Die Steine auf meinem Weg
oder
Der Fusselteppich, auf dem ich liege
Entstanden aus der Idee heraus,
um ein Zitat herum eine
Kurzgeschichte zu schreiben.
(Wie immer - frei erfunden und ohne Bezug zur Realität)
Auch aus Steinen, die einem
in den Weg gelegt werden,
kann man etwas Schönes bauen
Johann Wolfgang von Goethe
„Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man etwas Schönes bauen.“
Meine Mom war schon immer eine sehr aufgeräumte, vergnügte und unbeschwerte Person. In ihrem Leben lief scheinbar irgendwie immer alles von unsichtbarer Meisterhand geplant und mich wundert es nicht im Geringsten, dass dieser Spruch einer ihrer Leitfäden war und ist.
Ein zweiter lautet: „Wer schwankt, hat mehr vom Weg.“ Nicht ganz so klassisch, wie der von Johann Wolfgang Goethe aber dennoch von untrügbarer Wahrheit.
Eigentlich könnte ich sie wieder einmal anrufen aber ich hatte mir vorgenommen,
nachzudenken. Gründlich nachzudenken! Darum liege ich schon seit dreißig Minuten wie ein Maikäfer auf dem Rücken, alle Viere von mir gestreckt und versuche, meine Gedanken zu sammeln. Dass mir das nicht gelingt, liegt wohl an den Anzahl und Größe der Steine, die auf meinem Weg herumliegen und in Wirklichkeit keine Steine, sondern Felsbrocken sind. Felsbrocken, was sage ich da - im Grunde sind es ganze Felsen, also nicht nur Brocken. Und die hindern mich im Moment oder eigentlich schon das ganze letzte Jahr daran, nach vorn zu schauen. Sie versperren mir dreist den Blick auf meine glückliche Zukunft, machen mich handlungsunfähig und
verwirren mich immer wieder aufs Neue.
Warm spüre ich die Fußbodenheizung unter meinem Rücken und kuschelig den Fusselteppich, den mir Christian vor acht Monaten, in Verbindung mit einem verführerischen Dackelblick, in mein Wohnzimmer legte. Wenn ich nachdenken will, liege ich immer auf dem Boden, speziell an dieser Stelle. Seit acht Monaten nun also auf dem Teppich mit den langen Fäden, die Herr Brucker - mein Kater - mindestens dreiundzwanzig Stunden von den vierundzwanzig des Tages animieren, mit spitzen Füßen und ausgefahrenen Krallen, diese einzeln zu ziehen, wie ein Doktor acht Tage nach einer erfolgreichen Blinddarm-Operation.
Auch jetzt liegt Herr Brucker neben mir, stubst immer wieder mit seiner feuchten Schnute an meine Hand, was einer eindeutigen Aufforderung, ihn zu kraulen, gleichkommt.
Wie soll ich da nachdenken können? Meine Mom und ihre Sprüchen im Kopf, Herr Brucker mit seiner feuchten Schnauze neben mir und der Fusselteppich von Christian unter mir.
Christian verstand den Teppich als Investition in die Zukunft. Als er mir den Heiratsantrag machte, lagen wir auch hier und er wollte sein Ansinnen sogleich mit einer intensiven Familienplanung verbinden. Was mich störte war seine Aussage: „Die Familie ist mir egal, aber
das Gründen macht enorm Spaß!“ Dass er noch während er das sagte, bereits die Knöpfe seiner Jeans öffnete, ließ mich die Notbremse ziehen. Der Mann muss eindeutig noch einige Jahre auf die Weide, auch wenn er kalendermäßig vier Jahre älter ist als ich. Das mit der Weide hat er mir übel genommen, aber ab und zu kommt er trotzdem noch. Also zu mir, nicht mit mir.
Und schon kreisen meine Gedanken um Robert, der diesbezüglich im Moment weit mehr Privilegien besitzt und benutzt. Aber Robert ist Anwalt, äußerst pingelig und würde niemals im Leben, auch nur ansatzweise, über Familiengründung auf einem
Fusselteppich nachdenken. Dafür legt er seine Hose auf Falte über den Stuhl und durchsucht die komplette Wohnung nach einem Bügel für sein knitterfreies Sakko, ehe er bereit ist, sich meiner ebenfalls knitterfreien Haut zu widmen.
So brettgerade auf dem Teppich zu liegen, zollt seinen Tribut. Mein Hals wird starr, mein Genick beginnt zu schmerzen und ich angele mir ein Kissen vom Sofa. Wieso schaffe ich es heute einfach nicht, über meine Probleme und die Steine auf meinem Weg nachzudenken? Sie sind ja schließlich der Grund für meine käferhafte Lage auf Fusseln.
Vielleicht liegt es daran, dass sich von
hier unten erstaunlich die Perspektive verändert? Jeder, der Probleme hat - oder Steine auf seinem Weg - sollte sie einmal aus so einer umgewandelten Position betrachten. Manche Dinge verschieben sich dann ganz unweigerlich. Manches wird kleiner, manches größer und diverse Sachen sieht man einfach gar nicht mehr. Dafür bekommt man Klarheit für ganz andere Belange und ich staune immer häufiger darüber. Das ist praktisch und manchmal wünschte ich mir, mein Leben immer aus dieser Aussicht zu bestreiten. Vielleicht sind meine Sorgen gar nicht wirklich groß oder überhaupt nicht real? Unter Umständen könnte ich sie ja auch als Chance betrachten. Ich würde nicht
so weit gehen wie meine Mom, die jetzt sofort wieder Johann Wolfgangs Spruch auf Lager hätte, nachdem man, aus in den Weg gelegten Steinen etwas Schönes bauen könne. Aber vielleicht hat sie ja doch recht und es ist alles nur eine Frage der Anschauung?
Wenn ich könnte, würde ich sie jetzt anrufen. Aber ich habe das Telefon nicht mit auf die Fusseln genommen und meine Position verlassen möchte ich auch noch nicht. Ich denke über meine Mutter nach und überlege, warum sie es schafft und immer geschafft hat, alles mit dieser Leichtigkeit zu bewältigen. Sie hat alleinstehend meine drei Geschwister und mich zu mehr oder weniger
wohlgeratenen Persönlichkeiten erzogen, es gab immer ein offenes Ohr, immer etwas Gutes zu essen und Spaß ohne Ende. Mom hat nie die schwierigen Stunden gezeigt, die es ganz bestimmt auch gab, hat uns nie an ihren Sorgen beteiligt und ganz plötzlich frage ich mich, was ich hier eigentlich gerade mache. Ich versuche, meine Probleme zu sortieren, die Felsbrocken umzuschichten und meine Ärgernisse zu definieren. Und ganz nebenbei versuche ich auch, meinen Fusselteppich zu retten. Gegen seinen Willen zerre ich Herr Brucker auf meinen Bauch, besteche ihn durch Dauerkraulen zwischen seinen großen Fledermausohren und bewege ihn so
dazu, seine Augen zu schließen und schnurrend ins Kater-Traumland zu entschwinden.
Plötzlich möchte ich gar nicht mehr über die Steine auf meinem Weg nachdenken. In der letzten Stunde sind sie geschrumpft und liegen nun nur noch als Krümel auf meinem Weg, die allenfalls unter meinen Schuhsohlen knirschen würden. Es sind keine wirklichen Probleme, die ich habe. Mir ist es nur erfolgreich gelungen, sie durch meine Grübeleien anwachsen zu lassen, bis sie mir wie große Brocken vorkamen. Genau betrachtet geht es mir sehr gut. Mal ganz davon abgesehen, dass ich die Sache mit den Bügelfalten an Robert ändern sollte
…
Es ist eben alles nur eine Sache der Betrachtung. Oder wie würde meine Mom jetzt sagen: „Wer die Welt positiv sehen kann, der hat die meisten Probleme schon gelöst.“
© Memory 2015