Sandra kam erleichtert aus dem Gerichtsgebäude. Die Maisonne schien ihr ins Gesicht. Bester Laune beschloss sie, den Heimweg zu Fuß anzutreten. Das Wetter war einfach zu schön, um sich für die kurze Strecke in einen stickigen Bus zu setzen. Endlich war sie geschieden. Das mag für viele Menschen ein Tag der Trauer und Depression bedeuten, doch für Sandra war es eine Befreiung.
Nicht, dass sie einen schlechten Ehemann gehabt hätte. Doch Ulrich und sie hatten sich im Laufe der Jahre immer mehr auseinandergelebt. Es kam zu einer harmonischen Trennung in beiderseitigem Einverständnis. Sandra
und Ulrich waren sogar wirklich Freunde geblieben. Ihn als Menschen nicht zu verlieren, war ihr sehr wichtig gewesen. Eine richtige Freundschaft ist oft viel mehr Wert als eine Ehe, die nur noch gedankenlos vor sich hin plätschert.
Ihr Weg nach Hause führte sie am städtischen Tierheim vorbei. Lange schon hegte Sandra den Wunsch, sich endlich einen Hund anzuschaffen. Ihren Job als Grafikdesignerin übte sie im Homeoffice aus. Zwischendurch würde ihr genug Zeit für die Hundespaziergänge bleiben. Also, warum nicht?
Eine Stunde später verließ Sandra nach einigem Papierkram das Tierheim. Unterm Arm trug sie etwas Hundefutter
und einen schnauzbärtiges Terrier-Drahthaar-Gemisch namens “Watson”. Sie beschloss, mit Watson einen kleinen Umweg durch den großen Stadtpark zu machen. Der Hund erwies sich als angenehm leinenführig und lief erstaunlich folgsam, dicht neben Sandra. Sie hatte die etwas unsortiert ausschauende Fellnase gleich in ihr Herz geschlossen, und die Sympathie schien beidseitig. Im Park setzte Sandra sich auf eine Bank. Watson schnupperte an der Tüte, und sie gab ihm ein Leckerchen.
Sandra war gerade noch mit dem Hund beschäftigt, als plötzlich ein ziemlich gut aussehender Mann mittleren Alters
vor ihr stand.
Seine Hündin machte sich gleich an Watson heran, der sich nicht lange bitten ließ und der hübschen Hundedame seinerseits eindeutige Avancen machte. Sandra und der Fremde mussten beide über ihre Hunde herzlich lachen.
"Darf ich…?", fragte er und deutete auf den freien Platz auf der Bank.
"Ja sicher!"
Sie schauten einander in die Augen und es war, als kannten sie sich bereits ewig. Ein Gefühl durchflutete Sandra, das sie vorher so noch nie erlebt hatte. Sein Name war Stefan. Er war Lehrer von Beruf, hatte drei Kinder und war, ja, leider Verheiratet!
An diesem Tag wäre sie besser ganz schnell mit Watson nach Hause gegangen. Stattdessen blieb sie sitzen, gebannt von diesem Mann, der ihr sofort mitten ins Herz gegangen war.
Stefan hatte Charme, Humor und eine sehr sympathische Ausstrahlung. Er übte eine charismatische Anziehung auf sie aus. Umgekehrt war auch sie ihm nicht gleichgültig geblieben. Sie verliebten sich, obwohl sie beide wussten, es durfte nicht sein.
Monatelang trafen sie sich. Die Parkbank wurde zur stillen Übereinkunft. Nie bedurfte es einer Verabredung. Er war einfach da, und sie auch.
Erst an einem grauen Novembertag fand Sandra eine leere Bank vor. Stunden des vergeblichen Wartens folgten. Sandra wollte gerade gehen, da stand diese Frau vor ihr. “Mein Mann hatte einen Herzinfarkt. Er ist letzte Nacht verstorben. Wir haben Stefan verloren. Für immer. Sie und ich.”