Sie tanzten …
Leise schloss Felicity die Tür, nachdem sie sich mit einem Kuss von Leonie verabschiedet hatte. Beide schauten sich noch einmal zueinander um, ganz kurz, so als ob sie sich ihrer Anwesenheit vergewissern wollten. Felicity hatte gelächelt, Leonie mit ernstem Blick kurz gewunken. Kaum war die Tür zum Kindertanzsaal geschlossen, hörte Felicity schon die Klänge der Musik und die Aufforderungen der strengen Lehrerin. Kurz fragte sie sich, warum eigentlich alle Tanzlehreinnen so strikt sind, aber sie wurde durch den Brief abgelenkt, den sie gerade erhalten hatte.
Müde ließ sie sich auf einen der Stühle im Vorraum fallen. Eigentlich wollte sie in der kurzen Pause einen Kaffee trinken gehen, aber die Hitze in Los Angeles war in diesem Sommer wieder unerträglich, so dass sie beschlossen hatte, die Stunde in diesem öden, jedoch kühlen Raum auf ihre Tochter zu warten. Ohne die Schrift zu lesen, überlegte sie, wie lange sie diese Tortur noch durchhalten würde. Der Weg in dieses Studio war nach ihrem Umzug elend lang, die Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu teuer und viel zu viel Zeit, die sie nicht hatte, wurde auch verschwendet. Aber diese eine Konstante - das Tanzstudio, ihre Lehrerin
und die Kinder der Gruppe, die zu Freundinnen geworden waren, wollte sie Leonie nicht nehmen. Nach der Trennung von Patrick und ihrem Umzug in den anderen Stadtteil, war alles schon kompliziert genug für ihre vierjährige Tochter, so dass sie diese Strapazen immer noch auf sich nahm. Irgendwann würde sie etwas ändern müssen, aber noch war die Zeit nicht reif.
Ihre Gedanken schweiften immer weiter in die Vergangenheit und wie so oft fragte sie sich, warum sie Patrick damals ihr Ja-Wort gegeben hatte. Sicher - sie liebte ihn, aber sie liebte ihn einfach nicht genug. Und sie wusste das schon lange, bevor die
Hochzeitsglocken läuteten. Vielleicht, dachte sie damals, wird aus der Verbundenheit doch irgendwann ein großes Gefühl. Das Gefühl, dass sie bei Patrick immer vermisst hatte und es dennoch kannte. Es hatte nicht gereicht, es ist nicht gewachsen und auch die Geburt von Leonie hatte nichts daran verändert. Kurz war Etwas aufgeflackert, aber der Alltag hatte es mitgenommen und nicht zurückgebracht. So war es eine Frage der Zeit gewesen, bis Felicity bemerkte, dass die Gefühle nicht nur nicht wuchsen, sondern bald gänzlich verschwunden waren. Sie zog mit Leonie aus der gemeinsamen Wohnung, ließ sich scheiden und wollte
seit dem nur noch eins – dass ihre kleine Tochter trotzdem glücklich aufwachsen würde. Sie musste es einfach schaffen.
Mit einem tiefen Atemzug lehnte sie sich zurück, wischte mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und begann die Mitteilung zu lesen.
Mia Petit, Leonies Tanzlehrerin teilte mit, dass sie die Stelle wegen familiärer Glücklichkeiten gekündigt, sich aber bereits um Ersatz gekümmert hätte. Den Job würde wahrscheinlich ein Lehrer übernehmen, der in der nächsten Woche zur ersten Kontaktaufnahme mit den Jüngsten eingeladen werde. Hatte Felicity gerade noch über diese eine Konstante in Leonies Leben nachgedacht,
musste sie nun feststellen, dass auch die sich gerade in Luft auflöste. Dann könnte sie auch gleich das Studio wechseln, war die nächste Überlegung, aber sie wollte das zuerst mit ihrer Tochter besprechen. Wenn sie auch noch klein war, sollten Entscheidungen dieser Art gemeinsam getroffen werden.
Glücklich, wenn auch erschöpft, hüpfte ihr der kleine Wirbelwind kurz darauf entgegen. Leonie, die wie ein Abbild ihrer selbst aussah, tanzte mit der gleichen Leidenschaft, wie Felicity und war schon jetzt sehr gut. Sie selbst hatte das Tanzen momentan auf Eis gelegt, hatte zu wenig Zeit und musste zusehen, dass sie Geld verdiente. Aber irgendwann
… träumte sie, während Leonie aufgeregt plappernd neben ihr herlief.
Spät am Abend verließ sie die Wohnung. Felicity hatte diesen Job als Nachtwache in dem kleinen Kinderkrankenhaus angenommen, da er gut bezahlt wurde. Um Leonie kümmerte sich in diesen drei Nächten der Woche ihre Nachbarin. Es war nicht das, was sie wollte, aber im Moment konnte sie so die Tage für ihr Kind freihalten. Eilig lief sie die zwei Kilometer immer zu Fuß, konnte so gut vom Tag abschalten und hatte außerdem noch Bewegung, bevor sie den Rest der Nacht in dem kleinen Pfört-nerhäuschen sitzen musste. Es war wie immer – sie war zu spät dran, es war immer noch heiß
und nur noch wenige Menschen waren mit ihr auf der Straße des Vorortes von Los Angeles unterwegs. Und doch war etwas anders. Ohne ihn bewusst wahrzunehmen, war sie schon minutenlang hinter einem Mann hergelaufen, bis sich plötzlich ihre Nackenhärchen aufrichteten. Dieser Mann vor ihr löste eine Erinnerung in ihr aus, eine festverschlossene, sehr schöne Erinnerung. Sie hatte diese absichtlich und vorsätzlich in ihren Gedanken weggesperrt, weil sie zu ihrem früheren Leben gehörte und weil sie das Wecken dieses Andenkens jedes Mal tief traurig machte.
Es - Er - war Vergangenheit und auch das
Gefühl, welches zu ihm gehörte war nur noch ein Schmet-terling, der sie ab und zu besuchte. Und doch musste sie diesen Mann vor sich anschauen, konnte ihren Blick einfach nicht abwenden. Diese schlanke gerade Figur, der lockere beschwingte und dennoch sichere Gang. Alles war mit diesem Anblick wieder zum Leben erweckt und als dieser fremde Mann die Treppen zur U-Bahn-Station hinabging, musste sich Felicity haltsuchend an eine Wand lehnen. Ihre Beine versagten ihr kurzfristig den Dienst, ihre Lungen hatten nicht genug Luft und die gesamte verborgenen Traurigkeit über den Verlauf ihres Lebens legten sich auf ihre
Brust.
‚Es war nur eine Vision, die nichts mit der Wirklichkeit und mir zu tun hat!‘, sagte sie sich halblaut, stieß sich von der Wand ab und setzte nach Minuten ihren Weg fort, bemüht, ihre Gedanken wieder in geordnete Bahnen zu lenken.
Wäre sie doch nur im Studio geblieben. Nun hatte sie sich verspätet, weil sie in der einen Stunde unbedingt viel zu viele Dinge erledigen wollte und erwartete, Leonie unglücklich, als letzte kleine Tänzerin, mit vorwurfsvollem Blick anzutreffen. Sie waren ein gutes Team geworden in dem Jahr, seit sie allein lebten. Aber Zuspätkommen bedeutet
Unsicherheit für Leonie und verstörte sie jedes Mal, wenn es doch ab und zu vorkam. Auf alles gefasst, betrat sie schnell das Studio, lief die vielen Treppen hinauf und blieb verdutzt im Vorraum stehen. Die Tür zum Tanzsaal war geöffnet und was sie sah, verschlug ihr die Sprache. Ihre kleine Tochter wartete nicht mit Tränen in den Augen, schmollend auf einem der Stühle, sondern bewegte sich sehr anmutig zu leisen Klängen einer sanften Musik, die Felicity hier noch niemals gehört hatte. Sie war wirklich das letzte Kind, aber allem Anschein nach, machte es ihr diesmal nichts aus. Wie eine Fee schwebte sie, passend zu den
wundervollen Tönen über den Tanzboden, berührte diesen kaum und bewegte sich unsagbar bezaubernd. Statt der erwarteten Tränen in Leonies Augen fühlte Felicity ihre eigenen auf den Wangen.
Die Person hinter ihr hatte sie nicht bemerkt. Mia Petit war wohl aus der Umkleide gekommen und hinter Felicity getreten. „Was ein neuer Tanzlehrer alles bewirken kann. Ich bin stolz auf Deine Tochter. Stör sie nicht, bis sie Dich bemerkt.“ Mit diesen Worten war Mia verschwunden und Felicity starrte weiter, völlig betört auf ihr Kind.
Ihr war nicht bewusst, dass sie seit einigen Minuten beobachtet wurde. Erst
das leichte Kribbeln auf ihrer Haut holte sie in die Wirklichkeit zurück. Es war vertraut, angenehm und doch seit langer Zeit verschüttet. Dösend schwelgte sie darin, wollte es möglichst lange auskosten, ehe sie sich wieder der Realität stellen musste. Zu oft hatte sie dieses Kribbeln im Traum genossen, dann, wenn sie keinen Einfluss auf ihre Gedanken hatte. Da sie es jetzt und hier spürte, weigerte sie sich, es so schnell wieder aufzugeben. Die Illusion setzte sich fort, denn zu dem Kribbeln gesellte sich eine leise Stimme.
„Wie die Mutter, so die Tochter. Sie ist ein Engel.“ Und zeitgleich waren da diese Hände in ihren. Hände, die sie nie
im Leben vergessen würde, die ihr Sicherheit, Vertrauen und Wärme gaben.
Colin war zurück gekommen. Seine Hände dämpften das Licht ohne Felicity freizugeben, griffen dann um ihren Körper und führten sie zu der Musik über das Parkett. In genau diesem Moment wusste Felicity, was ihr in den letzten fünf Jahren gefehlt hatte. Alles fühlte sich plötzlich richtig an.
Ohne Worte schaute sie auf, traf Colins Augen und sah in ihnen, dass es ihm nicht anders erging. Sie wurden eins, bewegten sich und wiegten sich. Als sie die immer noch tanzende Leonie bemerkten, nahm Colin sie mit einer leichten Geste auf den Arm, um nunmehr
mit beiden, ohne Unterbrechung die leichte Bewegung fortzusetzen. Eingehüllt in der leisen Musik und dem Gefühl von Glück verstrichen endlose Minuten. Erst als die Klänge endeten, setzte Colin das kleine Mädchen ab, das daraufhin wortlos zur Umkleidekabine lief. Felicity und Colin jedoch blieben reglos auf der Stelle stehen, verharrten unverändert, dicht beieinander und beide spürten bei jedem Atemzug das Heben und Senken der Brust des anderen. Längst schauten sie sich in die Augen, ohne den Blick voneinander lösen zu können.
„Colin, wo kommst Du her?“, fragte Felicity und erinnerte sich daran, dass
sie ihn genau die selbe Frage auch vor fünf Jahren gestellt hatte. Ganz langsam hob er seine Hand, mit der er immer noch ihre festhielt und senkte seine Lippen auf ihre Fingerkuppen.
„Es ist egal“, sagte er leise.
„Und wann fliegst Du wieder?“ Auch diese Frage hatte sie ihm schon einmal gestellt. Damals, als ihr Herz gefror und sie bald darauf Patrick heiratete.
Lange begegnete Colin ihrem Blick, so als ob er sich ein stilles Einverständnis einfordern wollte, von dem beide wussten, dass es unnötig war.
„Ich bleibe. Sonst würde ich ja noch einmal zurückkommen müssen.“ Lächelnd legte er ihre Hand an die Stelle
seiner Brust, wo sich sein Herz befand, zog Felicity noch ein Stück dichter an sich heran und küsste sanft ihre Stirn.
Nach langen verzauberten Minuten kam Leonie zurück in den Tanzsaal, drängte sich zwischen Colin und ihre Mom und ergriff von jedem eine Hand. „Gehen wir?“
Dieses Mal hörte es sich nicht nach Abschied an und es war auch keiner.
© Fliegengitter 2015