Wenn Du mich fragen würdest:
„Was ist Dir wichtiger, Dein Leben oder ich?“
Dann würde ich antworten:
„Mein Leben.“
Du würdest gehen, ohne zu wissen,
dass Du mein Leben bist.
Die letzten Meter rollt das Auto über den Kiesweg, bis es unweigerlich am Randstreifen stehenbleibt. Ich habe den Motor bereits an der Kreuzung abgestellt, weil ich kein Geräusch verursachen will. Im Grunde ist es egal, denn das Haus steht leer, die Fensterläden sind geschlossen und nichts deutet darauf hin, dass in den letzten Monaten jemand hier gewesen ist. Wer auch?
Es ist Juni und dennoch ist das Wetter heute wieder genauso trübe, grau und kalt, wie damals, als ich dieses Haus zum letzten Mal und eigentlich für immer verlassen habe. Trotzdem möchte ich nicht wahrgenommen werden, denn es ist nicht richtig, dass ich hier bin. Nie wieder in meinem Leben wollte ich in diese Stadt kommen, geschweige denn in diese Straße und schon gar nicht zu diesem Haus. Erschöpft und müde lege ich meinen Kopf auf das Lenkrad, atme einmal tief ein und überlege, zum bestimmt einhundertsten Mal heute, warum
ich mir diese Qual antue. Warum bin ich ausgerechnet heute knapp 500 Meilen gefahren - hierher, wo damals alles begann und wo schon ein Jahr später alles endete? Warum bin ich nach dem immer wiederkehrenden Alptraum heute Morgen, diesem Impuls gefolgt, habe mich bei Nathan krankgemeldet, um mich dann ins Auto zu setzen und ohne Pause diesem Ziel nachzujagen? Viel zu schnell bin ich gefahren, obwohl ich zu keiner Sekunde wollte, dass die Fahrt endet.
Ich will nicht hier sein und doch zieht mich eine Kraft magisch aus dem Auto. Langsam, wie im Zeitlpentempo öffne ich die Autotür und verlasse die sichere Hülle meines Wagens. Schutzlos stehe ich auf der Straße und fühle mich sofort beobachtet, obwohl niemand weit und breit zu sehen ist.
Einen kurzen Moment lang strecke ich meinen schmerzenden Rücken durch, wende mich langsam dem Haus auf der gegenüberliegenden
Seite zu und sofort ergreift mich ein Schmerz, nicht geahnten Ausmaßes.
Noch kann ich umkehren und wenn ich die Nacht durchfahre, könnte ich schon morgen wieder in der Werkstatt stehen, so, als ob nichts vorgefallen wäre.
Aber ich kehre nicht um, setze mich ganz langsam in Bewegung, überquere die Straße, auf der kein weiteres Auto zu erwarten ist und bleibe schwer atmend, in sicherer Entfernung vor der verwitterten grünen Eingangstür stehen. Ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, weil zwei riesige Fäuste meine Lungen zusammenpressen - genau wie damals, vor 24 Monaten, 9 Tagen und zwei Stunden. Erstarrt heften sich meine Augen auf die Klinke, an der nach so langer Zeit noch immer ein letztes Stück des gelben Klebebandes, der untersuchenden Behörde haftet. Wie ferngesteuert zupfe ich es ab und drehe es unbewusst zwischen den Fingern zu einer
Kugel, die ich achtlos in der Jackentasche verschwinden lasse. Natürlich werde ich das Haus nicht betreten, das würde ich nicht ertragen. Trotzdem setze ich langsam Schritt vor Schritt, gehe die wenigen Meter bis zu der kleinen Gartentür, die sich geräuschlos öffnen lässt. Obwohl es windig ist und eben noch eine weggeworfene Tüte über den Gehweg flog, scheint jetzt, als ich den Garten betrete, jegliches Leben still zu stehen. Kein Lüftchen bewegt sich mehr, nur meine Schritte hallen plötzlich viel zu laut auf dem schmalen Steinweg, der am Haus vorbei, in den hinteren Teil des Gartens führt. Alles ist verwildert, die Hecke wächst grob in den Himmel, Unkraut drängt zwischen den Steinen hervor und von dem einst gepflegten Garten ist nichts mehr zu erkennen. Das Gras wächst uferlos, die Blumenbeete sind verschwunden und die seit langem unverschnittenen Bäume nehmen das letzte bisschen Tageslicht.
‚Noch kannst du umkehren‘, ertönt abermals eine Stimme in meinem Kopf und dennoch setze ich meinen Weg fort, kämpfe mich durch das hohe Gras, bis mich die Schaukel stoppt.
Die Schaukel! Die Schaukel, auf der damals alles begann ...
Als ob das alles nicht genug Qual ist, setze ich mich ungewollt auf das schmale Brett. Sofort knarzen die morschen Seile und geben etwas nach, halten mein Gewicht aber immer noch. Ein letztes Mal atme ich tief ein, stoße mich etwas vom Boden ab, so dass sich die Schaukel mit mir in Bewegung setzt und dann hebe ich den Blick. Schaue zum Haus und erschaudere. Die Fenster sind alle erleuchtet, Bewegungen dahinter sind zu sehen und wenn ich ganz genau hinhöre, nehme ich auch Kinderlachen und Gespräche wahr.
Tränen füllen meine Augen, denn ich weiß genau, dass meine Phantasie mir übel mitspielt. Natürlich sind die Fenster tot, nirgendwo strahlt
ein Licht und kein Ton ist zu vernehmen. Grau und schmutzig ist die Rückfront des Hauses und nichts – rein gar nichts lässt vermuten, dass dieses Haus einmal fast das Mekka meines Glücks geworden wäre. Unseres Glücks!
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Der "Prolog" ist eine Leseprobe.
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