Brigitte Wolters verlässt das Haus, das sie und ihr Mann, Werner Wolters, seit achtzehn Jahren bewohnen. Sie ist nur spärlich bekleidet, sie trägt, obwohl es schon Mittag ist, nur einen Morgenmantel, unter dem lediglich die Unterwäsche ihre Blöße bedeckt, und bewegt sich in Richtung des Briefkastens. Dort angekommen öffnet sie ihn, sieht, dass keine Post gekommen ist, schließt ihn wieder und stapft zurück zum Haus. Sie schließt die Tür, streift sich den Morgenmantel ab, wirft ihn in eine Ecke, und sagt: "Keine Post, Werner."
Werner Wolters, der die ganze Zeit über auf dem Sofa gelungert hat, während im TV eine Sendung gelaufen ist, die in ihm das Gefühl hergerufen hat, dass er immerhin noch nicht so heruntergekommen ist, wie die Darsteller in diesem angeblichen Reality-TV-Format, blickt auf, sieht seine Frau dort vor der geschlossenen Haustür stehen, bemerkt, wie wenig ihn ihr spärlich bekleidetes Äußeres reizt, seufzt, und
sagt: "Jo."
Brigitte geht zum Sofa und setzt sich nebem ihn. Die Sendung, die im Fernsehen läuft, nimmt auch bald ihre gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch, und so sitzt sie längere Zeit einfach nur da.
Wir können sehen, wie dort, im Fernsehapparat, eine junge Frau ihrem ebenso jungen Freund sagt, dass sie ihm nie verzeihen wird, dass er mit dieser Schlampe herumgemacht hat. Brigittte nickt zustimmend, sie kann die junge Frau vollkommen verstehen, auch sie würde ihrem Freund, oder in diesem Fall, ihrem Mann, nie verzeihen, würde er mit einer anderen Frau, einer Schlampe, was ihrer Meinung nach natürlich alle Frauen, die mit verheirateten Männern etwas anfingen sind, fremdgehen. Werner würde es schon reizen, mit einer anderen Frau intim zu werden, denkt er, während er die Sendung schaut; besonders mit so einem jungen Ding wie dieser Frau, die dort im Fernsehen die vermeintliche Schlampe spielte; er malt sich aus,
was er mit ihr alles veranstalten würde, wie er ihr zeigen würde, zu was sein Körper noch fähig ist, er würde ihr zweifelloss klarmachen, dass er, Werner Wolters, ein Mann ist, der weiß, wo der Hammer hängt, ein Mann, der ihr beibringt, was es heißt, eine Frau zu sein. So ein junges Ding weiß doch gar nicht, was ein gestandener Mann wie er, Werner Wolters, ihr für Gefühle bereiten kann; nicht reden würde er, denkt er sich, er würde gleich zur Sache kommen, ihr ohne Vorgeplenkel klar machen, wer, metaphorisch gesprochen, der Herr im Haus ist. Er würde sie unbarmherzig rannehmen, sie bearbeiten, sich an ihr abrackern, bis schließlich alles aus ihm herrausschoss, bis die angestaute Frustration, die sich in ihm in den letzten zwanzig Jahren angestaut hat sich entlädt, sich in ihr entlädt, ihr klarmacht, dass er, Werner Wolters, ein Mann ist, der den Frauen zeigt, wo es lang geht - ein Mann, ein König, der das Zepter in der Hand hält und weiß, was er zu tun
hat.
Im Fernsehen ist zu sehen, wie die junge Frau, deren Freund ihr fremdgegangen ist, weint; sie sagt, sie hätte das nie von ihm erwartet, nicht von ihm, da sie immer das Gefühl hatte, er sei endlich der Richtige - er ist immer einfühlsam gewesen, sagt sie, er ist ein Mann, bei dem sie das Gefühl hatte, verstanden zu werden.
Brigitte denkt: diese junge Frau ist doch wirklich zu blöd; anstatt, dass sie ihren Freund, der ihr fremd gegangen ist, nun mit harten Worten abserviert, drückt sie auf die Tränendrüse, kehrt all das Positive hervor, das dieser Kerl ihrer Meinung nach besitzt. Ne, denkt Brigitte sich, dieses Mädchen ist wirklich zu naiv - sie würde ganz anders damit umgehen, sie würde sich ohne ein Wort abwenden, würde die gemeinsame Wohnung, oder das Haus, verlassen und nie mehr an diesen Typ denken, der sie so hintergangen hat; sie würde einen ganz klaren Schlussstrich ziehen - sowas kann man seinem Freund, oder
Mann, doch niemals verzeihen.
Werner denkt: eigentlich sind ja beide geil; sowohl die offizielle Freundin, wie auch die Schlampe. Man könnte wohl, denkt er, eine Beziehung zu beiden aufrecht erhalten, wenn man sich nur geschickt genug anstellt. Er, Werner Wolters, würde das mit Sicherheit hinkriegen, denkt er. Eine scharfe kleine Geliebte, die er dominieren könnte mit seiner Erfahrung, die er in dreiundvierzig Lebensjahren unweigerlich erworben haben musste, würde ihm gefallen - ja, denkt er sich, er würde es so einer Schlampe ordentlich besorgen.
Brigitte steht auf; sie hat genug von der jungen Frau und ihren Sorgen. "Kartoffelpuffer?", fragt sie ihren Mann, der sicherlich schon hungrig sein muss.
"Jo.", sagt Werner, dem es egal ist, was es zu essen gibt.