Allein zu zweit
„Dad, das kann doch jetzt nicht dein Ernst sein!“ Enttäuschung und eine Spur Verzweiflung schwangen in Nellys Worten mit. „Alle dürfen mit! Wie stehe ich denn da, wenn ich absagen muss? Ich habe mich schon so auf das Wochenende gefreut!“ Jetzt lief auch noch eine Träne über ihre Wange und ihr Gesicht glich einem moralischen Trümmerfeld.
„Schatz…“
„Komm mir jetzt nicht mit Schatz! Das ist doch immer die gleiche Leier!“, wurde ihre Stimme lauter.
Ben seufzte überfordert. Am liebsten hätte er jetzt das Weite gesucht, aber er musste sich, wie so oft in den letzten Monaten, der Situation stellen.
Wenn doch nur Maja hier wäre. Maja löste solche Probleme mit einem Lächeln, aber … Maja war nicht hier. Wie sehr er sie doch
vermisste. Nicht nur bei der sogenannten Erziehung von Nelly. Sie fehlte einfach an jeder Stelle seines Lebens. Die Gespräche, ihr Lachen, ihre Zärtlichkeit. Einfach alles.
„Sag doch bitte ja, Dad!“ Mit geänderter Strategie bettelte Nelly inzwischen mit einem Blick, der dem eines Dackels in nichts nachstand.
„Wenn ich ja sage, reißt mir Mom irgendwann den Kopf ab. Willst du das?“, versuchte er die Situation aufzuheitern.
Leise murmelte sie: „Sie muss es ja nicht erfahren.“ Ben schüttelte nachdenklich den Kopf.
Zum Glück für ihn, summte Nellys Handy und nach einem schnellen Blick auf das Display verschwand sie leicht errötend nach draußen auf die Terrasse.
Warum war das alles nur so schwer? Und warum hatte Maja ihn allein gelassen? Die
Frage kreiste nun seit sieben Monaten in seinem Kopf und die Antwort war ihm immer noch nicht wirklich klar.
Sie liebten sich doch, konnten sich alles sagen und es knisterte noch wie am ersten Tag. Vielleicht war sie zu lange daheim gewesen, vielleicht vermisste sie die Aufregung, die er als Chefredakteur einer großen Tageszeitung fast täglich erlebte. Oder hatte sie Angst, irgendetwas zu verpassen? Leicht war das Leben an seiner Seite sicher nicht. Immer stand nur er im Mittelpunkt, sie nie. Er hatte gar nicht mehr bemerkt, dass sie ihn schon lange nicht mehr begleitete, wenn er Termine in der Öffentlichkeit wahrnehmen musste. Jetzt bereute er, was im Moment nicht mehr zu ändern war und er hoffte inständig, er würde die Chance bekommen, irgendwann alles anders zu machen.
Er erinnerte sich noch ganz genau an den Tag
vor sieben Monaten. Etwas zu spät aufgestanden, rannte er hektisch die Treppe hinunter. Maja war, wie an den meisten Wochentagen, schon vor ihm aufgestanden. Nur am Wochenende gönnten sie sich das gemeinsame Aufwachen und das dann richtig. In der geräumigen Wohnküche war nicht, wie üblich der Frühstückstisch gedeckt, stattdessen lehnte ein Koffer an der Tür. Nelly kam, ebenfalls etwas verspätet aus ihrem Zimmer und blieb nun, gemeinsam mit Ben, wie angewurzelt vor Maja stehen.
„Ben, Nelly …, ich liebe euch über alles und ich schwöre, dass ich zurückkomme“, sagte sie deutlich aufgewühlt, mit belegter Stimme. „Aber ich brauche eine Auszeit, ich brauche Zeit, um zu erkennen, wer ich bin. Ich habe mich selbst verloren, muss mich wiederfinden. Das kann nur ich tun, nur ich allein. Ich weiß, ihr seid ein super Team und schafft das ein Jahr ohne mich.“ Die plötzlich eingetretene Stille
legte sich wie Eis über die Drei.
Sie nahm Nelly lange in den Arm, strich über ihr Haar und flüsterte: „Ich bin stolz auf dich!“
Den völlig überforderten Ben küsste sie leidenschaftlich. Die Anwesenheit ihrer fünfzehnjährigen Tochter war nie ein Hindernis gewesen. „Ich liebe dich! Bitte glaube mir! Ich muss das tun! Pass auf unseren Schatz auf, bitte!“
Sie ging einfach so. War plötzlich weg.
Ben und Nelly hatten sich, ohne es selbst zu bemerken, in den Arm genommen und schauten dem Auto hinterher, welches Geliebte, Frau, Mom und Freundin mit sich nahm.
In einem Brief hatte sie etwas mehr erklärt. Sie war ein Jahr lang irgendwo in Afrika, bei Ärzte ohne Grenzen. Es gab eine Telefonnummer, für absolute Notfälle und nur dafür! Sie vertraute den Beiden, liebte sie und wusste, sie würden es schaffen – alle Drei.
Ben hatte nie bemerkt, wie sehr sie ihren Beruf
wohl vermisst hatte. Dachte immer, es wäre ihr großes Glück, an seiner Seite Mom und Frau zu sein. Wie konnte er sich nur so irren und warum war er nur so blind gewesen?
Warum hatte sie nie etwas zu ihm gesagt? Vielleicht hatte sie ja und er es nur nicht wahrgenommen?
Nelly riss ihn aus seinen Gedanken.
„Bitte Dad! Ich brauche eine Antwort!“ Mit einer Hand hielt sie ihr Handy von sich fern und schaute ihn flehend an.
„Okay. Grünes Licht!“, gab er nach. Es war ja auch für sie, oder besonders für sie nicht leicht. Nelly fiel ihm um den Hals, warf ihn fast um in ihrer Freude und gab ihm einen lauten Kuss auf die Nase.
„Daddy, du bist mein Held!“, jauchzte sie und verschwand wieder mit ihrem Telefon im Garten.
Maja würde sauer sein, ihr Mädchen war doch
viel zu jung für Unternehmungen dieser Art, aber mit leichtem Groll verteidigte er sich selbst. Sie war ja gegangen und hatte ihn verlassen. Er war es nicht, der seine Tochter in der schwierigen Zeit des Erwachsenwerdens verlassen und allein gelassen hatte. Obwohl – allein war sie ja nicht.
„Dad, ich bin doch schon fünfzehn, ich kann auf mich aufpassen! Wir wollen doch nur zelten und wir sind viele. Meg und Cathy sind doch auch dabei! … Dad?“
Verflixt, er hatte zugesagt und spontan schlich sich ein Grummeln in seinen Magen. Nelly hatte ihre Arme um seine Hüfte geschlungen und obwohl es sich falsch anfühlte, spürte er so etwas wie Trost.
“Baby! Du bist doch mein Baby!“, schluckte er hörbar. „Hab ein schönes Wochenende und wenn dich jemand anfasst, will ich ihn Montag ohne Zähne sehen. Klar?“
Resigniert wendete er sich ab, lief ziel- und
planlos vom Wohnzimmer zur Küche, von dort auf die Terrasse, wischte gedankenverloren über den Tisch.
Waschen, Hausputz und anschließend Einkaufen würden ihn hoffentlich auf andere Gedanken bringen.
Es war wirklich schwer, bei dieser Gratwanderung nicht abzustürzen. Er gönnte Nelly jeden Spaß, er war ja schließlich auch kein Kind von Traurigkeit gewesen. Aber er als Mann, oder damals als Junge, hatte es einfacher. Wenn seinem Schatz, seiner Motte etwa passierte … Gänsehaut kroch über seinen Rücken.
Er kannte die Jungs, mit denen Nelly Kontakt hatte - eigentlich alles nette Kerle. Aber er wusste auch, wie diese Treffen abliefen. So lange war es ja nicht her, als er selbst Wochenenden dieser Art organisierte. Und er wusste aus eigener Erfahrung, wie schnell aus diesem Spaß bitterer Ernst wurde. Vinc, sein
großer Sohn, inzwischen 24 Jahre alt, war das Ergebnis eines solchen Wochenendausflugs. Er liebte ihn von Herzen und ihr Verhältnis war in den letzten Jahren immer besser geworden. Aber leider hatte er ihm die ersten Jahre seines Lebens nicht das Familienleben bieten können, das er ihm gewünscht hätte.
Unruhig lief er hin und her. Die Hausarbeit konnte ihn nicht ablenken und die zunehmende Vorfreude seiner Tochter trug auch nicht zu seiner Beruhigung bei.
Seine Gedanken kreisten um Maja.
Was würden sie anders machen müssen, wenn sie wieder zurückkam. Würde sie überhaupt zurückkommen? Er vermisste sie so. Was würde er dafür geben, wenn er sie jetzt im Arm halten könnte. Hatte er dieses Gefühl auch verspürt, als sie jeden Tag hier war? War aus Liebe Routine geworden? War das der Grund dafür, dass Maja gegangen
war?
Nelly hatte sich, dem Anschein nach, schneller mit dem Verschwinden ihrer Mutter abgefunden. Ben und sie waren ja schon immer das Familien-Dream-Team gewesen. Wenn eine Puppe kaputt war, blieb sie so lange wach, bis er von der Arbeit kam. Von ihrer ersten großen Liebe, mit sieben, erzählte sie zuerst ihm. Und als sie mit vierzehn ihren ersten Kuss bekam, war er es, der als erster davon erfuhr. Vielleicht konnte Maja auch nur deswegen einfach so gehen?
Er musste und wollte Nelly vertrauen, sie hatte es verdient. Er schlich von hinten auf sie zu und nahm sie in den Arm. Tief atmend wickelte er sie mit seinen kräftigen Armen ein.
„Dad! Ich ziehe nicht nach New York, ich gehe nur eine Nacht zelten. Meine Freundinnen sind dabei und du bist der einzige Typ, den ich wirklich liebe.“ Auch sie hatte ihre Arme hinter
seinem Rücken verschränkt.
Er hauchte einen Kuss auf ihren Scheitel. Sie war fast so groß wie ihre Mom.
„Ich vermisse sie auch. Sie kommt zurück, ganz bestimmt Daddy. Was würde sie denn ohne uns tun?“
Keiner der beiden wollte sich in diesem Moment vom anderen lösen.
Ben dachte an Maja und auch Nellys Gedanken drehten sich um ihre Mom.
Noch als er sie im Arm hielt, befiel ihn urplötzlich Panik. „Du weißt aber wie Verhütung funktioniert?“, fragte er etwas verlegen.
Nelly schaute ihm verwirrt in die Augen. „Hallo? Ich bin fünfzehn! Was denkst du denn, was wir da vor haben? Dad, langsam machst du mich irre!“ Sie hatte die plötzlich peinliche Situation besser im Griff, als er.
„Gut, das wäre dann wohl geklärt“, räusperte er sich immer noch etwas
unsicher.
„Genau! Und wenn du jetzt mit Bienchen und Blümchen anfängst, laufe ich schreiend durch das Viertel. Daaad!“ Augenrollend und sichtlich amüsiert löste sie sich aus der Umarmung.
„Ich weiß ja nicht, was du mit fünfzehn alles getrieben hast, und bitte verschone mich mit Details, ich habe jedenfalls nur vor, am Lagerfeuer zu sitzen, Unmengen Blödsinn zu quatschen und so wenig wie möglich zu schlafen.“
Sein Baby, seine kleine Tochter war groß geworden und ein Gefühl der Wärme durchströmte ihn.
Wehmütig dachte er an die Zeit, als Nelly ein Jahr alt war. Sie waren alle drei zum Zelten in die Berge gefahren. Der kleine Krümel gönnte ihnen keine romantische Nacht. Im stündlichen Abstand war sie hellwach und äußerte lautstark
ihre ganz persönlichen Wünsche.
Sie hatten sich unter der aufgehenden Sonne geliebt, nachdem die kleine Maus endlich wie ein Stein schlief.
Auch an ihren Schulanfang musste er plötzlich denken. Sie war so hübsch! Maja und er betrachten diesen Tag mit gemischten Gefühlen. War er doch ein bedeutender Meilenstein auf dem Weg ins Leben.
Beide wussten nicht sicher mit ihren Empfindungen umzugehen, aber als Nelly, stolz wie eine Oskarpreisträgerin, mit ihrer Schultasche aus dem Gebäude kam, siegte die Freude.
Jetzt würde sie also mit Freunden eine Nacht verbringen. Ohne seinen Schutz, allein auf sich gestellt. Mit Jungs in ihrem Alter. Schon wieder kroch Kälte seinen Rücken hoch.
„Daddy, ich bin soweit. Wenn du dich verabschieden möchtest, dann bitte hier drin.
Draußen warten Mike und Tom“, rief sie ihm lachend, mit einem entschuldigenden Blick von der Treppe zu. Rings um sie herum flogen ein Schlafsack, eine Sporttasche und eine Wolldecke die Treppe hinunter. Unten angekommen, stand sein Mädchen, unendlich glücklich in diesem kleinen Durcheinander und breitete die Arme aus.
„Danke Daddy!“, flüsterte sie an seinem Ohr und schnuffelte sich in seine Halsbeuge.
„Viel viel Spaß meine Große und …“
„Ich weiß“, grinste sie ihn an.
Und dann stand er allein in seinem riesigen Haus, strich sich nervös mehrmals durch die Haare und suchte krampfhaft nach einer Tätigkeit, die ihn ablenken würde.
Natürlich konnte er nicht schlafen. Auf jedes Geräusch lauschend, lag er wach, wälzte sich hin und her und versuchte, alle Gedanken an das Zeltabenteuer zu verdrängen. Er wollte jetzt
nicht allein sein, wünschte sich Maja an seine Seite.
Langsam verließ er das viel zu große Bett, ging zur Pinnwand und schaute im Gedanken versunken auf das kleine Hochzeitsbild, das Maja in eine Ecke gesteckt hatte. Entschlossen zog er ihre Telefonnummer aus der Folie. Die heutige Nacht war ein Notfall!
Nur ein Klingelzeichen und sie nahm am anderen Ende ab. Ihre Stimme zu hören, war genau das, was er jetzt am Nötigsten hatte.
„Ben! Sag mir zuerst, dass nichts passiert ist … und dann sag mir bitte, dass du mich genauso vermisst, wie ich dich.“
© Fliegengitter