dich an, du
lĂ€cheltest scheu zurĂŒck. Es war ein hoffnungsloses Unterfangen.
Immer wenn ich spĂŒrte, dass du aufnahmebereit warst, redete ich  dich bewusst mit dem Namen Maya an. Ich deutete auf dich  und sagte: âMayaâ. Du begriffst, tipptest auf deine Brust und sagtest: âMayaâ. Ich zeigte auf mich und sagte: âJochenâ. Was du wiederholtest, klang wie âoche. Aber nach  mehreren Versuchen gelang es dir, meinen Namen richtig  auszusprechen. Ab sofort machte ich ein Spiel daraus, Maya Jochen. Ich zeigte auf dich, du auf mich. Es hatte den Anschein, als  wĂŒrden wir uns bestens verstehen. Leider waren diese Augenblicke nur von kurzer Dauer.
Es war dir anzusehen, dass dich so vieles quÀlte, was du nicht verstandest. Dann flohst du in den Schlaf.
Zur Essenszeit kam ich mit einem Tablett.  So, als könntest du mich verstehen,  erklĂ€rte ich: âHallo, Maya, dein Abendessen, Suppe und Brot.â Du beĂ€ugtest die fremden GegenstĂ€nde, griffst nach der Suppenschale, trankst ein SchlĂŒckchen und setztest ab. Du nicktest. Ich deutete es als: Es schmeckt. Besteck kanntest du nicht. Ich  nahm den Löffel zur Hand, fĂŒllte ein  wenig HĂŒhnersuppe darauf und fĂŒhrte ihn dir zum Mund. Als die Schale fast geleert war, langtest du nach dem Löffel  und aĂest. Dabei starrtest du auf das
Tablett, als mĂŒsstest du es dir fĂŒr immer einprĂ€gen. Ich holte eine Banane. Du öffnetest die Frucht wie gewohnt mit den ZĂ€hnen und verschlangst das Fruchtfleisch. Erleichterung lag auf deinen GesichtszĂŒgen, als du in deiner Sprache einen Kommentar abgabst. Ich zuckte mit den Schultern als Zeichen, dass ich dich nicht verstanden hatte, wĂ€hrend du die Bananenschale auf den Boden fallen lieĂest.â Maya schĂŒttelte sich vor Lachen. âDu bist ein Kasperâ, tadelte sie, âhast du wirklich solch einen Quatsch mit mir, deiner armen Patientin gemacht?â
âJa, es hat sogar SpaĂ gemachtâ, gab Jochen zu. âIch musste doch irgendwie
zu dir vordringen, dich aus der Reserve locken. Da ich viel Zeit erĂŒbrigen konnte, brachte ich dir nach und nach die wichtigsten Wörter bei und staunte, wie aufnahmebereit du warst. Spielerisch ĂŒbte ich mit dir die Namen Maya Jochen, der immer gleiche Rhythmus: Maya Jochen.
Maya Jochen wurde zum Ritual, zum einzigen Bindeglied zwischen uns beiden.
MĂŒhelos wiederholtest du:  âGuten Morgen!, âwie geht es, Maya?, auch bitte und danke beherrschtest du. Ich spĂŒrte deutlich, dass du mir vertrautest und freute mich, wenn deine Augen glĂ€nzten.  Ich zeigte aber  auch
 VerstĂ€ndnis, wenn  Traurigkeit dich ĂŒbermannte. So versuchte ich, dich ein wenig aufzuheitern.â âUnd, ist es dir gelungen?â âDas kann ich nicht beurteilen. Du warst zu tief verletzt.â âAber komm, erzĂ€hl weiter! Ich will  das Ende der Geschichte hören.â Â
âEs lagen noch zwei Seetage vor uns, als du so weit gesundheitlich wieder hergestellt warst. Ich hatte allerdings keine Ahnung, wie du die Situation wahrnahmst. Mir war klar, dass es am allerbesten wĂ€re, dich so rasch wie möglich zurĂŒckzubringen, obwohl mir graute, wenn ich an das Schlachtfeld dachte, aus dem ich sie gerettet hatte. Wieder peinigten mich die VorwĂŒrfe, ob
ich richtig gehandelt hatte,  dich spontan und unĂŒberlegt mitzunehmen. Vielleicht wĂ€ren ja Stammesmitglieder aufgetaucht, die dich behandelt hĂ€tten. Je mehr ich darĂŒber nachdachte, umso sicherer war ich in meinem Entschluss, dich unbedingt und so rasch wie möglich an deinen Platz zurĂŒckzubringen.
WĂ€hrend sich an Bord alles fĂŒr das Ausschiffen bereit machte, traf ich die erforderlichen Vorkehrungen, meine Patientin von Bord zu schmuggeln. Wieder kam ich mit meinem Malblock in dein Krankenzimmer und zeichnete einen Jeep auf, in dem du versteckt  von Bord gebracht wirst. Aufmerksam, aber ohne den Sinn zu begreifen, schautest du
meinen MalkĂŒnsten zu, Ich zeichnete, wie ich dich heraushole. Du nicktest, und wieder glaubte ich, du hĂ€ttest mich verstanden. Vorsichtshalber gab ich dir ein leichtes Beruhigungsmittel. Wie ein Kind nahm ich  dich bei der Hand und fĂŒhrte dich durch die GĂ€nge zum Jeep unter Deck. An deinen Schritten merkte ich schon, dass du schlĂ€frig wurdest, dennoch schautest du vertrauensvoll zu mir auf. Du schienst zu ahnen, dass etwas Ungewöhnliches bevorstand. âKeine Angst, Maya, es wird alles gut werdenâ, redete ich dir beruhigend zu. Bei meinem Wagen angekommen, öffnete ich die SeitentĂŒr, klappte den Sitz nach vorne und bedeutete dir, hinten
einzusteigen. Vor den RĂŒcksitzen hatte ich bereits zwei Kissen auf den Boden gelegt, ich zeigte mit der Hand darauf, was soviel heiĂen sollte: âbitte leg dich hin. Du tatest, wie geheiĂen, aber der vertrauensvolle Blick war erloschen. âMaya Jochenâ raunte ich dir noch zu, breitete eine Decke ĂŒber dich und ĂŒberlieĂ dich der Enge, der WĂ€rme und Angst. Aber du begehrtest nicht auf. Â
Ich machte mir keine Sorgen, dass etwas schief laufen könnte. Aber ich fĂŒhlte mich schlecht, wenn ich an deine angstvollen Auge dachte. Ich konnte nur hoffen, dass du schnell einschlafen wĂŒrdest.
Es war fast 13.00 Uhr, Zeit der
Mittagspause, als ich das Zeichen bekam, mit dem Fahrzeug das Schiff zu verlassen. Im Hafen war ich, der Doc mit seinem alten Jeep, bekannt wie ein bunter Hund.  FĂŒr jeden hatte ich ein freundliches Wort, die Scherze kamen mir locker ĂŒber die Lippen. Mit dem gewohnten âmoin, moin reichte ich dem Dienst habenden Beamten die Dokumente. âGute Reise gehabt, Doc?â eine gut gemeinte Floskel. âJa, wir sind  fast leer zurĂŒckgekommenâ, gab ich bereitwillig Auskunft und streckte betont lĂ€ssig die Hand aus, um meine Papiere in Empfang zu nehmen. Ganz vorschriftsmĂ€Ăig fahrend verlieĂ ich das HafengelĂ€nde, unterdrĂŒckte einen
Seufzer der Erleichterung und schaute ĂŒber die Schulter. Nichts rĂŒhrte sich auf der RĂŒckbank. Du schienst zu schlafen.  Ich konnte es wagen, jetzt gleich bei  meiner Mutter vorbeizufahren. Es war mir wichtig, dich bei ihr in guter Hut zu wissen, bis ich dich in deine Heimat zurĂŒckbringen konnte.
Als ich den Wagen vor dem Haus meiner Mutter abstellte, rĂŒhrtest du  dich noch immer nicht. Sanft schloss ich die WagentĂŒr.
Meine Muter hatte mich bereits erspÀht. Sie freute sich, mich nach der langen Reise wieder zu sehen, umarmte mich
und begleitete mich ins Haus. Sie ĂŒberschĂŒttete       mich mit Neuigkeiten. Ich unterbrach sie etwas ungeduldig:  âMutter, ich habe es eilig  und muss etwas Dringendes mit dir besprechen oder besser gesagt, dich um einen Gefallen bitten.â âNur zu, was gibt es?â sagte sie gut gelaunt und lehnte sich mit verschrĂ€nkten Armen gegen den KĂŒchentisch. âWĂŒrdest du fĂŒr ein paar Tage einen Gast aufnehmen?ââEine Freundin von dir?â âNeinâ, ich lachte laut heraus, der Gedanke amĂŒsierte mich. âEine Patientin, eine genesene Patientinâ, fĂŒgte ich hinzu und schilderte in kurzen SĂ€tzen, was sich zugetragen hatte und versicherte: âIch
kĂŒmmere mich darum, Maya dann so schnell wie möglich in ihr Dorf zurĂŒckzubringen.ââEin richtige Maya?â Mutter war neugierig geworden. âWas heiĂt hier richtige Maya? Ich habe sie nur so genannt, aber wenn mich nicht alles tĂ€uscht, gehört sie dem Stamm der Lacandonen an.â
âUnd spricht kein Deutsch.â
âNein, natĂŒrlich nicht. Sie ist sicher nie aus ihrem Wald herausgekommen.â
Gertrud verdrehte  missbilligend die Augen. âJunge, Junge, du traust dich ...â Der Rest des Satzes ging unter im Pfeifen des Teekessels. âSie ist ausgesprochen gelehrigâ, versicherte ich. âSie weiĂ inzwischen, was ein WC
ist. Sie hat gelernt, mit Besteck umzugehen. Sie beherrscht  ein paar Worte und merkt sich alles, was man ihr beibringt. Ich bin sicher, nach ein paar Tagen, wirst du sie ins Herz geschlossen haben und nicht mehr hergeben wollen.â  Ich schaute Mutter bittend an, las die Zustimmung an ihren Augen ab und schmeichelte: âDu bist die beste Mutter der Welt. Komm, lass uns den Gast hereinholen.â
Als ich  die braune Decke  neben dem Jeep auf dem Gehweg liegen sah, verhieĂ das nichts Gutes, Der Platz vor der RĂŒckbank war leer, von dir weit und breit keine Spur. Stille, kein Mensch, nichts, was auch nur annĂ€hernd darauf
hindeutete, wo du seien könntest.
Gertrud war mir zur HaustĂŒr gefolgt. Als sie mich wĂŒtend mit den HĂ€nden fuchteln sah, kam sie nĂ€her.
âSie ist weg, verschwundenâ, rief ich ihr entgegen  und hielt ihr wie zum Beweis die Decke entgegen. âDa drunter hattest du sie versteckt? Dann wundert es mich nicht, dass sie davongelaufen ist.  Das muss ja jeden normalen Menschen Ă€ngstigen. Vermutlich hatte sie keine Ahnung, was mit ihr geschehen wird.â
âUnd nun?â wĂŒtend warf ich die Decke auf den Boden.
âRuf die Polizei!â
âKeinesfalls. Ich habe die Frau illegal
ins Land gebracht.â
âDann such sie!â
âAber wo? Soll ich hier von Haus zu Haus gehen?â
âVielleicht.â
âSie kann doch nicht weit sein.â
âOh doch, sie braucht nur wie verloren an der StraĂe gestanden zu haben, da hat sie jemand mitgenommen, bestenfalls aus Mitleid.â
âUnd andernfalls?â Ich starrte meine Mutter an, als sei sie schuld an Mayas Verschwinden. Gertrud zuckte die Achseln. âWas weiĂ ich, nur hier in der Nachbarschaft ist sie bestimmt nicht. Komm lieber rein, der Tee wird kalt.â
âTypisch Mutter, dachte ich wĂŒtend,
ânichts kann sie erschĂŒttern.
Ganz in seine Schilderung vertieft und ohne aufzuschauen hatte Jochen gesprochen. So durchlebte er noch einmal die aufregenden Stunden. Jetzt blickt er auf.  Maya saĂ ihm gegenĂŒber mit gesenktem  Kopf  und im SchoĂ verschrĂ€nkten HĂ€nden. Weinte sie?  Sie schien nicht zu bemerken, dass Jochen geendet hatte. âUnd? Erinnerst du dich?â, fragte er.  Maya schĂŒttelte den Kopf. âAber ich glaube dir. Jetzt weiĂ ich, was mich vertrieben hat, und wie ich hier hergekommen bin. Aber ĂŒber meine Vergangenheit habe ich so gut wie nichts erfahren. Nicht einmal, ob Maya
wirklich mein Name istâ, fĂŒgte sie leiser hinzu und stieĂ wĂŒtend her vor: âWarum nur ist mein Erinnerungsvermögen erloschen?â
âIch vermute, der Schock und gleichzeitig das hohe Fieber.â
âJochen, bist du mir böse, wenn ich mich in mein Zimmer zurĂŒckzieheâ, bat Maya mit zittriger Stimme. âIch habe so viel  erfahren, das muss ich erst einmal verarbeiten.â Ohne auf seine Antwort zu warten wandte sie sich zur TĂŒr, hielt plötzlich inne, denn ihr fiel die Figur der Akna ein. âEine Frage noch, wie ist die kleine Götterfigur in deinen Besitz gekommen?â âDu trugst sie an einigen Haaren am Hals. Die FĂ€den waren aber
so eng verknĂŒpft, dass ich sie durchtrennte und in meiner Arzttasche verwahrte. Neulich fand ich sie wieder.â
PAGE Â 1
Schreib mir was!
Schreib mir was!
Findelkind 7
Fortsetzung von Findelkind 6
Maya erfÀhrt die ganze Wahrheit.
Es schien, dass der Sommer sich  in diesem Jahr nicht verabschieden wollte. Noch wĂ€hrend der letzten Septembertage konnten Sofie und Maya den Garten genieĂen. Die Blumen blĂŒhten, als wollten sie zeigen, was sie zu bieten hatten, bevor sie sich in den
Winterschlaf begaben. âEs könnte so schön seinâ, seufzte Sofie und schaute  zu Maya, die wie aufgebahrt auf der Liege lag und in den Himmel starrte. Mayas Miene passt so gar nicht zu der leichten heiteren AtmosphĂ€re. StĂ€ndig hatte sie den Blick nach innen gerichtet. Sofie wagte es kaum, sie anzusprechen. Dabei hĂ€tte sie so gerne mit einer lockeren Unterhaltung aus der Reserve gelockt. Sie
versuchte es mit banalen Bemerkungen wie: âWeiĂt du, dass du  nun schon ĂŒber ein Jahr bei mir bist?â  sagte Sofie, wĂ€hrend sie den Kaffeetisch auf der Terrasse deckte. âUnglaublich, was in der kurzen Zeit alles geschehen kann. Ein ganzes Leben wird auf den Kopf gestelltâ, folgerte Maya. âMehr als ein  Jahr, in dem du unablĂ€ssig nach deinen Wurzeln gesucht hast.â Weiter gedieh das GesprĂ€ch
nicht. Â Maya signalisierte eindeutig: Lass mich zufrieden.
Zwei Tage spĂ€ter verdĂŒsterte ein schweres Gewitter den Himmel, ein Ereignis, das Maya immer wieder mit Angst erfĂŒllte. Mit angezogenen Beinen kauerte sie auf dem Sofa und hielt sich die Ohren zu. Sie wirkte wie ein Kind, das sich am liebsten verkrochen hĂ€tte. Sofie setzte sich ganz sacht neben sie, legte  einen Arm um ihre
Schulter und zog sie an sich. Maya lieĂ es geschehen. Sofie hatte sogar den Eindruck, sie gab ein wenig nach, schmiegte sich dankbar an sie. âKann ich dir helfen?â flĂŒsterte Sofie. Mayas Kopf rutschte noch ein wenig tiefer, sie lieĂ es zu, dass Sofie ihr ĂŒber die Haare strich. âJetzt ist alles noch viel schlimmerâ, stieĂ sie heftig hervor. Sofie wusste sehr gut, was Maya sagen wollte und tröstete: âIch
verstehe deine Unruhe, aber du musst warten, bis Breitstein zurĂŒck ist.â Maya nickte und gab zu, dass ihr  das schwer fiel.
,
Lange wurde sie zum GlĂŒck nicht auf die Folter gespannt. Von Julia erfuhren sie, dass sie Breitstein bei seiner Mutter gesehen habe.
âNa bitteâ, Sofie strahlte, ânun kannst du handeln. Wie siehst du es? Freust du dich?â âFreuen ist falsch, ich
bin gespannt, habe aber auch ein wenig Angst. Wer weiĂ denn, was ich erfahren.â âMach, wie es fĂŒr dich richtig erscheint. Aber ich wette, lange hĂ€ltst du es nicht aus.â
Sofie behielt recht .In Maya ĂŒberwog die Neugier. Ohne Sofie davon zu erzĂ€hlen, rief Maya schon wenige Tage spĂ€ter  Julia an und bat sie, fĂŒr  sie mit Dr. Breitstein ein GesprĂ€ch zu arrangieren, wenn möglich  im Hause von
Sofie. Sie wollte sicher gehen, dass sie im Fall einer schrecklichen Offenbarung nicht schutzlos wĂ€re. Sofie sollte bei dem GesprĂ€ch  nicht zugegen sein, aber sich im Haus aufhalten. Breitstein nahm die Einladung an.  Maya hatte zwei Tage Zeit, sich auf das GesprĂ€ch vorzubereiten. Sie schwankte zwischen  Angst und Neugier. Um ihre Aufregung zu ĂŒberdecken, plante sie den Nachmittag immer wieder neu.
   SorgfĂ€ltig deckte sie dann den Tisch fĂŒr zwei und kleidete sich betont schlicht. Dr. Breitstein erschien pĂŒnktlich auf die Minute. Es war ihm anzusehen, dass auch er  angespannt war. âErinnern Sie sich an mich?â eröffnete er das GesprĂ€ch. âBitte sagen Sie duâ, bat sie âdas klingt nicht so streng.â âIn Ordnung, ich bin Jochenâ, bot Breitstein im Gegenzug an. Und Maya stellte die Frage, die ihr auf der Seele
brannte. âBist du  sicher, dass wir uns schon einmal begegnet sind?â Jochen nickte. âdeine Reaktion  auf den Begriff Tobardillo lieferte mir den Beweis. âIch weiĂ nĂ€mlich nicht einmal, was es bedeutet.â
âDas verstehe ich alles nicht.â Maya musste sich beherrschen, nicht  in TrĂ€nen auszubrechen oder nach Sofie zu rufen. âKannst du mir nicht ganz einfach erzĂ€hlen, wie es zu einer
Begegnung kam? Woher wir uns kennen?â setzte sie nach einer kleinen Pause hinzu.
âGutâ, Breitstein nahm einen Schluck vom Kaffee âDu musst aber ein wenig Geduld haben, denn ich erzĂ€hle  die ganze Geschichte.â
âDas ist gutâ, ermutigte ihn Maya, âich möchte alles wissen, alles ohne Ausnahme.â
âFĂŒr mich war es immer wieder eine Herausforderung, als Schiffsarzt zur See zu
fahrenâ, begann er. âKapitĂ€n Petersen ist ein alter Freund von mir. Er kann es einrichten, mich ab und an fĂŒr Reisen anzufordern. Und Mexiko reizte mich ganz besonders. Ich hoffte, dass ich bei lĂ€ngerer Liegezeit Gelegenheit bekĂ€me, ĂŒber Land zu fahren. Meinen alten Jeep nehme ich immer mit an Bord. In Ciudad del Carmen sollten wir vier Tage liegen, um auf eine Gruppe Touristen zu warten. Da blieb genug Zeit
fĂŒr mich, in den Urwald von Chiapas zu fahren. Ich wollte unbedingt zu den Lacandonen vordringen, von denen man sagt, sie seien extrem menschenscheu. Bis in die kleine Provinzstadt Tenosique brauchte ich vier Stunden. Von dort aus musste ich mich durchfragen und auf mein GlĂŒck hoffen. In der Stadt herrschte reges Treiben, jetzt  brauchte ich einen Hinweis,  mein unbekanntes Ziel zu
erreichen.
Ich hielt Ausschau nach einer Tankstelle. Geduldig stellte ich mich hinter einer Schlange alter, verbeulter, verrosteter Vehikel an. Der Tankwart gab mir ein Zeichen, an die hinterste, die freie ZapfsĂ€ule zu fahren. Ich stellte drei Kanister neben den Jeep und bedeutete dem Mann, die zu fĂŒllen.
Der fragte auf Englisch, ob ich Amerikaner sei oder Deutscher? Es war ihm nicht
anzusehen, was er dachte. In jedem Fall war er an einem GesprĂ€ch interessiert und wollte wissen,  ob ich in Mexiko lebe. Dabei musterte er mich abschĂ€tzend. Dass ich als Schiffsarzt unterwegs sei, schien ihm nichts zu sagen, als ich allerdings erwĂ€hnte,  dass ich ein paar Tage lang  hier durchs Land fahren wollte, horchte er auf und fragte recht skeptisch ob ich mich auskennen wĂŒrde.
Ic gestand, dass ich viel ĂŒber
Mexiko gelesen habe und mich  Chiapas von allem am meisten anzog, die dichten WĂ€lder, das UnberĂŒhrte und UrsprĂŒngliche mache mich so neugierig und  eines dieser versteckten Lacandonendörfern zu besuchen reize mich besonders.
Der Tankwart schĂŒttelte den Kopf und meinte, an die Lacandonen komme keiner ran. Seit zwanzig Jahren stehe er an der Tankstelle,
 habe aber nicht einmal mit einem dieser Typen gesprochen. Sie tauchen hin und wieder in den StraĂen auf in ihren schmuddeligen Kitteln, dem struppigen Haar und dem Blick, der zu sagen scheint: sprich mich nur nicht an. Die glauben, sie kommen gleich nach dem lieben Gott. Nur weil sie angeblich die reinen und unvermischten Nachfahren der Maya sind, brauchten sie nicht so feindselig zu tun.
Ist es wirklich Feindseligkeit? Wollte ich wissen. Oder ist es nur Scheu? Scheu, er lachte verÀchtlich. Vor ein paar Wochen war hier ein Tourist, neugierig wie Sie, auch er suchte die Lacandonen. Man fand ihn wenige Tage spÀter in der NÀhe eines der Dörfer mit einem Pfeil in der Brust. Nennen Sie so etwas Scheu?
Grinsend fragte er, ob es mich immer noch locke? Nun erst recht.
Er schĂŒttelte nur den Kopf
und gab mir dennoch die Wegbeschreibung: Die HauptstraĂe geradeaus vom Ortsausgang  nach etwa zwei bis drei Kilometern geht rechts ein Weg ab. Der ist nicht gut, aber mit dem Jeep befahrbar. Dieser Weg  fĂŒhrt nach etwa 15 Kilometern zu einem HolzfĂ€llerlager. Die MĂ€nner dort haben hin und wieder Kontakt zu den versteckt lebenden Lacandonen. Die können vielleicht weiterhelfen.
Ich bedankte mich und drĂŒckte dem Mann einen Schein in die Hand. DafĂŒr bekam ich den guten Rat: Vorsichtig zu sein, mich vor allem  vor den Frauen zu hĂŒten, da kennen die keinen SpaĂ.
Ich fand mĂŒhelos die Abzweigung von der HauptstraĂe. Der Weg war schmal, aber nicht so holprig, wie ich es befĂŒrchtet hatte. Rechts und links Urwald, dichtes, struppiges Unterholz,
fleischige Lianen, die sich wie grasgrĂŒne Schlangen an den hohen Baumriesen hinauf ranken. Das Laubdach ist so dicht, dass nur hier und da ein schmaler Sonnenstreifen durchschimmerte. Die stickige Luft nahm mir fast den Atem. FĂŒr einen Augenblick ĂŒberlegte ich, ob es nicht doch ein zu gewagtes Unternehmen wĂ€re, drĂŒckte aber gleichzeitig den Gashebel ein wenig weiter
durch. Es ist nicht meine Art, ein einmal begonnenes Unternehmen abzubrechen.
Keine Menschenseele begegnete mir. Ich bezweifelte schon, dass hier Menschen lebten und in diesem Dickicht ĂŒberhaupt Platz fĂŒr Siedlungen wĂ€re. Ich versuchte mir vorzustellen, welche Vielfalt von Tieren in diesem schĂŒtzenden Dickicht beheimatet war, Tiere, die sich nicht zeigen, die man nicht hört wie Spinnen,
Schlangen, Echsen, KĂ€fer, Skorpione.
Ich fuhr den Weg weiter und wĂ€re gerne irgendwo vom Pfad abgewichen, um das Buschwerk zu durchdringen und einen neugierigen Blick auf das zu werfen, was dahinter lag.  Ich war etwa eine knappe halbe Stunde gefahren, der KilometerzĂ€hler zeigte neun Kilometer an, als eine gebĂŒckte Gestalt aus dem GrĂŒn schlĂŒpfte, mitten auf den Weg sprang und sich
gehetzt umschaute. Dabei stieĂ sie Laute aus, die wilden Schreien oder eher noch einem irren Lachen glichen. Ich war mir nicht sicher, ob das Wesen in dem grauweiĂen, sackartigen Gewand und der wirr vom Kopf abstehenden HaarmĂ€hne ein Mann oder eine Frau war. Erneut brĂŒllte es dumpf wie ein Tier. Drehte sich um die eigene Achse und verschwand  auf der anderen Wegseite im Dickicht.
Betroffen ĂŒber die soeben beobachtete Szene saĂ ich einige Augenblicke bewegungslos am Steuer  und versuchte zu verarbeiten, was ich gesehen hatte. War das ein Lacandone, eines dieser menschenscheuen Wesen? Lebten sie tatsĂ€chlich hier? Und der Dschungel war doch durchlĂ€ssig?
Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, stieg aus und untersuchte die Stelle, an
der der Mensch aus dem GrĂŒn aufgetaucht war. Umgeknickte Ăste zeigten dies an. Mit HĂ€nden und FĂŒĂen drĂ€ngte ich die Zweige auseinander. Es ging einfacher, als es von auĂen möglich erschien. Um mich her raschelte und knisterte es. Ich hatte das GefĂŒhl, von unzĂ€hligen Augen beobachtet zu werden. Mein Blick streifte meine festen Stiefeln. Bei der WĂ€rme waren sie mir eigentlich ĂŒbertrieben
vorgekommen, aber jetzt gaben sie mir ein sicheres GefĂŒhl. Nicht einmal eine Schlange konnte mir gefĂ€hrlich werden.
Ich hielt inne. Der wĂŒrzig schwere Duft der Tropenpflanzen war berauschend. Tief sog ich die Luft ein. Ich glaubte, Rauch zu riechen, so als schwelte in der NĂ€he ein Feuer. War das bei dieser Feuchtigkeit ĂŒberhaupt möglich?
Es drÀngte mich voran, aber
ich schaute vorsichtshalber zurĂŒck. Noch konnte ich die Spur erkennen, die ich mir gebahnt hatte und arbeitete mich weiter vor. Meine Neugier war nicht zu bremsen. Ein ZurĂŒck gab es nicht mehr. Dann stand ich vor einer Lichtung mit Blick auf  drei HĂŒtten, die groĂen Heuhaufen Ă€hnelten. Erst als ich genau hinsah, entdeckte ich die Flammen, die sich mĂŒhsam am BlĂ€tterdach entlang fraĂen. Da war er
wieder der Mensch, den ich bereits im Busch schemenhaft gesehen hatte, jetzt erkannte ich ihn als Mann.  Eine Frau kam schreiend aus der HĂŒtte, sie schien den Mann verbal anzugreifen, ihre Stimme ĂŒberschlug sich, wĂ€hrend er ihr mit einer gebieterischen Bewegung der Hand bedeutete, zu verschwinden. Die Frau zog sich zurĂŒck, hielt sich jedoch dicht an der TĂŒröffnung auf.  Ohne zu
zögern betrat der Mann die  andere HĂŒtte, tauchte jedoch kurz darauf  mit einem tierischen BrĂŒllen erneut auf, in jeder Hand ein Kleinkind, die er wĂŒtend zu Boden schleuderte. Wie eine Wildkatze  umkreiste er die NachbarhĂŒtte. Er gewahrte die Frau am Eingang, rief ihr etwas zu und stĂŒrzte sich in wilder Wut auf sie. Kein Laut kam ĂŒber ihre erstarrten Lippen. Er riss ihr das Gewand vom Leib, schĂŒttelte
sie derart, dass  das Brechen der Knochen bis zu mir zu  hören war.â Maya stieĂ einen Schrei aus. Sie schlug die HĂ€nde vor das Gesicht. âHör aufâ, wimmerte sie. âDas kann ja man nicht einmal anhören.â
âErkennst du etwas wieder?â fragte Jochen ganz vorsichtig. Maya schĂŒttelte stumm den Kopf. âBist du sicher, dass ich schweigen soll?â Er schaute Maya fragend an und wartete, bis
sie ganz leicht den Kopf schĂŒttelte, dann fuhr er mit sanfter Stimme fort. âStille breitete sich aus, bis der Mann sich schreiend aufrichtete. Aufgestaute Wut schien sich zu entladen, wie von Sinnen drehte er sich um die eigene Achse, als suche er etwas.
Ich stand wie gelÀhmt. Der Verstand riet mir,  mich unter keinen UmstÀnden einzumischen, jedoch mein Gewissen als Arzt drÀngte
mich, dem schrecklichen Treiben ein Ende zu setzen. Mir war klar, jedes Eingreifen meinerseits wĂ€re Selbstmord. Der Mann war besessen, vermutlich stand er unter Drogen.  RĂŒckzug, unbemerkter RĂŒckzug war die einzige Möglichkeit. Vorsichtig schaute ich mich nach allen Seiten um. Da bemerkte ich eine Frau, in den HĂ€nden hielt sie einen KrĂ€uterbuschen.â Hier machte Jochen Breitstein eine
Pause und versuchte in Mayas Gesicht zu lesen. Vergebens, sie hatte den Kopf gesenkt.  âDie Frau stand wie versteinert, sie muss die grauenvolle Szene mit angesehen haben. Ehe ich begriff, was vor sich ging, war der Wilde  mit zwei langen SprĂŒngen bei ihr, riss  ihr brutal  das Kleid vom Leib und fiel wie ein rasendes Tier ĂŒber sie her. Mit einem markerschĂŒtternden Schrei lieĂ er von der Frau ab. Er
schaute sich nach allen Seiten um und huschte  durch die BĂŒsche davon. Aus seinem schrillen Schrei wurde ein Lachen, das sich zu einem unmenschlichen BrĂŒllen steigerte.  Jetzt  hielt mich nichts mehr. Mit langen SprĂŒngen war ich bei der bewusstlosen Frau, lief dann weiter zu der HĂŒtte, vor der die andere Frau  und die beiden Kleinkinder lagen. Hier kam jede Hilfe zu spĂ€t. Weitere Personen konnte ich
nicht entdecken. Ich kehrte zu der Bewusstlosen zurĂŒck, nahm sie  kurz entschlossen auf die Arme und bahnte mir mĂŒhsam den Weg zurĂŒck zum Jeep. Dort versorgte ich sie so gut wie möglich war und bettete sie auf den RĂŒcksitz. Bis zum nĂ€chsten Krankenhaus drohte ihr keine Gefahr.
Als ich den Motor startete, tauchte vor mir das Bild des Lacandonen auf, der hier meinen Weg gekreuzt hatte.
Ich meinte, noch immer das irre GelÀchter zu hören. Ich war mir fast sicher, dass er es war, der die grauenvollen Taten begangen hatte.
Am Ortseingang von Tenosique suchte ich nach einem Krankenhaus. Spanisch spreche ich nicht. Auf gut GlĂŒck versuchte ich es auf Englisch: âHospitalâ, rief ich einem Mann am StraĂenrand zu. Der zuckte verstĂ€ndnislos die Achseln. Die Tankstelle fiel ihm ein.
Wie schon zuvor herrschte reger Betrieb an den ZapfsÀulen. Ich  musste mich eine Weile gedulden.
Ihr Ausflug zu den Lacandonen war aber kurz, scherzte der Tankwart; sein LĂ€cheln verflog, als ich ihn nach einem Krankenhaus fragte und auf die RĂŒckbank des Jeeps deutete.
âWas haben Sie gemacht? Haben Sie die angefahren?â fragte er
Mit kurzen Worten schilderte
ich, was ich erlebt hatte.
âDa haben Sie sich aber etwas aufgeladenâ. Der Tankwart machte ein bedenkliches Gesicht und meinte, dass ich kaum eine Chance hĂ€tte, die Frau hier im Krankenhaus unterzubringen. âNormalerweise haben die keinen Platz frei.â Es kĂ€me auf einen Versuch an und er erklĂ€rt mir den Weg âZweite StraĂe rechts, merkte ich mir. Da war es schon! Ein
zweigeschossiges, verwahrlostes GebĂ€ude. Hinter einem kleinen Fenster saĂ eine Ă€ltere Indiofrau in Schwesterntracht. Sie erhob sich, als ich energisch ans Fenster klopfte. Ihr Blick verriet, dass sie solch ungestĂŒmes Verhalten nicht schĂ€tzte. Ich ignorierte den bösen Blick, deutete auf den Jeep und machte der Alten Zeichen, mir zu öffnen. Stattdessen glotzte sie  mich neugierig an. Ich wiederholte
meine Geste. Die Schwester zuckte die Achseln, folgte  mir aber zum Wagen. Ich gab ihr per Zeichen zu verstehen, dass ich die Patientin aus dem Auto heben und ins Haus bringen wollte. Aber die Alte packte mich am Arm und machte mir klar, dass das nicht in Frage kÀme.
Ich zeigte auf die ohnmĂ€chtige Frau und beschrieb eine fragende Bewegung der Schultern. Die Frau schĂŒttelte nachdrĂŒcklich
den Kopf, lieĂ sich aber  herab, den Puls der Kranken zu fĂŒhlen und fuhr ihr mit der Hand ĂŒber die Stirn. Aus ihrer Kitteltasche kramte sie ein ZweierpĂ€ckchen Aspirin hervor, drĂŒckte es mir in die Hand und machte noch einmal deutlich, dass man die Frau nicht aufnehmen könnte. Dann verschwand sie in ihrer Kammer.
Da stand ich nun neben dem Jeep. Was sollte ich tun mit  zwei Aspirin?
Auf der Suche, in einem der nĂ€chsten Ortschaften ein besseres, ein hilfsbereites Krankenhaus zu finden, setzte ich meine Fahrt fort. Ich  warf noch einen Blick auf meine Patientin. Sie schien zu schlafen, sie bewegte sich nur hin und wieder unruhig und murmelte unverstĂ€ndliche Worte. Lebensgefahr bestand im Augenblick nicht.â
Breitstein warf einen kurzen Blick auf Maya. Sie hatte sich
offenbar beruhigt, Â schaute mich wieder an und folgte meinem Bericht.
âSeit gut einer Stunde war ich nun schon von Tenosique aus in Richtung GolfkĂŒste unterwegs. Die MĂŒdigkeit lastete schwer auf mir, die Augen brannten vom Staub der StraĂe. Meine Arme waren so schwer, sie konnten das Steuer kaum noch halten. Ich fuhr an den StraĂenrand und nickte kurz ein. Leises Stöhnen lieĂ mich
aufschrecken. Ich schaute nach der Kranken auf der RĂŒckbank. Ihre Stirn fĂŒhlte sich heiĂ an, der Puls ging schneller als vorhin. Das bereitete mir Sorge. Die KĂŒhlbox fiel mir ein. Im Licht der Taschenlampe prĂŒfte ich ihren Inhalt, entnahm eine Flasche lauwarmes Wasser, darin löste ich  eine der Tabletten auf und flöĂte der Frau das Medikament ein. ZunĂ€chst wollte sie nicht schlucken, dann aber trank
sie mit gierigen ZĂŒgen. Wenn sie Malaria hĂ€tte wĂŒrde das Medikament keine besondere Wirkung zeigen. Aber in jedem Fall verschafft es ihr ein wenig Erleichterung. Nichts wĂŒnschte ich mir jetzt mehr, als an Bord zu sein. Ich könnte eine Blutanalyse vornehmen und hĂ€tte bald schon Gewissheit.
Ich bettete die Kranke so bequem wie möglich und entschied, sie mit an Bord zu nehmen und dort zu
versorgen. Erst in drei Tagen wĂŒrde die neue Reisegruppe erwartet. Diese Zeitspanne mĂŒsste reichen, die Fremde so weit zu versorgen, dass ich sie nach Tenosique zurĂŒckschicken könnte. Die Idee erleichterte mich, und machte die Suche nach einem Krankenhaus ĂŒberflĂŒssig Wichtig war nun, so rasch wie möglich das Schiff zu erreichen. In etwa drei Stunden mĂŒsste ich es schaffen.
In der KĂŒhlbox fand ich noch zwei belegte Brötchen, zwei Ăpfel, ein paar Bonbons und eine Flasche Coca Cola. Ich  aĂ und trank ohne Genuss und fĂŒhlte mich ein wenig besser, zumindest stark genug, um durchzufahren.
Ich hatte GlĂŒck. Als die Sonne aufging, erreichte ich das Schiff. Mit einem Hupton machte ich mich bei dem Wachhabenden bemerkbar. Die Ladeluke öffnete sich, die Rampe fuhr aus, der Jeep
rollte an Bord. HĂ€tte ich MuĂe gehabt, wĂ€re mir das geschĂ€ftige Treiben aufgefallen. So ĂŒberlegte ich nur, wie ich die Kranke möglichst ungesehen und schnell aus dem Jeep in die Krankenabteilung bringen konnte. Kurz entschlossen hĂŒllte ich sie in eine Decke und trug sie wie ein Kind unter Deck. Niemand begegnete mir, so brauchte ich keinem Rede und Antwort zu stehen. Ich begann sofort
mit den notwendigen Untersuchungen und entnahm die Proben fĂŒr die Laboruntersuchungen. Ich arbeitete grĂŒndlich und konzentriert, ohne auf die Zeit zu achten. Alle drei Krankenbetten waren leer. Ich  legte die Patientin in das dem Bullauge am nĂ€chsten stehende und setzte mich an ihre Bettkante. Ich flöĂte ihr nochmals Wasser ein und betupfte ihr die feuchte Stirn mit einem nassen Tuch. Zum
ersten Mal betrachtete ich ihr Gesicht. Ob ein Gesicht hĂŒbsch ist, ist bei geschlossenen Augen schwer festzustellen. Aber eines war sicher, ihre ZĂŒge waren ebenmĂ€Ăig, die Haut braun wie Milchkaffee, die Nase schlank und der Mund war, wenn sie lĂ€cheln könnte, gewiss weich. Die Frage nach ihrem Alter blieb offen. Ich schĂ€tzte sie auf Mitte zwanzig, eher auf dreiĂig zugehend. Sanft strich ich
ĂŒber ihr krĂ€ftiges Haar und ĂŒberlegte, was ich sagen sollte, wenn sie die Augen aufschlug. Dass Worte ĂŒberflĂŒssig waren, kam mir im Augenblick nicht in den Sinn.
Da es nichts weiter zu tun gab, beschloss ich, den KapitĂ€n von dem vorĂŒbergehenden Bordbesuch zu unterrichten. Als ich den Raum verlieĂ, spĂŒrte ich ein eigenartiges Vibrieren im Schiffskörper.
Hastig stieg ich an Deck.
Was hat das zu bedeuten?, rief ich einem Matrosen zu und erfuhr: wir gehen auf Fahrt.
Verdammt, das durfte nicht wahr sein. Fluchend und zwei Stufen auf einmal nehmend lief ich die Treppe hinauf zur KommandobrĂŒcke auf: Fahren wir  schon?, schrie ich den KapitĂ€n an.
So war es. Die PlÀne mussten geÀndert werden. Die Touristengruppe war im
Landesinneren mit einem Bus verunglĂŒckt. Viele Passagiere lagen in KrankenhĂ€usern. Die Reise wurde abgebrochen. Die gesunden Passagiere kehrten  per Flugzeug nach Deutschland zurĂŒck. Daraufhin hatte die Reederei Order gegeben, so bald wie möglich zum Heimathafen zurĂŒckzukommen. Neue Ladung wartet schon. Nur der Doktor fehlte. Das Schiff hĂ€tte gestern bereits ablegen können.
Ich setzte sich auf einen der DrehstĂŒhle und bat den KapitĂ€n um ein GesprĂ€ch unter vier Augen.  Petersen nickte, und versprach zu kommen gleich, wenn das Schiff den Hafen verlassen hatte.
Ich ging hinaus, Â lehnte mich ĂŒber die Reling und schaute auf die entschwindende Stadt. Der warme, gleichwohl erfrischende Wind, half ein wenig, meine Gedanken zu beruhigen. Es hatte jetzt
keinen Zweck, mich zu fragen, was mit der jungen Frau werden sollte. Das musste Petersen entscheiden. Meine Gedanken eilten nach Hause voraus. Ich  hatte mich wie ein Kind darĂŒber gefreut, dass Petersen mir fĂŒr diese Reise die Vertretung fĂŒr den erkrankten Bordarzt angeboten hatte. Mexiko war schon lange mein Traum. Und jetzt das.
Petersen tippte mir auf den
RĂŒcken und wollte wissen. Was es gĂ€be, hoffentlich keine schlechte Nachricht.
Ob sie gut oder schlecht ist, musste er beurteilen. Ich ĂŒberlegte, wie ich am besten beginnen sollte. Die HĂ€nde in den Taschen vergraben, den Blick auf meine staubigen Stiefel gerichtet, suchte ich nach Worten und begann recht umstĂ€ndlich zu schildern, was sich ereignet hatte. Petersen machte keine Anstalten, mir mit
Zwischenfragen zu helfen, sondern schaute mich schweigend an und lauschte. Er hatte kein Erbarmen, ich musste alles bis zum bitteren Ende erzÀhlen.
âEs blieb mir nichts anderes ĂŒbrig, als die Frau in meinen Jeep zu laden, denn weit und breit war keine Menschenseele zu entdecken. In Tenosique versuchte ich vergebens, sie in einem Krankenhaus unterzubringen. Da ich der
Meinung war, wir wĂŒrden erst in drei Tagen auslaufen, habe ich sie zur Erstversorgung mit an Bord gebracht. Vermutlich hat sie Malaria. WĂ€hrend ich sie untersuchte, merkte ich erst, dass wir ablegten.â
Noch immer Ă€uĂerte sich Petersen nicht. Er schaute mich nur von oben an , als wollte er sagen: Na, stimmt das, was du mir da auftischst? Ich fĂŒhlte mich mehr als mies und sprach
aus, was ich eigentlich von Petersen erwartet hatte: Es bleibt uns nichts anderes ĂŒbrig, als sie mit nach Deutschland zu nehmen.
âOder wir drehen bei und lassen sie von Bord gehen,â war Petersens  Alternative. vor
âVon Bord gehen? Das ist unmöglichâ, erregte ich mich. âDie Frau fiebert. Sie hat die Augen nicht aufgeschlagen, seit ich sie gefunden habe. Sie ist unfĂ€hig, das Bett zu
verlassen.â
âIch habe nichts dagegen, dass die Kranke an Bord ist. Aber Schwester Hannelore habe ich zu den verunglĂŒckten Passagieren geschickt. Du hast also keine Hilfe.â
âDas ist die kleinste Sorge.â Mir fiel ein Stein vom Herzen, Petersen schien sich mit der unwillkommenen Patientin abzufinden, denn er wollte wissen, wie ich  sie in Deutschland von Bord
bringen wĂŒrde? âDu weiĂt, wie penibel die Behörden sind. Und einen Pass wird deine Unbekannte nicht bei sich haben.â
Mir blieb nur der Weg, wie ich sie an Bord gebracht haben, in meinem Jeep versteckt. Â âIm Jeep liegend?â Ein breites Grinsen verzerrte Hansens Gesicht. Â âUnd dann, wie soll es weitergehen? Du kannst sie doch nicht einfach behalten.ââNatĂŒrlich nicht.
Was soll ich mit einer wildfremden Frau?â
âMein Gott, was soll man mit einer zunĂ€chst wilden Fremden wollen, besonders wenn sie hĂŒbsch ist? Und das ist sie vermutlich?â höhnte er.
Aber ich wehrte mich: âDiesmal irrst du, mein Freund. Ich habe die Frau erst richtig angeschaut, als sie schon hier im Bett lag.â
âUnd zu welchem Schluss bist du gekommen?â
âBeurteile du mal eine Bewusstlose.â
Ich atmete auf, unsere Blödelei war ein Zeichen: Petersen wollte nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Er klopfte mir auf die Schulter und ging davon. âOffensichtlich amĂŒsierte ihn mein Ausrutscher, und er war gespannt, wie ich mich da herauswinden wĂŒrde.  Nun lag alles in meinen HĂ€nden. Dass Probleme auf mich zukĂ€men, war gewiss. Aber
das ganze AusmaĂ ahnte ich nicht.â
Breitstein nahm einen Schluck vom Kaffee ein, bevor er fortfuhr:  âWenig spĂ€ter stand ich am Bett meiner Patientin  und versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen, wĂ€hrend ich den Puls an ihrem krĂ€ftigen Handgelenk fĂŒhlte. Das Fieber sank. Zum ersten Mal wagte ich mir auszumalen, welche Folgen das Erwachen haben könnte. Ich hielt noch
ihre Hand, da spĂŒrte ich, dass sich ihre Finger um meine schlossen, als suchten sie Halt. Ich hielt still, streichelte den HandrĂŒcken, um ihr schon vor dem Erwachen Vertrauen einzuflöĂen. Und ich wĂŒnschte mir, sie beim Namen nennen zu können. Es wĂŒrde ihr helfen. Ich betrachtete ihr Gesicht. Eine Maya., Ich merkte nicht, dass ich den Namen leise vor mich hin gesprochen hatte. âJa, Maya, das ist doch ein
hĂŒbscher und passender Name.â Ich probierte ihn gleich aus. âMaya, wach auf!â Ich sprach so eindringlich, als wollte ich sie zwingen, mir zuzuhören. Die Bewegung ihrer Finger erschlaffte. Ich  zog die Hand zurĂŒck und sie schlug die Augen auf. Ihre Lider flatterten leicht und schlossen sich  erneut. Ich blieb noch eine Weile neben ihrem Bett stehen. Das schlafende Gesicht zeigte mir, dass das Schlimmste
ĂŒberstanden war,  gesundheitlich  ging es mit meiner Patientin bergauf.
Die nĂ€chsten Schritte malte ich mir klar aus. Ich wĂŒrde zunĂ€chst dafĂŒr sorgen, dass sie gesund wird und sie dann mit einem Schiff nach Mexiko zurĂŒckschicken. Ăber die Frage der Dokumente machte  ich mir als Arzt wenig Sorge. Die hoffte ich, an Ort und Stelle irgendwie regeln zu können. Notfalls könnte ich meine Mutter bitten, die junge
Frau vorĂŒbergehend bei sich aufzunehmen.
WĂ€hrend ich  meinen Gedanken nachhing, öffnete die Kranke  die Augen. Ihr Blick glitt ĂŒber mein Gesicht und huschte dann unruhig ĂŒber die Bettdecke.  Sie schloss die Augen, öffnete sie wieder und wandte sich erschöpft ab. Ich versuchte, mich in ihre Lage zu versetzen und machte mir bewusst, wo ich sie gefunden hatte: im Urwald, fern ab der
modernen Zivilisation. Wie konnte ich erwarten, dass dieses Krankenzimmer ihr vertraut war. Ich wartete, bis sie erneut  in meine Richtung schaute. Mit zusammengekniffenen Lidern schien sie die nĂ€chsten liegenden GegenstĂ€nde abzutasten. Lange sah sie zu den beiden runden Bullaugen hinĂŒber und verweilte dann bei den drei Bildern blĂŒhender BĂŒsche, die ĂŒber dem FuĂende ihres Bettes
hingen.
âTobardilloâ, presste sie hervor, laut und deutlich noch einmal âTobardilloâ.
âTobardilloâ, Â wiederholte ich und versuchte, mir den Begriff zu merken. Ich vermutete, dass es ein SchlĂŒsselwort war. Tobardillo musste unmittelbar mit dem UnglĂŒck in Verbindung stehen.â
Hier stockte Jochen. Fragend schaute er Maya an, die absolute Konzentration ausstrahlte.
âHier sind wir also  bei Tobardillo angekommenâ, sagte er und wartete auf einen Kommentar von ihr. Vergebens. âErinnerst du dich?â  Statt zu antworten,  griff sie nach ihrem Skizzenbuch und blĂ€tterte darin. âHier, ich habe es gezeichnet und kam nicht darauf, was es war.â Sie deutete mit dem Finger auf die Zeichnungen und murmelte in Gedanken versunken. âTobardillo,  Mama
Nunc, Tobardilloâ, TrĂ€nen stiegen ihr in die Augen, sie schlug die HĂ€nde vors Gesicht und schluchzte.
âSollen wir Schluss machen? Du bist völlig durcheinanderâ, fragte Jochen besorgt,  aber Maya riss sich zusammen und zwang sich zu einem  LĂ€cheln. âEs geht schon, ich möchte die Geschichte  ganz hörenâ, flĂŒsterte sie. âJetzt, da ich weiĂ, dass ich die Frau bin, die du im Urwald gerettet
hast, muss ich alles erfahren.â  In leisem ErzĂ€hlton fuhr er fort: âIch flöĂte dir ein starkes Beruhigungsmittel ein. Du brauchtest dringend  Ruhe, denn du hattest gerade den ersten  Schritt getan, die neue Welt zu ertasten. Wie schwer, wie mĂŒhsam mochte der Weg bis zur vollen Erkenntnis sein?
Nach jeder Schlafphase wirktest du ein wenig wacher.
Inzwischen warst du in der Lage, die Umgebung wahrzunehmen und bereit, diese als gegeben anzunehmen. Hin und wieder standest du auf und schautest aus den runden Fenstern hinaus; Wasser so weit das Auge reichte.
Was sagte dir Wasser wohl  in diesem AusmaĂ? Ab und an murmeltest du  ganze SĂ€tze, wohl in der Hoffnung, ich, der Fremde wĂŒrde dich verstehen. Ich  aber lĂ€chelte
dich nur an, hob bedauernd die Schultern. Ich ahnte, was du von mir wissen wolltest, konnte es dir aber nicht verstĂ€ndlich machen. Es war eine schwierige Situation.  Ich brachte dir Essen, das du nie zuvor geschmeckt hattest und gab dir Hemd und Hose von mir, in denen du dich unbehaglich fĂŒhltest. Da ich mich verbal nicht mit dir verstĂ€ndigen konnte, griff ich zu Papier und Bleistift. Ich malte einen Jeep auf, was
sinnlos war, du hattest nie ein derartiges Fahrzeug gesehen. Dann zeichnete ich mich selbst, wie ich dich auf den Armen trug. Ich deutete mit einem Pfeil die Richtung zum Jeep an. Eifrig wie ein kleiner Junge bemĂŒhte ich mich, ein fahrendes Auto darzustellen, in dem ein Mann sitzt, eine Frau liegt, dann das Meer, das Schiff und zuletzt das Krankenzimmer.
Dein zaghaftes Nicken deutete ich als: Ich habe
verstanden. Eifrig malte ich weiter. Ich deutete Amerika an, dann Europa, eine Frau im Bett, zunĂ€chst auf dem Schiff in Richtung Europa, dann im Hospital und im dritten Bild wieder auf dem Schiff in Richtung Amerika. Fragend schaute ich dich an, du lĂ€cheltest scheu zurĂŒck. Es war ein hoffnungsloses Unterfangen.
Immer wenn ich spĂŒrte, dass du aufnahmebereit warst, redete ich  dich bewusst mit
dem Namen Maya an. Ich deutete auf dich  und sagte: âMayaâ. Du begriffst, tipptest auf deine Brust und sagtest: âMayaâ. Ich zeigte auf mich und sagte: âJochenâ. Was du wiederholtest, klang wie âoche. Aber nach  mehreren Versuchen gelang es dir, meinen Namen richtig  auszusprechen. Ab sofort machte ich ein Spiel daraus, Maya Jochen. Ich zeigte auf dich, du auf mich. Es hatte den Anschein, als  wĂŒrden wir
uns bestens verstehen. Leider waren diese Augenblicke nur von kurzer Dauer. Es war dir anzusehen, dass dich so vieles quÀlte, was du nicht verstandest. Dann flohst du in den Schlaf.
Zur Essenszeit kam ich mit einem Tablett.  So, als könntest du mich verstehen,  erklĂ€rte ich: âHallo, Maya, dein Abendessen, Suppe und Brot.â Du beĂ€ugtest die fremden GegenstĂ€nde, griffst nach der Suppenschale,
trankst ein SchlĂŒckchen und setztest ab. Du nicktest. Ich deutete es als: Es schmeckt. Besteck kanntest du nicht. Ich  nahm den Löffel zur Hand, fĂŒllte ein  wenig HĂŒhnersuppe darauf und fĂŒhrte ihn dir zum Mund. Als die Schale fast geleert war, langtest du nach dem Löffel  und aĂest. Dabei starrtest du auf das Tablett, als mĂŒsstest du es dir fĂŒr immer einprĂ€gen. Ich holte eine Banane. Du öffnetest die
Frucht wie gewohnt mit den ZĂ€hnen und verschlangst das Fruchtfleisch. Erleichterung lag auf deinen GesichtszĂŒgen, als du in deiner Sprache einen Kommentar abgabst. Ich zuckte mit den Schultern als Zeichen, dass ich dich nicht verstanden hatte, wĂ€hrend du die Bananenschale auf den Boden fallen lieĂest.â Maya schĂŒttelte sich vor Lachen. âDu bist ein Kasperâ, tadelte sie, âhast du wirklich solch
einen Quatsch mit mir, deiner armen Patientin gemacht?â
âJa, es hat sogar SpaĂ gemachtâ, gab Jochen zu. âIch musste doch irgendwie zu dir vordringen, dich aus der Reserve locken. Da ich viel Zeit erĂŒbrigen konnte, brachte ich dir nach und nach die wichtigsten Wörter bei und staunte, wie aufnahmebereit du warst. Spielerisch ĂŒbte ich mit dir die Namen Maya Jochen, der immer gleiche Rhythmus: Maya
Jochen.
Maya Jochen wurde zum Ritual, zum einzigen Bindeglied zwischen uns beiden.
MĂŒhelos wiederholtest du:  âGuten Morgen!, âwie geht es, Maya?, auch bitte und danke beherrschtest du. Ich spĂŒrte deutlich, dass du mir vertrautest und freute mich, wenn deine Augen glĂ€nzten.  Ich zeigte aber  auch  VerstĂ€ndnis, wenn  Traurigkeit dich ĂŒbermannte.
So versuchte ich, dich ein wenig aufzuheitern.â âUnd, ist es dir gelungen?â âDas kann ich nicht beurteilen. Du warst zu tief verletzt.â âAber komm, erzĂ€hl weiter! Ich will  das Ende der Geschichte hören.â Â
âEs lagen noch zwei Seetage vor uns, als du so weit gesundheitlich wieder hergestellt warst. Ich hatte allerdings keine Ahnung, wie du die Situation wahrnahmst. Mir war klar, dass es am
allerbesten wĂ€re, dich so rasch wie möglich zurĂŒckzubringen, obwohl mir graute, wenn ich an das Schlachtfeld dachte, aus dem ich sie gerettet hatte. Wieder peinigten mich die VorwĂŒrfe, ob ich richtig gehandelt hatte,  dich spontan und unĂŒberlegt mitzunehmen. Vielleicht wĂ€ren ja Stammesmitglieder aufgetaucht, die dich behandelt hĂ€tten. Je mehr ich darĂŒber nachdachte, umso sicherer war ich in meinem
Entschluss, dich unbedingt und so rasch wie möglich an deinen Platz zurĂŒckzubringen.
WĂ€hrend sich an Bord alles fĂŒr das Ausschiffen bereit machte, traf ich die erforderlichen Vorkehrungen, meine Patientin von Bord zu schmuggeln. Wieder kam ich mit meinem Malblock in dein Krankenzimmer und zeichnete einen Jeep auf, in dem du versteckt  von Bord gebracht wirst. Aufmerksam, aber ohne den Sinn zu
begreifen, schautest du meinen MalkĂŒnsten zu, Ich zeichnete, wie ich dich heraushole. Du nicktest, und wieder glaubte ich, du hĂ€ttest mich verstanden. Vorsichtshalber gab ich dir ein leichtes Beruhigungsmittel. Wie ein Kind nahm ich  dich bei der Hand und fĂŒhrte dich durch die GĂ€nge zum Jeep unter Deck. An deinen Schritten merkte ich schon, dass du schlĂ€frig wurdest, dennoch
schautest du vertrauensvoll zu mir auf. Du schienst zu ahnen, dass etwas Ungewöhnliches bevorstand. âKeine Angst, Maya, es wird alles gut werdenâ, redete ich dir beruhigend zu. Bei meinem Wagen angekommen, öffnete ich die SeitentĂŒr, klappte den Sitz nach vorne und bedeutete dir, hinten einzusteigen. Vor den RĂŒcksitzen hatte ich bereits zwei Kissen auf den Boden gelegt, ich zeigte mit der Hand
darauf, was soviel heiĂen sollte: âbitte leg dich hin. Du tatest, wie geheiĂen, aber der vertrauensvolle Blick war erloschen. âMaya Jochenâ raunte ich dir noch zu, breitete eine Decke ĂŒber dich und ĂŒberlieĂ dich der Enge, der WĂ€rme und Angst. Aber du begehrtest nicht auf. Â
Ich machte mir keine Sorgen, dass etwas schief laufen könnte. Aber ich fĂŒhlte mich schlecht, wenn ich an deine angstvollen Auge dachte. Ich
konnte nur hoffen, dass du schnell einschlafen wĂŒrdest.
Es war fast 13.00 Uhr, Zeit der Mittagspause, als ich das Zeichen bekam, mit dem Fahrzeug das Schiff zu verlassen. Im Hafen war ich, der Doc mit seinem alten Jeep, bekannt wie ein bunter Hund. Â FĂŒr jeden hatte ich ein freundliches Wort, die Scherze kamen mir locker ĂŒber die Lippen. Mit dem gewohnten âmoin, moin reichte ich dem Dienst
habenden Beamten die Dokumente. âGute Reise gehabt, Doc?â eine gut gemeinte Floskel. âJa, wir sind  fast leer zurĂŒckgekommenâ, gab ich bereitwillig Auskunft und streckte betont lĂ€ssig die Hand aus, um meine Papiere in Empfang zu nehmen. Ganz vorschriftsmĂ€Ăig fahrend verlieĂ ich das HafengelĂ€nde, unterdrĂŒckte einen Seufzer der Erleichterung und schaute ĂŒber die Schulter.
Nichts rĂŒhrte sich auf der RĂŒckbank. Du schienst zu schlafen.  Ich konnte es wagen, jetzt gleich bei  meiner Mutter vorbeizufahren. Es war mir wichtig, dich bei ihr in guter Hut zu wissen, bis ich dich in deine Heimat zurĂŒckbringen konnte.
Als ich den Wagen vor dem Haus meiner Mutter abstellte, rĂŒhrtest du  dich noch immer nicht. Sanft schloss ich die WagentĂŒr.
Meine Muter hatte mich bereits erspĂ€ht. Sie freute sich, mich nach der langen Reise wieder zu sehen, umarmte mich und begleitete mich ins Haus. Sie ĂŒberschĂŒttete       mich mit Neuigkeiten. Ich unterbrach sie etwas ungeduldig:  âMutter, ich habe es eilig  und muss etwas Dringendes mit dir besprechen oder besser gesagt, dich um einen
Gefallen bitten.â âNur zu, was gibt es?â sagte sie gut gelaunt und lehnte sich mit verschrĂ€nkten Armen gegen den KĂŒchentisch. âWĂŒrdest du fĂŒr ein paar Tage einen Gast aufnehmen?ââEine Freundin von dir?â âNeinâ, ich lachte laut heraus, der Gedanke amĂŒsierte mich. âEine Patientin, eine genesene Patientinâ, fĂŒgte ich hinzu und schilderte in kurzen SĂ€tzen, was sich zugetragen hatte und
versicherte: âIch kĂŒmmere mich darum, Maya dann so schnell wie möglich in ihr Dorf zurĂŒckzubringen.ââEin richtige Maya?â Mutter war neugierig geworden. âWas heiĂt hier richtige Maya? Ich habe sie nur so genannt, aber wenn mich nicht alles tĂ€uscht, gehört sie dem Stamm der Lacandonen an.â
âUnd spricht kein Deutsch.â
âNein, natĂŒrlich nicht. Sie ist sicher nie aus ihrem Wald herausgekommen.â
Gertrud verdrehte  missbilligend die Augen. âJunge, Junge, du traust dich ...â Der Rest des Satzes ging unter im Pfeifen des Teekessels. âSie ist ausgesprochen gelehrigâ, versicherte ich. âSie weiĂ inzwischen, was ein WC ist. Sie hat gelernt, mit Besteck umzugehen. Sie beherrscht  ein paar Worte und merkt sich alles, was man ihr beibringt. Ich bin sicher, nach ein paar Tagen, wirst du sie
ins Herz geschlossen haben und nicht mehr hergeben wollen.â Â Ich schaute Mutter bittend an, las die Zustimmung an ihren Augen ab und schmeichelte: âDu bist die beste Mutter der Welt. Komm, lass uns den Gast hereinholen.â
Als ich  die braune Decke  neben dem Jeep auf dem Gehweg liegen sah, verhieĂ das nichts Gutes, Der Platz vor der RĂŒckbank war leer, von dir weit und breit keine
Spur. Stille, kein Mensch, nichts, was auch nur annÀhernd darauf hindeutete, wo du seien könntest.
Gertrud war mir zur HaustĂŒr gefolgt. Als sie mich wĂŒtend mit den HĂ€nden fuchteln sah, kam sie nĂ€her.
âSie ist weg, verschwundenâ, rief ich ihr entgegen  und hielt ihr wie zum Beweis die Decke entgegen. âDa drunter hattest du sie versteckt? Dann wundert es mich nicht, dass sie davongelaufen ist.
 Das muss ja jeden normalen Menschen Ă€ngstigen. Vermutlich hatte sie keine Ahnung, was mit ihr geschehen wird.â
âUnd nun?â wĂŒtend warf ich die Decke auf den Boden.
âRuf die Polizei!â
âKeinesfalls. Ich habe die Frau illegal ins Land gebracht.â
âDann such sie!â
âAber wo? Soll ich hier von Haus zu Haus gehen?â
âVielleicht.â
âSie kann doch nicht weit sein.â
âOh doch, sie braucht nur wie verloren an der StraĂe gestanden zu haben, da hat sie jemand mitgenommen, bestenfalls aus Mitleid.â
âUnd andernfalls?â Ich starrte meine Mutter an, als sei sie schuld an Mayas Verschwinden. Gertrud zuckte die Achseln. âWas weiĂ ich, nur hier in der Nachbarschaft ist sie bestimmt nicht. Komm lieber
rein, der Tee wird kalt.â
âTypisch Mutter, dachte ich wĂŒtend, ânichts kann sie erschĂŒttern.
Ganz in seine Schilderung vertieft und ohne aufzuschauen hatte Jochen gesprochen. So durchlebte er noch einmal die aufregenden Stunden. Jetzt blickt er auf.  Maya saĂ ihm gegenĂŒber mit gesenktem  Kopf  und im SchoĂ verschrĂ€nkten HĂ€nden. Weinte sie?  Sie
schien nicht zu bemerken, dass Jochen geendet hatte. âUnd? Erinnerst du dich?â, fragte er. Â Maya schĂŒttelte den Kopf. âAber ich glaube dir. Jetzt weiĂ ich, was mich vertrieben hat, und wie ich hier hergekommen bin. Aber ĂŒber meine Vergangenheit habe ich so gut wie nichts erfahren. Nicht einmal, ob Maya wirklich mein Name istâ, fĂŒgte sie leiser hinzu und stieĂ wĂŒtend her vor: âWarum nur ist mein
Erinnerungsvermögen erloschen?â
âIch vermute, der Schock und gleichzeitig das hohe Fieber.â
âJochen, bist du mir böse, wenn ich mich in mein Zimmer zurĂŒckzieheâ, bat Maya mit zittriger Stimme. âIch habe so viel  erfahren, das muss ich erst einmal verarbeiten.â Ohne auf seine Antwort zu warten wandte sie sich zur TĂŒr, hielt plötzlich inne, denn ihr fiel die Figur der Akna ein. âEine Frage
noch, wie ist die kleine Götterfigur in deinen Besitz gekommen?â âDu trugst sie an einigen Haaren am Hals. Die FĂ€den waren aber so eng verknĂŒpft, dass ich sie durchtrennte und in meiner Arzttasche verwahrte. Neulich fand ich sie wieder.â
PAGE Â 1