Romane & Erzählungen
Findelkind 3 - Was sind Wunder?

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"In einer fremden Glaubenswelt zu leben,erfordert Mut."
Veröffentlicht am 20. Februar 2015, 30 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Über den Autor:

Iaut Pass bin ich 76 Jahre alt. Ich denke aber, da hat sich jemand geirrt. Ich bin verheiratet, habe zwei Adoptivtöchter und vier Enkelkinder, die leider in Südmerika leben, wo wir viele Jahre zu Hause waren. Im Bayerischen Wald genießen wir jetzt eine geruhsame Zeit, die ich zum Schreiben nutze. Aus dem Hobby ist fast schon eine Sucht geworden. Bei myStorys hoffe ich auf Anregung und Gedankenaustausch..
In einer fremden Glaubenswelt zu leben,erfordert Mut.

Findelkind 3 - Was sind Wunder?

Findelkind 3

Fortsetzung von Findelkind 2   

   Was sind ein Wunder?

Der Winter ließ in dem Jahr lange auf sich warten. Der Dezember verdiente seinen Namen als Wintermonat nicht. Doch eines Tages begann es zu schneien, ganz leicht nur wirbelten die ersten Flocken herab. Maya stand stumm am Fenster und deutete hinaus. „Was ist

das?“, sagte sie fast akzentfrei. Sofie öffnete das Fenster lehnte sich hinaus und ließ Schneeflocken auf ihre Hand fallen. Die hielt sie Maya hin und schaute zu, wie die Flocken im Nu zu Wasser wurden. „Regen“, erklärte sie, da der Begriff für Maya bereits vertraut war. „In der Kälte wird der Regen zu Schnee“,  erklärte sie betont langsam. Maya tat es ihr nach, sie streckte den Arm aus dem Fenster und schaute

zu, wie sich die Flocken auf ihrem Arm, ihrer Hand absetzten und zu Wasser wurden. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, für Sofie inzwischen das Zeichen, dass sie verstanden hatte.  

Obwohl Maya sprachlich große Fortschritte macht, spielte sich das Zusammenleben zwischen den beiden Frauen oft schweigend ab. Aber Sofie vertraute darauf, dass sich

das bald ändern würde. Schon einige Tage später bat Maya: „Nimm mich immer mit, bitte überall hin, nicht nur zum Einkaufen.“ Im ersten Moment war Sofie so überrascht über den so selbstverständlich gesprochenen, vollständigen Satz, dass sie nicht gleich antwortete. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie ein Lob aussprechen sollte, unterließ es aber. Der Satz hatte so leicht geklungen, als sei ihr

die Sprache von Kindheit an geläufig.  „Gerne“, sagte Sofie, „auch mir macht  es mehr Spaß, mit dir unterwegs zu sein als alleine.“

Maya genoss, was Sofie mit ihr unternahm, ob es ein Bummel durch die vorweihnachtlich geschmückten Straßen der Innenstadt war, ein Spaziergang durch den verschneiten Park oder ein Besuch im Café. Einem

spontanen Impuls folgend betrat Sofie mit Maya eine kleine Marienkapelle am Rande eines alten Friedhofs, der kaum noch benutzt wurde. Es war ein sonniger Tag, die sonst recht düstere Kapelle war  in weiches, gold scheinendes Licht gehüllt. Beide Frauen verharrten schweigend, gefangen von der Stimmung. Dann suchte Maya Sofies Blick. „Eine Kirche“, murmelte sie. Sofie  verbesserte sie: „eine

Kapelle“, und deutete auf die schlichte Heiligenfigur neben dem schmucklosen Altar. „Schön“,  Maja strich sanft mit den Fingern über das polierte Holz der Figur.  „Wer ist das?“ fragend schaute sie zu Sofie. „Ich weiß es nicht“, gab die zu.

Animiert von Mayas Wissbegier schlug Sofie vor:  „Morgen ist erster Advent, den feiern wir in unserer Kirche in jedem Jahr mit

einem kleinen Fest. Daran nehmen wir teil. Es wird dir gefallen.“  Damit war die Unterhaltung beendet. Und Sofie war gespannt, wie Maya reagieren würde. Könnte es der Anfang einer vielversprechenden Entwicklung sein?

Sofie überflog rasch die im Gemeindesaal Anwesenden, sie waren ihr alle bekannt. Das vereinfachte  die delikate Aufgabe, Maya in einer Gruppe fremder Menschen

vorzustellen. Zudem  hatte sie sich sorgfältig überlegt, was sie sagen wollte. Pastor Gruber begrüßte die kleine Gesellschaft und leitete geschickt für Sofie dazu über,  ihren Gast vorzustellen. „Sie haben sich vermutlich schon gewundert, dass ich so untreu geworden bin. Aber wie Sie sehen, habe ich einen besonderen Gast. Sie heißt Maya und kommt aus Mexiko, genau gesagt aus Chiapas. Sie gehört dem Stamm der

Lacandonen an, die sich als die direkten Nachfahren der Maya bezeichnen. Die junge Frau hat etwas für eine Lacandonenfrau Ungewöhnliches getan, sie hat ihre Heimat verlassen und möchte andere Kulturen kennen lernen. Seit ein paar Wochen lebt sie bei mir. Bitte haben Sie Verständnis, dass sie noch scheu ist und wenig spricht. Ich weiß aber aus Erfahrung, dass sie alles, was um sie her geschieht, in sich

aufnimmt. Ich bitte Sie, ihr freundlich zu begegnen.“ Maya ließ nicht erkennen, ob sie Sofies Worte verstanden, und ob sie überhaupt hingehört hatte. Sie trank den angebotenen Kaffee, kostete von dem Stollen, nickte und lächelte, erweckte sonst aber den Eindruck, dass sie  nichts verstand. Sofie jedoch wusste, dass Maya sehr wohl registrierte, was um sie her vorging. Sie schien sogar der Adventgeschichte von Pfarrer

Gruber zu folgen und lauschte, wenn auch mit verschlossener Miene den Gesprächen. ,,Sofie  war sich bewusst, Geduld war das Zauberwort, und dafür würde sie eines Tages belohnt werden. Auf dem kurzen Nachhauseweg fragte Sofie: Wie hat es dir gefallen?“ „Gut“, lautete die Antwort. Und aus heiterem Himmel wollte sie wissen: „Was sind Wunder?“

„Wunder?“ Sofie überlegte

kurz, wie sie den Begriff so einfach wie möglich erklären konnte. „Wunder sind Erlebnisse, die wir nicht erklären können, nicht für möglich halten. Viele Menschen glauben, Wunder werden ausschließlich von Gott geschickt.

„Von den Göttern“, verbesserte Maya. Sofie schaute sie an, als könnte sie nicht glauben, was sie eben gehört hatte. Wie kann es angehen, dass Maya, von der

sie annahm, dass sie nur knapp verstand, so präzise fragte und sie obendrein noch verbesserte? Natürlich wusste Sofie, dass  es in ihrer Kultur viele Götter gab. Sie hatte das Buch über die Nachfahren der Maya sehr aufmerksam gelesen und erkannt, wie wichtig ihnen die Götter sind, als beherrschende, alles lenkende Götter. Eine  Glaubenswelt so weit vom Christentum entfernt.

Maya trug ab und an noch Kleider von Sofie, vor allem solche, die sie schon lange ausrangiert hatte. Eines Tages fand Maya in einer Rocktasche eine winzige, aus Holz geschnitzte Figur an einem schmalen Lederband. Sie hielt Sofie das Schmuckstück auf der ausgestreckten Hand hin. „Schau mal, was ich gefunden habe.“ Sofie warf einen flüchtigen Blick darauf

 und antwortete: „Maria.“

„Was heißt das: Maria?“  

„Maria, die Mutter Gottes.“

Maya schaute das Kleinod genauer an. „die Göttermutter?“

„Gottes Mutter“, berichtigte Sofie. „Wir haben nur einen Gott. Und der hat auch nur eine Mutter.“

„Du sagtest mir: Es gibt Gott Vater, Gott Sohn und Gott Heiliger Geist.“ Wie zum Beweis hielt Maya drei Finger in die Höhe.

„Schon“, Sofie war nicht in der Stimmung, Maya die Dreifaltigkeit zu erklären. Stattendessen sagte sie: „Ich schenke  dir die Figur, wenn sie dir gefällt.“

„Du liebst sie nicht?“

„Schon, aber ich bekam sie vor langer Zeit einmal geschenkt von jemandem, den ich nicht so gerne hatte.“

„Einem Mann?“, hakte Maya  nach.

„Ja, von einem Mann.“ Maya spürte, dass sie nicht weiter

fragen sollte und wandte sich der Figur zu. „Hübsch, ganz klein. Schön“, und umschloss sie mit der Hand. „Wie heißt die? A…“.  

„Maria“, wiederholte Sofie.

„Jetzt sehe ich es,…“, hier verstummte Maya, sie hauchte einen Namen, den Sofie nicht verstand und schenkte  dem keine weitere Bedeutung. Deshalb entging ihr auch, dass Maya wie schlafwandeln in ihrem Zimmer verschwand. Als sie

Stunden später wieder auftauchte, schien sie von innen heraus zu strahlen. Sie hielt die kleine Figur mit beiden Händen umhüllt. „Du schenkst mir?“ fragte sie.

„Wenn du mir sagst, was sie bei dir ausgelöst hat, gerne“, erwiderte Sofie, die neugierig geworden war.  „Später“, Maya öffnete die Hände, auf dass Sofie sie zurück nehmen konnte.

„Nein, behalte sie nur. Ich  nehme das Angebot an und

warte auf später.“  

Sofie hatte sich angewöhnt Maya mit zu ihren Schutzbefohlenen in die Altenresidenz mitzunehmen. Besonders gerne war sie bei dem Treffen „Krähennest“ dabei. Aufmerksam aber schweigend verfolgte sie die Diskussion. Sofie hatte als Thema gewählt: ‚Überraschungen, würzen oder beschweren sie den Alltag?  Die Meinung der

Beteiligten war unterschiedlich, auch wenn das abschließende Urteil lautete: Sie würzen den Alltag. Sofie hatte Maya genau beobachtet und war sich sicher, dass sie alles verstanden hatte. Heute hatte sie sich sogar einmal an der Diskussion beteiligt und zwar so flüssig, dass Sofie es kaum glauben konnte. Sie hatte letzthin mehrfach vermutet, dass Maya  viel mehr  verstand, als sie

erkennen ließ.

Von Sofie unbemerkt pirschte sich die alte Karola an Maya heran und verwickelte sie mühelos in ein Gespräch. Karola erging sich in Bewunderung für Mayas Art zu sprechen. „Ich könnte Ihnen Stunde um Stunde lauschen“, hörte Sofie sie sagen. Dann lenkte sie geschickt dazu über, dass ihre Augen im schwächer würden. Das Lesen sei mehr

und mehr beschwerlich. Sofie lächelte, Sie kannte Karola, sie liebte es, wenn man ihr vorlas.  Richtig, sie zauberte ein kleines Buch aus ihrer Tasche und drückte es Maya in die Hand. Sofie hielt den Atem an. Sie hatte Maya bislang das Lesen nicht beigebracht. Würde sie das jetzt zugeben? Aber Maya sah ganz und gar nicht so aus, als sei sie verlegen. Im Gegenteil, sie lächelte die alte Dame freundlich an und griff

nach dem dargereichten Buch. Sofie konnte den Blick nicht von Mayas Gesicht lassen. Es trug einen weit entrückten Ausdruck. Sie schlug das Buch auf, ihre Lippen bewegten sich. Sie las :“Nunc trocknete sich die Hände am Saum ihres Kleides ab, während sie sich in der aufgeräumten Hütte umschaute. Der kleine Chan und seine vier Jahre ältere Schwester schliefen in der Hängematte. Die 12-jährige

Jasmin saß vor der Hütte, während Ax mit Bor auf der Jagd war.

Nunc ist den vier Kindern, von denen nur die beiden Jüngsten Geschwister sind, eine gute Mutter. Liebevoll ist sie stets für alle da, macht keinen Unterschied zwischen ihren leiblichen Kindern und  Jasmin, die ihr schon einen Teil der häuslichen Pflichten abnimmt. Und dafür ist sie ihr dankbar, denn Nunc streift lieber durch die Wälder, um

Pilze, Wurzeln, Kräuter  und Früchte zu sammeln, als in der Hütte Mais zu stampfen und Tortillas zu klopfen. Hin und wieder träumt sie von der Welt jenseits der dichten Wälder. Mutter Najbor hatte ihr nie erlaubt, in die Stadt zu gehen. Sie hatte es nicht verschmerzt, dass zwei ihrer Kinder dort verschollen sind. Und Bor“..  Hier brach sie jäh ab, ihre Augen weiteten sich wie in Angst, sie brach in Tränen aus und schlug das

Buch zu. Karola griff danach und zischt: „ das steht da nicht.“  Sofie stand wie betäubt, sie versucht zu verstehen, was sie soeben von Maya gehört hatte. Es war mucksmäuschen still in den Raum. Jeder schien gefesselt von Maya. Sofie fand als erste die Sprache wieder und erklärte, den Nachmittag für beendet, verabschiedete sich und verließ mit Maya den Raum.

In Sofies Kopf drehten sich

die Gedanken im wilden Wirbel. Sollte sie Maya fragen, was das gerade  bedeutet hatte. Aber ein rascher Blick in das verschlossen Gesicht riet ihr davon ab, daran zu rühren.

Vermutlich würde Maya es nicht erklärend können. Der Verdacht lag nahe, dass sie von innen heraus und unbewusst gehandelt hatte. Womöglich war sie selbst davon überrumpelt worden. Sofie musste auf eine

günstige Gelegenheit warten, auch wenn ihr das schwer fiel.

Fortsetzung  von Findelkind  

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Evadrossel
Iaut Pass bin ich 76 Jahre alt. Ich denke aber, da hat sich jemand geirrt. Ich bin verheiratet, habe zwei Adoptivtöchter und vier Enkelkinder, die leider in Südmerika leben, wo wir viele Jahre zu Hause waren.
Im Bayerischen Wald genießen wir jetzt eine geruhsame Zeit, die ich zum Schreiben nutze. Aus dem Hobby ist fast schon eine Sucht geworden. Bei myStorys hoffe ich auf Anregung und Gedankenaustausch..

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MerleSchreiber Sehr gekonnt und neugierig machend streust du (noch) Verborgenes in die Dialoge, liebe Eva. Aber der vierte Teil ist ja auch schon da, also...... ;-))
Liebe Grüße, Merle
Vor langer Zeit - Antworten
baesta Talerchen sind leider noch nicht drin, aber dafür schenke ich Dir diese Sternchen ***** für die sehr lebendig erzählte Fortsetzungsgeschichte.

Liebe Grüße
Bärbel
Vor langer Zeit - Antworten
Evadrossel Die Sternchen efreuen mich sehr. Dafür lieben Dank Evadrossel
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