Ich senkte den Zettel, Stan räusperte sich und sah mich mitleidig an. „Katy, es tut mir so leid”, setzte er an und ich schaute hoch in seine Richtung. „Ich weiß nicht genau, was ich dazu sagen soll, außer, dass ich mir kaum vorstellen kann, wie du … na ja, dabei empfindest …” „Hm? Ach das meinst du”, ich wedelte mit dem Abriss, „also, klar, das ist ein bisschen verrückt, aber nun mal mal keine Katastrophe draus! ” Halb verzweifelt verdrehte er die Augen. „Ach Katy, bitte, ich weiß, das muss schlimm für dich sein, aber, warum auch immer … ich denke, du musst es akzeptieren: Dad, also Jens - Dein Mann hat dich verlassen!” „Was … Wie kommst du denn auf so was?” Ja genau, das wussten doch nur sein Vater und ich,
welche Probleme Jens umtrieben. Prompt druckste Stan ein bisschen rum. „Na ja, das Haus in Berlin … hat ein paar hellhörige Stellen … Von daher weiß ich, dass er sich zu alt für dich findet und hab das so interpretiert, dass er deswegen abhaut.” Geduldig schloss ich die Augen. War es wirklich so offensichtlich? Seine Worte ließen mich nun doch wieder zweifeln. Bis vor einer Sekunde war ich noch überzeugt gewesen, dass Jens - Aber wenn selbst Stanley es so sah … Ein paar Minuten grübelte ich vor mich hin. Seltsam, plötzlich kamen mir Erinnerungen hoch, an den Tag nach dem Besuch bei der Hebamme. Toni und seine Kerle, die Julia indirekt bedrohten und wie ich sie beschützen
wollte … Witzig, da hatte ich ja sogar eine ähnliche Entscheidung wie Jens später getroffen! Und dann hatte mein Versprechen, mich nicht ohne Abschied davon zu stehlen, ihn auf die richtige Spur gebracht. Aber das war genau das, was mich jetzt so zuversichtlich machte. Jens, mein Schatz, mein Ein und Alles, er hatte mir hoch und heilig geschworen, mich nicht zu verlassen! DAS würde er nicht brechen und außerdem glaubte ich auch zu wissen, was los war – manchmal war Jens eben viel verrückter als es den Anschein hatte! Deswegen schüttelte ich energisch den Kopf und murmelte „Nein! Nein, das kann nicht stimmen. Das kann einfach nicht stimmen! Er hat es mir versprochen, so etwas NICHT zu machen
...” Der junge Mann vor mir sah mich mit diesem 'die-Ärmste-sie-will-es-nicht-wahrhaben'-Blick an und ich fragte „Stan, weißt du eigentlich, wie dein Vater und ich uns kennen gelernt haben? Also so richtig?!” Da zuckte er die Achseln, inzwischen wahrscheinlich genervt von meiner Weigerung, das so Offensichtliche zu akzeptieren. „Also so ganz nicht. Du warst ja auf einmal da, als ich mal wieder bei Dad vorbeigeschaut hab … Und er hat mal angedeutet, dass ihr euch schon viel länger kennt, obwohl er dich nie erwähnt hatte bis dahin!” „Natürlich nicht”, murmelte ich leise. „Warum 'natürlich nicht'? Immer diese Geheimniskrämerei”, erwiderte Stan jetzt so ärgerlich, dass ich schon fast lachen
musste. „Das ist eine … komplizierte Geschichte. Viel Zeit haben wir nicht, aber-” Dann erzählte ich in ganz groben Zügen unsere Geschichte. Stan saß mir gegenüber und seine Augen wurden immer größer. „Nun, das ist auch der Grund, warum Niels bei uns lebt, obwohl er nichts von … der Sache an sich weiß”, schloss ich meine Erzählung und Stan stöhnte. „Ich hatte ja keine Ahnung ...” „Tut mir leid, das ist halt nichts, was man jemandem gleich beim ersten Treffen auf die Nase bindet. Und später war ich froh, dass alles im Grau der Vergangenheit versinkt. ABER es ist der Grund, warum ich mir jetzt so gar keine Sorgen mache, Jens könnte mich verlassen haben. Eher mache ich mir Sorgen, er
könnte-” Wir schraken heftig zusammen, als in diesem Moment Stans Handy schepperte. Er sah aufs Display und stöhnte. „Das ist jetzt ein bisschen wie bei Beetlejuice, oder? Es ist nämlich Niels”, erklärte er dann und drückte auf die Lautsprechertaste, als er ranging. „Donen?!” „Hey, ich bins, du alte Krücke! Jetzt wirst du mir sicher wieder sagen, dass meine Schwester nicht ansprechbar ist und Jens im Krankenhaus nicht telefonieren darf, was?! Aber das hat jetzt ein Ende, wir sind auf dem Weg zum Flughafen!” Mit schiefer Miene murmelte Stan „Moment” und drückte die Stummtaste. „Was soll ich ihm sagen?” „Gib mal her. – Hi Bruderherz!” „Kitty, du?! Bist du wach? Wie geht es dir?
Stanley hat immer behauptet, du wärst nicht ansprechbar”, rief der ins Telefon. Es war deutlich zu spüren, dass Niels dieser Aussage misstraute und nun eine Bestätigung wollte. „Ja, Schatz, ich bin wach, aber ich hab wirklich ein paar Tage flach gelegen. Mich hat wohl eine Art Fieber wegen den Kratzern und den Ereignissen an sich gepackt gehabt.” „Hm, na gut … Es war halt, also es hat sich angefühlt wie damals, als du … so lange verschwunden warst … Und ich so gar nicht Bescheid wusste und niemand etwas verraten hat. Ich wollte dich nicht nochmal-” Er brach ab und schniefte kurz, mein Herz zog sich zusammen. Das war wohl doch ein Trauma, welches mein Brüderchen aus seiner Kindheit mitgenommen hatte. „Egal”, fuhr er fort, „sollen wir kommen?” „Wer ist
'wir'?” „Julia, Vince, Jerôme und ich halt.” Du liebe Zeit, die ganze Bande! Nein, das Geld konnten sie sich sparen, ich wollte lieber so schnell wie möglich wieder zu ihnen nach Hause, als hier unnötig lange zu verweilen. „Nein, mein Lieber, bitte bleibt in Berlin. Macht euch keine Sorgen, wir werden so bald wie möglich zurück kommen!” Hier keuchte Stan neben mir unterdrückt, ach ja, den musste ich ja auch noch aufklären. Am anderen Ende der Leitung grummelte Niels „Hm, na gut, muss aber auch wahr sein! Ihr und vor allem Jens solltet jetzt wirklich langsam nach Hause kommen, das Internet steht schon Kopf, weil der Webmaster aus lauter Verzweiflung Rollens bescheuerten Countdown runter und hoch und wieder runter laufen lässt ...” Ich grinste in mich hinein, die armen Fans, wenn
die wüssten … „Na, das Rätsel wird sich ja bald lösen und er kann die neue Platte und die Tour rein stellen. Kehrt um und putzt unsere Wohnung, wir sind bald wieder daheim.” „Versprochen?” „Seemannsehrenwort! Hasta luego!” Erleichtert drückte ich die rote Taste, begegnete dann Stans entgeistertem Blick. „Katy, wie kannst du denn sowas versprechen?!?” „Weil ich es kann. Stan, findest du noch mal dorthin? Zum Lager?!” „Was!? Was willst du denn da?” Ich überhörte seinen Einwand und fragte noch einmal. „Findest du dorthin, ja oder nein?” Leicht verzog er den Mundwinkel. „Ja, doch, ich hab extra gut aufgepasst, aber wieso um alles in der Welt? Ist das
Traumabewältigung??” „Eher Idiotenbergung”, grummelte ich. „Pass auf ...”, begann ich dann und erklärte es ihm endlich. Immer noch ungläubig starrte er mich an. „Nee, oder? Ist das dein Ernst?!” „Yepp, das ist er”, nickte ich und hoffte, genügend Zuversicht in meine Stimme legen zu können. „Also ich weiß nicht ...” Langsam wurde ich ungeduldig. „Jetzt komm, was hast du zu verlieren?! Besser, als hier im Kabuff rum zu sitzen, ist es allemal, oder?” Resigniert zuckte er die Achseln. „Auch wieder wahr. Dazu muss ich aber erst mal ein Auto organisieren ...” „Tu das”, kommandierte ich voll neu erwecktem Tatendrang, „ich mach mich solange frisch. Ich hoffe, die Bude hat eine
Dusche?” Hatte sie und so verließen wir, nachdem wir noch rasch einen Ajiaco Santafereno, den typischen einheimischen Eintopf verschlungen hatten, am späten Vormittag Bogota und brausten übers Land. Alles, was Stan bekommen hatte, war ein offener Jeep, eigentlich für touristische Fahrten gedacht. Mit dem fuhren wir nun über die Landstraße Richtung Dschungel und unter normalen Umständen hätte man die Fahrt richtig genießen können. Wir schwiegen eine Weile, bis Stan dieses Schweigen plötzlich unvermittelt brach. „Und du sagst, Niels hat keine Ahnung? Also, ich meine, von eurer Story, von diesem Toni ...”, deutete er mein Martyrium an und ich
schüttelte den Kopf. „Nein, er weiß nur, dass ich so etwa ein Jahr auf Reisen war und irgendwie keine Gelegenheit hatte, ihn zu kontaktieren.” „Und das hat er geglaubt?”, rutschte Stan heraus, worauf ich meinen Bruder instinktiv verteidigte „Er war ja noch klein damals!” „Na, aber trotzdem ...”, nuschelte mein Stiefsohn und ich zuckte die Achseln. „Wahrscheinlich will er es auch gar nicht so genau wissen. Ich glaube, er ahnt, dass etwas Fieses dahinter steckt, aber er hat mir damals wie heute sein Vertrauen geschenkt. Er ist auf jeden Fall froh, bei uns statt bei u- seiner Mutter zu wohnen.” Ich hatte in meinem Bericht nur kurz angedeutet, was die Rolle meiner Mutter anging, aber als guter Journalist konnte Stanley eins und eins zusammen zählen. „Was denkt ER eigentlich, warum das so ist?”,
fragte er prompt. „Hm, hauptsächlich wegen seiner musikalischen Ausbildung bei Vince. Er hat keine Ahnung, dass sie ihn nur gegen Geld hat gehen lassen.” „Hat sie? Eure Mutter hat also sowohl dich als auch ihn quasi verkauft?” Stan schaute erschrocken und ich nickte. „Ja, sie ist ein Monster.” Wow, so direkt hatte ich das noch nie gesagt und es tat furchtbar gut. Deswegen schrie ich es noch einmal laut in den Fahrtwind „Meine Mutter ist ein Monster!!!” Stan schmunzelte, wurde dann plötzlich nachdenklich. „Dann ist Niels ohne Vater, mit einer lieblosen Mutter und einem Zuhälter als Stiefvater aufgewachsen und hatte lange Zeit das Gefühl, dass auch seine große Schwester ihn verlassen hat?” Schuldgefühle durchschauerten mich. Auch wenn ich an meiner Gefangenschaft nicht schuld
war, die Zeit danach auf der Straße war meine Idee gewesen. „Hm, ja, so ungefähr.” „Oh Mann, ich hatte ja keine Ahnung!”, stöhnte Stan da. Es war wohl im Moment die Zeit der Geständnisse, denn plötzlich sprudelte es aus ihm heraus: „Weißt du, auch für mich war das alles so überraschend. Zuerst warst auf einmal du da, eine hübsche dynamische Frau, noch dazu aus meiner Generation - sorry – also, du warst so von null auf gleich in Dads Leben, aber man sah sofort welche unheimlich tiefe Verbundenheit ihr euch teiltet. Na gut, damit konnte ich noch leben, eine Freundin ist ja was anderes als eine Vater-Sohn-Beziehung. Aber plötzlich war da … dieser Junge, der dann auch noch bei euch wohnte und ebenfalls furchtbar vertraut mit Dad tat. Mit meinem Vater! Upps.” Letzteres galt einem fetten Schlagloch auf der immer schlechter werdenden Straße, durch
welches wir gerade rumpelten und das uns arg die Bandscheiben stauchte. „'Tschuldigung. Ähm, wo war ich ...” „Niels und dein Vater”, sagte ich knapp. „Dazu muss ich sagen, ich meine, ich kann Dad keinen Vorwurf machen. Mum und ich lebten nun mal in London und er in Deutschland, er musste arbeiten, auf Tour gehen … Angesichts dieser Umstände hat er sich wirklich gut um mich gekümmert, das sagt auch Mum immer.” Ich lächelte stumm. Linda, seine Mutter, war eine inzwischen mollige Mitfünfzigerin, der man die wilden Jahre der Jugend so gar nicht mehr ansah. Wir hatten uns ein- oder zweimal bisher getroffen und ich fand, sie war eine Seele von Mensch. Vielleicht ein bisschen langweilig, aber das war gut so, denn so konnte zumindest bei mir keinerlei rückwirkende Eifersucht auf die frühere Affäre meines Mannes aufkommen.
Neben mir fuhr die Frucht dieser kurzen Beziehung fort „Trotzdem, es war nicht immer schön, so ohne den Vater im Haus aufzuwachsen. Und dann ist da plötzlich so ein junger Kerl, der sogar bei ihm wohnt! Der unheimlich viel Zeit mit ihm verbringen darf und sich sehr gut mit ihm versteht. Mit meinem Vater!” Unwillig schüttelte er den Kopf. „Ja, ich muss gestehen, ich bin von Anfang an rasend eifersüchtig gewesen. Auf Niels und irgendwie auch auf dich, anfangs!” „Oh”, machte ich. Ersteres hatte ich ja schon immer vermutet, aber letzteres … „Du … Du warst auch auf mich eifersüchtig?”, nuschelte ich fragend. „Du hast doch grad gesagt, dass das was anderes ist als eine Vater-Kind-Beziehung
...” „Klar, schon, aber ich war einfach auf jeden neidisch, der ein enges Verhältnis zu Jens hatte. Dass ich, hrrmpf, mich dann auch noch in dich verguckt habe, nach einiger Zeit, hat es nicht leichter gemacht. Tut mir leid, wenn ich da oft unausstehlich war und mich mit Niels gezofft habe.” „Jo, das ist mir oft tierisch auf die Nerven gegangen. Vor allem, weil ihr vor Jens selber dann immer ein Herz und eine Seele wart!” Jetzt guckte er überrascht. „Waren wir das?” „Oh ja”, stöhnte ich, „er hat mich deswegen schon für paranoid erklärt. Ich glaube, in diesen Momenten wart ihr euch in eurer Buhlerei um seine' Aufmerksamkeit einfach so einig, dass ihr keinen schlechten Eindruck durch eure Streiterei machen wolltet!” Stan bog nun von der miesen Hauptstraße auf
den noch schlechteren kleinen Weg ab, mehr ein Trampelpfad Richtung Dschungel, wie mir erst heute so richtig auffiel. „Buhlerei, interessant”, brummte er. „So hab ich das immer aufgefasst. Ich glaube, Niels ist seinerseits eifersüchtig auf dich, weil du einen Vater hast und das eben auch ein besonderes Verhältnis ist. Sieh mal, er hat ja im Grunde seinen Vater kaum gekannt und Jens kam für ihn neben Vince dem am nächsten ...” „Ja, das habe ich jetzt auch verstanden. Aber Catherine, ehrlich … Meinst du dann nicht auch, dass er nun mal allmählich Anspruch auf die ganze Geschichte hätte? Auf die Wahrheit?” „Auch, wenn er sich eigentlich nie die Mühe gemacht hat, sie selber heraus zu finden?”, fragte ich zweifelnd und mit seiner Antwort bewies Stan wieder einmal, von wem er abstammte. „Gerade deshalb. Das zeigt doch nur, wie sehr er
dir vertraut und dass er das nicht kaputt machen will. Also wage es und vertrau darauf, dass er mit der echten Geschichte klar kommt.” „Hm, vielleicht hast du recht”, brummte ich und starrte nachdenklich auf den Weg vor uns, der noch rumpeliger war als bei meiner ersten Fahrt hierher – kein Wunder bei all den tiefen Furchen, welche die Panzerfuhrwerke vor kurzem hier im Lehm hinterlassen hatten. Ich schauderte und dachte, wie viel würde ich Niels dann erzählen sollen? Von Judith hatte ich nämlich vorhin auch Stan gegenüber nichts erwähnt … aber das waren Sorgen, die ich mir erst später machen würde! Denn auf einmal riss es mich von meinem Sitz, ich ließ den Gurt aufspringen und richtete mich auf, hielt mich am Überrollbügel fest und spähte in die
Ferne. Dort, weit vor uns auf der Straße kam uns eine Gestalt entgegen, hochgewachsen in heller Kleidung und definitiv blond – es gab keinen Zweifel für mich, wer das war! Und, ich gebe es zu, ich war unheimlich froh, dass ich richtig gelegen hatte!! „Gib Stoff, Junge”, jubelte ich, „da vorne ist dein Vater!” Stan trat tatsächlich abrupt so stark aufs Gaspedal, dass der Jeep einen gewaltigen Satz nach vorne machte und es mich heftig wieder nach hinten in meinen Sitz haute, aber ich merkte das fast gar nicht, lachte nur und fieberte dem Moment entgegen, in dem die Gestalt endlich in Rufreichweite kam. Stan erledigte das, indem er noch vorher auf die Hupe drückte, worauf die Gestalt die Hand hob
und winkte. Oh ja, dieses Lachen, das er dabei zeigte, war einfach unverkennbar und ich sprang aus dem Wagen, noch bevor der richtig stand, flog förmlich in seine Arme. Jens rief fröhlich „Ich wusste, du würdest es checken!”und fing mich auf, drehte mich einmal im Kreis, wobei meine Beine wild herum schlenkerten bis ich es schaffte, sie um seine Taille zu schlingen. Mit beiden Händen umrahmte ich sein Gesicht und versuchte, jede Kleinigkeit darin aufzunehmen. Und dann … konnte ich einfach nicht verhindern, dass mir in Erinnerung an die vergangenen Tage die Tränen kamen. „Du lebst”, hauchte ich und schlang mit einem Schluchzer die Arme so eng um seinen Hals, dass ich ihn beinahe erwürgte.
Überrascht murmelte Jens leise an meinem Ohr „Kleines, was ist? Was hast du gesagt?! Bist du mir böse, weil ich-” „Nein”, krächzte ich, schniefte einmal kräftig, um Herrin über meine Stimme zu werden, brachte dann aber trotzdem nur abgehackt hervor „es ist nur, ... ich dachte, ... du seist tot ... Weil- der Schuss, die Plane, Sven ...” Ich spürte mehr als ich hörte, wie Jens scharf die Luft einsog, dann keuchte er „Du liebe Zeit, meine arme Kitty, du … ich …. Oh Gott, du Ärmste!” Ganz fest presste er mich an sich, murmelte unzusammenhängende Trostworte, während ich versuchte, mich zu beruhigen. Endlich konnte ich dann wieder durchatmen, es gab ja eigentlich keinen Grund zu weinen; er war hier, in meinen Armen, lebendig und nun mit großem
Schuldbewusstsein im Gesicht. „Himmel, Catherine, ich hatte ja keine Ahnung! Wenn ich das gewusst hätte, wär ich schon viel eher aus der Klinik abgehauen und wäre nicht hierher … Ich weiß, das war verrückt, kannst du mi-” „Halt die Klappe und küss mich endlich!”, unterbrach ich ihn und als braver Ehemann leistete er dem sofort Folge. Hinter uns hörten wir nun ein leises Räuspern. „Ähm Leute, vielleicht sollten wir dazu erst mal ins Hotel fahren ...” Jens sah auf und guckte seinen Sohn über meinen Kopf hinweg an, den Blick konnte ich nicht sehen, hörte nur, wie Stanley plötzlich protestierte „Oh no, schau mich nicht so an, keine Vorwürfe bitte, ich hab auch nicht gewusst, dass sie das
denkt!” Dazu nickte ich kräftig. „Stimmt, ich war etwas, ähm, weggetreten die letzten Tage … Aber er hat sich gut um mich gekümmert, wie du es ihm gesagt hast!” „Hm, na dann, danke, mein Junge, auch fürs Abholen.” „Apropos Abholen”, hakte ich da ein und stellte meine Beine zurück auf den Boden. Dann begann ich mit der flachen Hand fest auf Jens' Brust zu schlagen und schimpfte im Rhythmus meiner Schläge „Was – fällt – dir – eigentlich – ein, - nur – wegen -”, jetzt fasste ich ihn am Hemdkragen und schüttelte ihn heftig, „dieser blöden Kamera wieder hierher zurück zu kommen!?!?” „Aua aua”, machte Jens, schnappte meine Hände und fesselte sie mit seinen. „Die Kamera hab ich von dir, hast du das
vergessen?” „Ja, aber-”, empörte ich mich, doch mit treuherzigem Blick setzte er nach „Und die Fotos … irgendwo ganz vorne waren noch welche von uns, noch von vor der Ausstellung! Außerdem, hab ich doch gesagt, ich will sie mit dir teilen. Und ...” Jetzt seufzte ich, befreite eine Hand und strich ihm durchs Haar, vollendete seinen Satz „ ... und du wolltest ihnen diesen Triumph nicht gönnen, ich weiß.” Noch einmal zog er mich näher an sich ran, drückte seine Nase in mein Haar. „Ich wusste, du verstehst das. Du kennst mich so gut!” „Ihr habt doch einen an der Klatsche!”, grummelte Stan im Hintergrund, von dem wohl auch in diesem Moment die Last der letzten Wochen abfiel. Jens und ich sahen uns an und
brachen spontan in Lachen aus, dann packte mich Jens und schaufelte mich trotz meines Protests auf seine linke Schulter, den rechten Arm legte er um seinen Sohn. „Na, Mr. Vernünftig, dann bring uns mal nach Hause. Die Kleene muss ins Bett!” Dazu zappelte ich ein bisschen, weil das wahrscheinlich erwartet wurde und grollte „He, ich kann dich hören!”, aber die Art, wie seine Hand dabei auf meinem Po lag sagte mir, dass noch nicht Schlafenszeit war … Und eigentlich hätte mein Mann mich stundenlang so tragen können. Im Jeep gab es keine wirklich gescheite Rückbank, aber für mich reichte sie, ich quetschte mich drauf und ummantelte Jens auf dem Beifahrersitz wie ein zweiter Sicherheitsgurt; es was schön zu fühlen, wie er seinerseits meine Arme fest im Griff hielt und
immer wieder mit dem Daumen über meine Haut fuhr. Die holprige Strecke war schnell geschafft und zurück auf der Landstraße ergriff Stan das Wort. „Ehrlich gesagt, konnte ich es kaum glauben, als Katy mir sagte, was es mit deiner Nachricht auf sich hat, Dad. Dass du dich auf den Weg ins Lager gemacht hast, um deine Ausrüstung zu bergen!” „Na, sie hat es vorhin ganz richtig zusammen gefasst: Es ging mir weniger um den materiellen Wert, schon eher um die bereits darauf befindlichen Bilder. Aber am meisten darum, dass ich mich von … so einem Scheiß nicht unterkriegen lassen will! Sie wollten mich brechen, aber ich lache ihnen ins Gesicht: Mit mir nicht!” „Wird das ein neuer Liedtext?”, warf ich von
hinten ein und er drehte sich um. Unter seinem Blick erschauerte ich und er sagte „Nein, eher mein neues Lebensmotto!” Dann zwinkerte er mir zu und wandte sich wieder seinem Sohn zu, erzählte, wie er im Lagerhaus auf der Suche und tatsächlich fündig geworden war. Währenddessen konnte ich es nicht lassen, zu grübeln. Was hatte er gerade damit sagen wollen?