Helen war immer die Erste im Büro. Chefsekretärin war ihr hochtrabender Titel, aber sie war die einzige Sekretärin von Direktor Borstedt. Seit über 17 Jahren schon. Eigentlich hätte Mädchen für alles besser gepasst, denn genau betrachtet war sie das. Und sie war es gerne. Denn insgeheim liebte sie ihren Direktor vom ersten Augenblick an. Was für ein Klischee. Kleines Büromäuschen liebt den großen Chef. Aber bei Helen und ihrem Direktor war es anders. Immer wenn sie mit ihren Freundinnen über "ihren Direktor" sprach, lachten die anderen am Tisch. "Warum sagst du es ihm denn nicht
endlich, Mädchen?" Das war nur eine der Neckereien, die Helen über sich ergehen lassen musste. "Mädchen", das war auch so eine Sache. Mädchen waren sie allesamt längst nicht mehr. Erwachsene Frauen, das waren sie. Keine war mehr unter vierzig, aber alle längst mehr oder weniger glücklich verheiratet. Bis auf Helen. Die träumte noch immer wie eine Zwölfjährige von ihrem Direktor. Sie tat alles für ihn. Anzüge aus der Reinigung holen, Krawatten auswählen, wenn er wieder mal eine besonders grässliche ausgesucht hatte, Termine planen. Gelegentlich bereitete sie ein Essen für ihn zu; sogar bei ihm zu
Hause, wenn er Gäste hatte und ein Caterer zu überzogen schien. Sie war eigentlich wie eine Ehefrau, nur ohne die Zärtlichkeiten und die Liebe, die ein Ehemann seiner Frau schenkt. Er war fast zehn Jahre älter als Helen, aber das sah man ihm nicht an. Seine Mitarbeiter mochten ihn alle. Nur eine mochte ihn etwas mehr. Nicht erst, seit die Frau des Direktors unerwartet gestorben war. Krebs mit 34, eigentlich nicht zu glauben, aber dennoch passiert. Das Loch, in das ihr Direktor dann fiel, vermochte auch Helen lange nicht zuzuschütten. Es brauchte Jahre, bis wieder ein richtiges Lächeln in seinen Augen war. Das falsche Lächeln auf den
Lippen war nur für Kunden und Geschäftspartner bestimmt. Helen aber sah immer, dass es die Augen nie erreicht hatte. Er war immer korrekt zu ihr. Nie hatte er irgendetwas Anzügliches an sich. Auch wenn sich Helen vielleicht ab und an etwas mehr gewünscht hätte. Nicht das Anzügliche! Sie wusste selbst nicht genau, was es war. Er berührte sie hin und wieder freundschaftlich. Er dankte ihr, wenn es angebracht war und zum Geburtstag und Weihnachten gab es immer schöne Geschenke. Persönlich von ihm ausgesucht. Sonst musste immer Helen alle Präsente auswählen und besorgen.
Aber der nächste Schritt kam nie. Das entscheidende Wort mehr, die eindeutige Geste. Der Wink, den Helen gebraucht hätte, um auch ihrerseits aus dem Schneckenhaus zu kommen und auf ihren Direktor zuzugehen.
Doch eines Tages lag ein Brief ganz unten im Postausgangsfach. "Helen" stand schlicht in seiner Handschrift darauf. Das war noch nie vorgekommen. Der Direktor war seit dem Morgen außer Haus und Helen erledigte wie immer ihre Arbeit. Sie öffnete den Umschlag, las den Inhalt und fiel auf den Besuchersessel, der hinter ihr stand. Tränen standen in ihren Augen, Tränen
der Freude. Der Brief begann so: "Meine treue Helen, viel zu lange schon ..." Und er endete mit: "Helen, ich liebe Sie." Der Anruf wurde fünf Minuten später von der Zentrale direkt in das Büro des Direktors weitergeleitet, in dem Helen noch immer mit dem Brief in der Hand saß. Sie sah aus dem Fenster und war glücklich. Als sie das Gespräch annahm, waren ihre Augen wieder trocken. "Ja bitte, Büro Direktor Borstedt?", meldete sie sich wie gewohnt. "Hauptkommissar Wagner ist mein Name, drittes Revier. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass es einen Unfall gegeben
hat. Vor circa einer Stunde wurde der Mercedes, der auf Ihre Firma zugelassen ist, von einem LKW gerammt. Der Fahrer und der Passagier im Fond waren beide sofort tot. Können Sie mir sagen, wer zu dem Zeitpunkt im Wagen gesessen hatte?" Helen lies den Hörer fallen und wieder standen Tränen in ihren Augen.