Eines Morgens erwachte der Briefträger Günther Lutz, von schweren Schmerzen geplagt. Er drehte seinen Körper und stieg aus dem Bett. Einige Stellen seines Rückens brannten; er tastete die Stellen ab, sie fühlten sich rissig und uneben an. Deshalb streifte er sein Oberhemd ab und stellte sich vor den Spiegelschrank in seinem Schlafzimmer.
Sein Rücken war von großen, dunklen Narben übersäht. Die Angst befiel ihn. War das nun die Strafe Gottes, weil er gesündigt hatte? Oder lag es daran, dass er diesem schäbigen Neger die Hand geschüttelt hatte, diesem Otto aus Ghana, oder Kenia, oder sonst wo? , dachte er bestürzt bei sich.
Er mochte sie nie, diese farbigen Menschen, die so sprachen, dass er sie nicht verstand. Die so ausgesehen haben wie eine Tafel Schokolade, oder die mit den Augen, so geformt wie Mandeln. Asiaten. Oder diese Indianer, oder Zigeuner, sie alle machten ihm Angst, denn sie unterscheiden sich doch sehr von ihm. So mussten sie wohl auch sehr anders denken als er.
Umso mehr schockierte ihn der Anblick seines Rückens, der nun an das Fell eines Zebras erinnerte; seine weiße Haut, bedeckt mit großen schwarzen Streifen.
Mühsam zog er sich ein Hemd an. Es dauerte zwar lang, denn der Schmerz flammte immer wieder stärker auf als zuvor, doch nach einer Weile war sein Oberkörper vollends mit dem Stück Stoff bedeckt.
Sein erster Gedanke war zunächst, der Arbeit für heute fern zu bleiben, jedoch wollte er nicht wehleidig wirken. Wenn jemand meinen Rücken sehe, dachte er, gäbe es schon genug Gesprächsstoff für die Kollegen. Wie jeden Morgen war er auch damals in den Bus gestiegen. Ihn durchfuhr ein merkwürdiges Gefühl, als er dem schwarzen Fahrer in die Augen sah. Diese Leere, dachte er. Die Augen dieser Menschen haben nichts zu erzählen.
Er presste sich in einen Sitz, doch der Schmerz ließ es nicht zu, dass er sich nur einen Moment lang entspannen konnte.
Als er das Ziel erreicht hatte, hätte er am liebsten einen Freudensprung gemacht. Er vermied jeden Kontakt zu den anderen Angestellten, wie er auch jeglichem Kontakt zu den Kunden ausgewichen war.
Alle Briefe, die er nicht auf Anhieb hatte zustellen können, warf er in einen öffentlichen Mülleimer. So etwas wäre ihm früher nie und nimmer in den Sinn gekommen, nur war ihm heute nicht danach, eine Diskussion mit irgendwelchen Leuten abhalten zu müssen.
Am Abend stellte er sich wieder vor den Spiegel. Er hatte den Tag über nichts gegessen, weil er nicht hungrig gewesen war. Mit seinen Augen tastete er wieder und wieder das Bildnis seines Rückens ab, was ihm mehr und mehr abstoßend vorkam. In dieser Nacht schlief er nicht, der Schmerz verstärkte sich stündlich. Er lag im Bett und drehte sich hin und her. Dann aber am frühen Morgen, als er wieder in den Spiegel blickte, musst er neben dem starken Schmerz auch die vermehrten Narben entdecken. Nun umschlangen sie bereits den Großteil seines Rückens, vom Nacken abwärts bis hin zu den hinteren Oberschenkeln. Er bekleidete sich mit einem Rollkragen-Pullover, damit niemand sein Leid entdecken konnte.
Seinem Vorgesetzten sagte er später, er habe sich eine Erkältung eingefangen und trug ihn nur zum Schutz des beanspruchten Halses.
Als er am Abend wieder vor dem Spiegel stand, brach er in Tränen aus. Auch Brust und Hals, Teile der Schultern und Arme und ein großer Teil seiner Beine waren nun damit bedeckt. Auf seinem Rücken entdeckte er nur noch wenige Stellen, die nicht befallen waren. Er fragte sich, ob sein Hausarzt über seine Veränderung lachen würde. Das muss doch einzigartig sein, was mit mir geschieht, glaubte er verzweifelt.
Noch niemals hatte er von einer Hautkrankheit erfahren, die so wie diese war. Noch müde von der letzten Nacht, schlief er jetzt tief und fest. Zufrieden wachte er am nächsten Morgen auf, hielt das Vergangene bloß für einen absurden Traum. Als er auf seine Arme blickte, traf ihn beinahe der Schlag. Sie waren schwarz gefärbt, bis hin zu den Fingern. Er sprang ungläubig aus dem Bett. Hastig zog er all seine Sachen aus und betrachtete den nackten, endlos schwarzen Mann im Spiegel. Träumte er noch? Definitiv nicht, doch er glaubte nicht an das, was er sehen musste. Nein, er glaubte, verrückt geworden zu sein. Trotz des Ekels vor sich selbst, zog er sich hastig seine Sachen über und rief bei seiner Dienststelle an. Er sagte, dass aus der leichten Erkältung ein starker Infekt geworden sei. Daraufhin rief er bei seinem Hausarzt an, den er für einen Hausbesuch „bestellte“.
Etwa zwei Stunden darauf erschien Dr. Müller in seiner Wohnung. Freundlich wie eh und jäh, hörte er sich die Probleme seines Patienten an.
>> Herr Doktor, es geschah vor zwei Tagen. Ich wachte am Morgen mit Schmerzen auf und sah, dass sich so etwas wie Narben auf meinem Rücken gebildet hatten. Und jetzt, also seit heute Morgen, ist meine ganze Haut schwarz gefärbt. Bitte helfen sie mir! <<
Er stützte seinen Kopf auf seine Handflächen und unterdrückte die aufkommenden Tränen. Der Doktor legte seine Hand auf Günthers Schulter, allerdings wusste dieser nicht, etwas Aufmunterndes zu seinem Patienten zu sagen.
Günther Lutz kam ihm nicht bekannt vor, doch er war sich sicher, dass dieser mit seiner dunklen Hautfarbe zur Welt gekommen war. Einen Moment lang dachte er über das nach, was sein Patient gesagt hatte, und nur mit großen Mühen konnte er ein bellendes Lachen unterdrücken. Vor seinem inneren Auge sah er sich selbst, wie er mit dieser dunklen Haut vor einem Spiegel stand. Von heute auf morgen zum schwarzen Mann, dachte er, wie kommt dieser Mann nur auf so etwas.
>> Hören Sie, Herr Lutz, ich weiß, andersartige Menschen haben in Deutschland manchmal Probleme mit den Mitmenschen. Deshalb dürfen sie aber ihre Herkunft nicht verleugnen. Schauen sie sich an. Sie sind nun mal so, wie sie sind. <<
Er griff in seinen Koffer und notierte eine Nummer auf einem kleinen Zettel.
>> Dies hier ist ein netter Kollege von mir. Er ist Psychologe und kann ihnen helfen, wieder zu sich selbst zu finden. <<
Wieder griff er in den Koffer und holte eine Packung Tabletten heraus.
>> Und die hier sind gegen ihre Schmerzen. Kopf hoch, es wird schon wieder. <<
Günther sah ihn in der ganzen Zeit abwesend an, während in seinem Kopf folgendes Szenario ablief: er lebte sein Leben wie immer, akzeptierte seine gegenwärtige Situation. Denn ihm wäre ohnehin nichts anderes geblieben, wenn diese Krankheit unheilbar war, fand er sich eher unbewusst damit ab. Die Worte des Arztes gingen vollkommen an ihm vorbei. Er hatte nicht einmal bemerkt, als Dr. Müller seine Wohnung verlassen hatte.
Den ganzen Tag lang verharrte er so, dachte weiter über sein Schicksal nach. Er dachte auch an seinen Mitarbeiter Otto und den Busfahrer. Jetzt war er ihr Bruder, glaubte er. Jetzt verband ihn die Hautfarbe mit ihnen. Unbewusst schlich er zum Spiegel und betrachtete sich darin. Am Morgen noch fühlte er Hass wegen der eigenen Andersartigkeit. Doch in diesem Moment schien er diesen Gedanken verloren zu haben. Nun glich er diesen Menschen, die nicht mehr fremdartig waren. Er war genau wie sie, dachte er. Inwiefern hätte er jemanden hassen können, der wie er selbst war, geschweige denn sich höchst selbst?
Draußen war es dunkel, denn es war bereits Nacht. Er ergriff seinen Mantel und die Wohnungsschlüssel und ging nach draußen. Innerlich war er ruhig und voller Frieden. Er hatte akzeptiert, was geschehen war. Vielleicht war dies Gottes Fügung. Wir alle sind Geschwister, dachte er.
Er genoss diesen Nächtlichen Spaziergang. Sein Gang war nicht mehr so hölzern und abgehackt wie früher, was er auch selbst bemerkte. Sein Geist ruhte nun in einem athletischen Körper.
Wenige Leute begegneten ihm und er lächelte sie friedvoll an. Nachdem er sich und die Welt jahrelang für alles und nichts verachtete, war dies der erste Moment wo er glücklich mit sich selbst war. Günther verstand nicht warum, doch er beließ es dabei.
Vor einer Kneipe auf der anderen Straßenseite standen vier angetrunkene junge Männer, die ihn aufmerksam beobachteten und Dinge riefen, die Günther nicht verstand. Er blickte zu ihnen und lächelte. Sie lächelten nicht zurück. Mit schnellen Schritten liefen sie auf ihn zu. Alles ging sehr schnell. Günther blieb keine Chance, die Flucht zu ergreifen, noch nicht einmal, sich wenigstens zur Wehr zu setzen. Sie prügelten einfach so auf ihn ein und er ließ es über sich ergehen. Mit blanken Fäusten und auch mit Schlagringen versehen, prügelten sie auf ihn ein. Er ging zu Boden und spürte die Tritte der mit Stahlkappen versehenen Doc Martens’. Er hörte sich brüllen und schreien vor Schmerzen. Und das letzte, woran er gedacht hatte, war:
>> Jetzt weiß ich, was viele meiner Brüder erleiden mussten und noch immer müssen. Gott schütze sie, schütze sie alle. Mich auch. <<
Er schloss die Augen und einen Moment später hatten sie aufgehört. Ihm kam es vor, als hätte er Stunden dort gelegen, bis ein Krankenwagen kam und die Sanitäter seinen blutüberströmten Körper auf die Bahre luden.
Er überlebte den Angriff, allerdings waren die Verletzungen fatal. Kaum das er sein neues ICH akzeptierte, musste er solche Qualen erleiden. Doch er empfand keinen Hass für die Täter. Sie waren dumm, dachte er. Und er erinnerte sich daran, dass er noch gestern von Dummheit geprägt war. Jetzt war diese Dummheit von ihm gewichen und er empfand es als gut. Er musste niemanden hassen, niemand müsste überhaupt hassen. Jeder war so wie er war. Diese Worte seines Hausarztes lagen plötzlich wieder in seinen Ohren. Und er verstand den Sinn dieser Worte. Es gab keinen Grund, nicht mit sich in reinem zu sein. Also gab es auch keinen solchen Grund, wenn er andere Menschen betrachtete. Die Welt ist voller Fehler, weil sie voller Menschen ist. Trotzdem ist sie wunderschön, empfand er, wie er es nie zuvor betrachtet hatte. Endlich ergab für ihn vieles einen Sinn. Und der seines Lebens bestand für ihn darin zu entdecken, was er nie zuvor entdeckt hatte, oder gar nicht entdecken wollte. Und er dachte an seine vielen Brüder und Schwestern, die er nie als solche empfunden hatte. >> Jetzt <<, dachte er bei sich, >> ist es an der Zeit, in die Welt zu ziehen und meine Leute kennen zu lernen. Und ihnen zu helfen, sich selbst zu finden, wie ich mich selbst gefunden habe. <<
Und er lernte sie im Laufe der Jahre kennen, und er half ihnen, den Weg zur Toleranz zu finden, und er zeigte ihnen den Sinn, der in ihren Leben ****.
Und er lebte den Rest seines Lebens mit Freuden, weil er erkannt hatte, dass Fremdartigkeit nirgendwo existiert. Wir alle sind Menschen und wir tun und denken alle dasselbe. In uns sind wir alle schwarz und gelb und rot und weiß. Und wenn wir ganz genau hinsehen, können wir das auch in allen Menschen um uns herum entdecken. Und wir verstehen dann vielleicht auch die Geschichten, die uns in ihren Augen begegnen.
- Ende -