Prolog
„Du musst ihn holen. Wir brauchen ihn hier. Ich glaube, seine Zeit ist gekommen.“
Darios flüsterte, selbst hier in seinem eigenen Haus. Nicht ohne Grund. Man konnte nie wissen, wer oder was bei den Gesprächen in den Häusern der Emotaner zuhörte. Nermonas Spione hatten ihre Ohren scheinbar überall. Und man konnte sich in diesen Zeiten nicht sicher sein, wer auf wessen Seite stand. Alle hatten Angst und keiner wollte zugeben oder auch nur glauben, dass er, nur um das eigene Leben und das seiner Familie zu schützen, alle möglichen Kompromisse eingegangen wäre.
„Es wird nicht einfach sein, ihn davon zu überzeugen, dass er kommen muss“,
antwortete Oskas, ebenfalls im Flüsterton. „Er weiß nichts von uns.“ Er sah den Mann, der ihm gegenüber saß, mit zweifelnden Blicken an.
Für einen Augenblick schwiegen die beiden Männer. Oskas glaubte, sogar die Holzwürmer in den schweren Möbeln werkeln zu hören.
„Du musst ihn holen, Oskas!“, wiederholte Darios den Auftrag; sein Tonfall allerdings klang nun schon etwas energischer als zuvor. Er hatte es noch nie sehr geschätzt, wenn sein Ziehsohn Anordnungen mit Zweifeln begleitete.
Darios stützte sich mit beiden Händen auf der breiten Tischplatte ab und schob sich mit etwas Schwung von seinem Stuhl hoch.
Er war schon sehr alt und Oskas kam gerade in diesem Augenblick in den Sinn, dass Darios es im Grunde genommen schon gewesen sein musste, als er ihn kennen gelernt hatte. Er selbst war damals vor dreizehn Jahren noch ein Kind gerade erst zwölf. Oskas war zu dieser Zeit in die große Stadt Emor gekommen, kurz nachdem die Häscher über den Hof seines Vaters hergefallen waren. Darios hatte den hungrigen, zerlumpten Jungen in einer der engen Gassen der Stadt aufgesammelt und ihn in sein Haus mitgenommen. Seit diesem Tag war der alte weise Mann Oskas` Familie.
„Du musst es schaffen irgendwie. Er ist der Einzige, der Emotan jetzt noch retten
kann.“ Mit bedächtigen Schritten, bei denen seine lange schwarze Robe aus Leinenstoff wehte wie ein Vorhang im Wind, ging er hinüber an den Bücherschrank aus dunklem Eichenholz, der sich über die gesamte Wand des Studierzimmers erstreckte. Mit seinen faltigen Händen öffnete er eine der mit bunten Bleiglasornamenten verzierten Türen. Langsam ließ er seine Finger über die dicken Buchrücken aus schwarzem und braunem Leder streifen. Bei manchen umfuhr er gedankenverloren die goldenen verschnörkelten Buchstaben. Darios seufzte leise, doch dann zog er - ganz plötzlich - ein Buch zwischen den anderen heraus. Es war, als hätte er schon lange
auf den Augenblick gewartet, genau dieses eine aus dem Regal nehmen zu können. Die zurück gebliebenen Bücher fielen gegeneinander und verschlossen die zwischen ihnen entstandene Lücke - fast ein wenig beleidigt, weil der alte Mann nicht sie ausgewählt hatte.
Darios schritt zurück an den Tisch, wo Oskas mit erwartungsvoll blickenden Augen saß und seinen Ziehvater beobachtete.
„Hier, nimm das und bring es ihm.“ Die Worte des alten Mannes klangen in Oskas` Ohren fast wie ein Befehl. Genau das hatte Darios auch beabsichtigt. Er wollte, dass Oskas sich unverzüglich auf den Weg machte. Ohne Wenn und Aber. Ohne
jegliche Diskussion. Von diesem Auftrag hing die Zukunft Emotans ab.
Darios wickelte das Buch in einen langen Schal der über der Stuhllehne hing und drückte es Oskas dann in die Hand.
„Was soll ich ihm sagen?“ Der junge Mann sah seinen Ziehvater fragend an.
„Sag ihm, was du im Herzen hast. Du wirst zur rechten Zeit die richtigen Worte finden, glaube mir, Junge.“ Mehr sagte der Alte nicht.
Er zog Oskas vom Stuhl hoch, nahm ihn bei den Schultern und schob ihn sanft, aber bestimmt, aus dem mit Kerzen beleuchteten Raum.
„Und jetzt geh!“
Kapitel 1
Über mir erklang das schrille Bimmeln einer Glocke. Sie machte einen höllischen Lärm und ich zuckte unwillkürlich zusammen. Als ich die Tür hinter mir schloss, klirrte das Ding gleich noch einmal. Eigentlich hätte ich es wissen müssen doch ich zuckte schon wieder zusammen. Ich warf der Glocke aus angegilbtem Messing einen zornigen Blick zu. Vielleicht, hoffte ich, würde sie auf ewig verstummen. Dämliches Teil!
Ich sah mich um. Nach nur ein paar Sekunden kam es mir fast so vor, als hätte mich jemand gut drei Jahrhunderte zurück gebeamt. Es war düster in dem engen Raum. Durch das kleine Fenster gleich neben der Eingangstür schien nur ein
einziger Sonnenstrahl dringen zu können, der die abertausend kleinen Staubkörnchen zum Glitzern brachte, die auf seinem Weg durch den Raum wild um ihn herum tanzten.
An den Wänden und sogar noch mitten in dem sowieso schon engen Raum standen grob gezimmerte Regale aus Holz, die bis unter die niedrige Decke reichten. Sie waren
vollgestopft mit irgendwelchen Dingen: Geschirr und andere Haushaltsgegenstände, Spielzeug, Wäsche. In einem der Regale entdeckte ich Unmengen von Büchern. Bücher, die genauso uralt aussahen, wie der Rest der Ware. Und auch genauso rochen. Das war
nicht sehr verwunderlich. Immerhin stand draußen über der Tür in geschwungenen Buchstaben „Oskas Galatanis Alte Welt“.
Mein Freund Ben hatte mir diesen Laden empfohlen. Wenn ich es mir recht überlegte, hatte er mich geradezu genötigt, dorthin zu gehen. Und ich hatte seinen Vorschlag dankbar angenommen. Denn der Geburtstag meiner Schwester Alma stand vor der Tür. Ich brauchte dringend noch ein Geschenk für sie, denn wie in jedem Jahr war ich natürlich wieder einmal viel zu spät dran. Man mag es kaum glauben: Seit nunmehr 17 Jahren hatte Alma an ein und demselben Tag Geburtstag, aber ich vergaß ihn jedes Mal aufs Neue. Er war schon am nächsten Tag und ich hatte noch
nicht einmal eine Idee, was ich ihr schenken könnte.
„Alma liebt doch alte Sachen“, meinte Ben heute Morgen fast beiläufig in der großen Pause. „Versuch es doch mal im Trödelladen von Oskas Galatani. Da findest du ganz bestimmt etwas für deine Schwester.“
Tja, und deshalb stand ich nun also in dem Laden von diesem Oskas Galatani. Seltsamer Name, dachte ich mir. Vielleicht kam er ja aus einem anderen Land.
Nach dem mörderischen Läuten der Türglocke war niemand erschienen. Das störte mich allerdings nicht sehr. Denn so hatte ich wenigstens ein paar Augenblicke länger die Gelegenheit, mich umzuschauen,
bevor der verkaufswütige Ladenbesitzer mich total vereinnahmen konnte.
Ich hasste es, in kleine Läden zu gehen und in Beschlag genommen zu werden, noch ehe ich mich richtig umgesehen hatte. „Suchst du nach etwas Bestimmtem? Kann ich dir helfen? Und wenn jetzt nicht, dann ruf mich, wenn du meinen Rat brauchst!“ Noch viel schlimmer fand ich allerdings, wenn ich mich in diesen Läden bei jedem meiner Schritte permanent von einer Verkäuferin mit Adleraugen beobachtet fühlte und mir dabei immer so vorkam, als wäre ich ein potentieller Ladendieb oder hätte die Dame bei irgendetwas Wichtigem gestört.
Aber hier in diesem kleinen engen
Trödelladen schien das ganz und gar anders zu sein. Zwar hörte ich das leise Klappern und Rascheln, das vermutlich aus dem Raum kam, der sich hinter der Verkaufstheke befand, doch es kam niemand nach vorn. Allerdings beschlich mich das unangenehme Gefühl, dass die Augen von irgendjemandem von irgendwoher auf mir ruhten. Bei diesem Gedanken kroch mir unwillkürlich eine leichte Gänsehaut über den Rücken. Trotzdem ließ ich meine Blicke weiter durch den Laden streifen, auf der Suche nach einem Geschenk für Alma. Sie wanderten über all diese Dinge in den Regalen, die ihre eigene lange Geschichte in sich trugen. Ihre Geschichte, die sie auf
eine ganz bestimmte Art und Weise wertvoll machte.
Nach einer Weile entdeckte ich in einem der Regale etwas, das meiner Schwester ganz sicher gefallen würde. Es war ein rundes Tintenfass aus Glas. Ringsherum war es mit klitzekleinen bunten Glasscherben verziert. In dem Fässchen steckte ein Federhalter aus dunklem Holz. „Perfekt“, flüsterte ich. Das würde sich ziemlich gut auf Almas Schreibtisch machen. Ich hoffte, dass es nicht zu teuer war. Als ich schon danach greifen und es aus dem Regal nehmen wollte, überlegte ich mir, dass der Besitzer der wertvollen Dinge es vielleicht nicht so gern sah, wenn man sich hier selbst bediente.
„Hallo- ho?“ Meine Stimme krächzte ein wenig, als ich versuchte, mich bemerkbar zu machen. Ich sah in Richtung der schmalen Tür, die sich hinter der Theke mit der uralten Registrierkasse befand. Ich hörte es erneut rascheln, dann vernahm ich leise Schritte. Doch entgegen meiner Erwartung kam der Verkäufer des Ladens nicht aus dem Hinterzimmer, sondern trat urplötzlich hinter einem der Regale, die in der Mitte des Raumes standen, hervor. Erschrocken machte ich einen Satz rückwärts.
„Keine Angst, ich fresse dich schon nicht“, sagte der mittelgroße Mann, der nun vor mir stand, und lächelte mich freundlich an. „Hast du etwas gefunden,
was dich interessiert?“ Er sah mich erwartungsvoll mit seinen dunkelbraunen, fast schwarzen Augen an, die mich an Mamas milchlosen Kaffee erinnerten.
Ich nickte und zeigte auf das Tintenfass. Ich wäre gerne freundlicher gewesen, doch aus irgendeinem Grund ich brachte keinen Ton heraus.
„Gute Wahl“, bemerkte der junge Mann. Während er bedächtig zum Regal schritt, sah ich mir den Typen etwas genauer an. Das halblange braune Haar hatte er sich mit einem Lederband im Nacken zusammen gebunden. Er trug eine Hose aus braunem Leinenstoff, dazu ein weißes Hemd mit weiten Ärmeln. Seine nackten Füße steckten in schwarzen altmodischen
Lederschuhen. Vielleicht war das seine Arbeitskleidung, überlegte ich. In einem Laden wie diesem hier, wo es ganz so schien, als wäre die Zeit stehen geblieben, sah das eben viel besser aus, als Jeans, Turnschuhe und T-Shirt. Er mochte so Mitte zwanzig sein, überlegte ich weiter, so ganz genau konnte ich das bei den im Laden vorherrschenden Lichtverhältnissen nicht einschätzen.
„Ist für meine Schwester“, sagte ich schließlich nach ein paar Minuten, um nicht den Anschein zu erwecken unhöflich zu sein.
„Hm, hm“, brummelte der Mann nur. Er ging mit dem Tintenfass zum Verkaufstisch, zog einen Bogen graues
Papier hervor und schlug das Fässchen behutsam darin ein.
„Alma mag alte Dinge“, versuchte ich noch einmal ein Gespräch anzukurbeln.
„Fünfzehn Euro“, sagte der junge Mann, schob das Päckchen über den Tisch und hielt erwartungsvoll die Hand auf. Ich kramte in meinem Rucksack nach der Geldbörse und zog schließlich einen Zwanziger heraus.
Die Stirn des Mannes legte sich in Falten. Ich hatte absolut keine Ahnung, weshalb. War etwas nicht in Ordnung? „Was?“, fragte ich verdattert. „Der ist echt!“
„Nun ja, wie soll ich es sagen“, meinte der Mann und kratzte sich im Nacken. „Es verlaufen sich nicht sehr viele Leute
hierher in meinen Laden. Genau genommen bist du der Erste seit ein paar Tagen. Ich habe kein Wechselgeld.“
Na, prima, schoss es mir durch den Kopf. Konnte er das denn nicht gleich sagen? „Und nun?“, fragte ich und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich brauchte dieses Geschenk. Ich hatte doch kein anderes und wusste, dass sich Alma darüber freuen würde.
Der Mann dachte nach. „Ich hab`s“, rief er plötzlich und irgendwie sah er jetzt aus, wie ein kleiner Junge, der sich wie irre auf Weihnachten freut. „Ich könnte dir ... ich könnte dir etwas dazu geben.“ Er kam hinter dem Verkaufstisch hervor. „Warte gleich finde ich etwas!“ Er schritt suchend
durch die Regalreihen, griff nach etwas, murmelte vor sich hin, schüttelte den Kopf und ging weiter. Schließlich zog er aus einem der Regale ein Buch. Es war nicht das Bücherregal.
Der Mann kam zu mir zurück und legte das Buch behutsam wie ein rohes Ei vor mich auf den Tisch. „Hier, das gebe ich dir dazu“, sagte er, sichtlich mit seiner Wahl zufrieden. Ich hob abwehrend die Hände. Einerseits, weil mir die fünf Euro Wechselgeld viel lieber gewesen wären. Andererseits, weil ich vermutete, dass dieses in schwarzes Leder gebundene Buch garantiert einiges mehr wert war. Schon das metallene Kreuz auf dem Deckel, das aussah, wie zwei übereinander gelegte
Dolche, sah ziemlich antik aus. An seinen vier Enden waren grüne Glassteine aufgesetzt, die in diesem Moment, als der einzige Sonnenstrahl sie mit seinem Licht traf, zu funkeln begannen. Auch der goldfarbene Beschlag mit dem kleinen runden Schloss daran, war ganz sicher mehr wert als fünf Euro.
„Doch, nimm es. Ich brauche es nicht. Niemand anderes kann etwas damit anfangen“, beharrte der junge Mann darauf, dass ich das Buch annahm. Er sah mich dabei irgendwie komisch an. Gut, dachte ich, wenn er es unbedingt so will. Vielleicht oder garantiert - würde sich Alma auch noch darüber freuen.
Als ich den kleinen Laden mit seinem
sonderbaren Verkäufer verließ, schallte über mir wieder die Glocke unbarmherzig laut - doch dieses Mal war ich vorbereitet.
Kapitel 2
Mein Kopf hämmerte.
Verdammt noch mal, was war passiert?
Ich zog die Beine an und legte meinen dröhnenden Kopf auf die Knie. In mir drehte sich alles, einschließlich meines Magens. Beinahe so, als wäre ich gerade nach zehn Runden aus dem Kettenkarussell gestiegen. Doch das konnte nicht der Grund für mein augenblickliches Schwindelgefühl sein. Denn erstens war im Moment gar kein Jahrmarkt und zweitens hasste ich alles wie die Pest, das sich schneller drehte als das Bärchenmobile
über dem Babybett unserer kleinen Nachbarin.
Also, was war dann mit mir los?
Langsam hob ich den Kopf ein wenig und öffnete die Augen, ganz in der Hoffnung, dass das Drehen im Kopf irgendwie aufhören würde. Doch alles was ich sah, war tiefste Dunkelheit, die sich um mich herum ausgebreitet hatte, wie eine alte kratzige Decke.
Dunkelheit? Ich fragte mich, wann es Nacht geworden war. Und wie lange ich demzufolge schon hier saß.
Ich hätte schwören können, dass es noch heller Tag gewesen war, als ich aus dem kleinen Trödelladen trat. Ich erinnerte mich genau daran, weil sich meine Augen
erst wieder an das grelle Sonnenlicht draußen auf der Straße gewöhnen mussten.
Aber wieso saß ich hier mitten in der Nacht auf der Straße herum? Und wo war ich überhaupt?
„Tom!“, schoss mir die Erinnerung durch den Kopf. Das musste es sein. Gleich an der übernächsten Straßenecke war ich ihm und seinen vier Halbaffen begegnet. Breitbeinig und grinsend hatten sie sich mir in den Weg gestellt. Wie immer war ich ein willkommenes Opfer für die Kerle, deren einziger Zeitvertreib darin bestand, anderen das Leben zur Hölle zu machen. Ich bin zwar nicht stark, dafür aber schnell. Bis in die Hintergasse haben sie mich verfolgt. Eigentlich war ich mir ganz
sicher, dass ich sie dort irgendwie abgehängt hatte. Doch so, wie es im Moment schien, war es anscheinend nicht so gewesen. Tom und seine Halbaffen hatten mich wohl doch erwischt und ordentlich ihren Spaß mit mir gehabt.
Ich rieb mir die Schläfen fest mit den Fingern, doch das Hämmern in meinem Schädel ließ nicht nach. Ich musste wohl ziemlich fest mit dem Kopf auf dem Boden gelandet sein. Was, wenn ich blind war, kam es mir in den Sinn. Das würde zumindest die plötzliche Dunkelheit erklären! Ich hob den Kopf noch ein wenig höher und entdeckte erleichtert die vielen Millionen blinkenden Sterne am Himmel. Okay, blind war ich schon mal nicht.
Ich lehnte mich mit dem Rücken fest gegen die Wand und schob mich nach oben, bis ich auf meinen Füßen stand. Nachdem ich mich noch einen Augenblick an der Mauer abgestützt hatte und darauf wartete, dass das Drehen in meinem Kopf aufhört, machte ich einen Schritt nach vorn. Ich hörte ein leises „Platsch“. Mist, ich stand knöcheltief mitten in einer Pfütze. Ich wunderte mich kurz, wo die her gekommen war. Es hatte schon seit drei Wochen nicht geregnet. Überall auf den Straßen und Wegen wirbelte beim kleinsten Luftzug grauer Staub auf. Die Wiesen verwandelten sich langsam aber sicher von einem satten Dunkel- in ein trockenes Hellgrün. Tja, und nun stand ich
hier knöcheltief in einer Pfütze, die ich im Dunkeln nicht gesehen hatte. Das kalte Wasser drang mir durch die Schuhe und durchnässte meine Socken. Na prima, dachte ich resigniert, Mama würde mich ganz sicher wieder ein riesiges Ferkel nennen, das mit seinen vierzehn Jahren noch immer nicht aufpassen konnte, wohin es trat.
In diesem Augenblick hörte ich Schritte. Sie kamen aus der Dunkelheit auf mich zu. Irgendwie bekam ich plötzlich das Gefühl, dass Mamas Gemecker sicher nicht mein einziges Problem sein würde.
„Wer bist du!? Und was treibst du dich mitten in der Nacht in den Gassen herum?!“ Eine tiefe Stimme schnarrte
mich aus der Dunkelheit an. Ich drehte meinen Kopf zur Seite und erkannte die Schatten einiger Personen, die die Dunkelheit der Nacht spärlich mit kleinen Laternen erhellten. Das Licht flackerte im Windzug und musste sich mächtig anstrengen, nicht ausgepustet zu werden.
Warum benutzen die denn nicht einfach Taschenlampen, schoss es mir irrsinnigerweise durch den Kopf.
„Antworte!“, herrschte mich der Mann noch einmal an.
„Ich bin Nathanael de Boer“, antwortete ich diesmal wie aus der Pistole geschossen. Die Art und Weise wie der Kerl mich anblaffte, bescherte mir ein eigenartiges Gefühl in der Magengegend
und ich beschloss, lieber kooperativ zu sein.
„Und was hast du dich hier herum zu treiben? Nach Sonnenuntergang herrscht Ausgangssperre, das weißt du doch!“
Ausgangssperre? War das so etwas Ähnliches wie Hausarrest?
„Ich ... ich war wohl bewusstlos gewesen. Glaube ich jedenfalls. Ich mach mich auch gleich auf den Weg nach Hause. Ehrlich versprochen.“
Seit wann herrschte denn Ausgangssperre in der Nacht? Ich durchforstete mein Gehirn danach, ob meine Eltern mir davon erzählt hatten. Ich wollte schon los laufen, doch da packte mich eine feste Hand im Nacken und hielt mich zurück.
„Das könnte dir so passen, Bürschchen. Du kommst jetzt erstmal mit zum Comissario Nathanael de Boer!“, donnerte der Mann. Er schob mich vor sich her die Straße entlang. Es hatte keinen Zweck, mich dagegen zu wehren, er war natürlich viel stärker als ich. Die anderen Männer, die die Laternen trugen, folgten uns.
Der Comissario war ein dicker Mann mit einem dichten schwarzen Bart im Gesicht. Die langen fettigen Haare hatte er sich zu einem Zopf im Nacken gebunden. Er trug eine schwarze Lederhose und ein weißes Hemd, das sich gefährlich um seinen prallen Bauch spannte. Ich hoffte, dass die kleinen Knöpfe nicht ihren Dienst versagen würden.
Aus irgendeinem Grund musste ich gerade in diesem Augenblick auch an Oskas, den Trödelladenbesitzer, denken.
„Wer bist du?“, fragte mich der Comissario und schritt vor mir auf und ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.
„Das habe ich denen doch schon gesagt“, erwiderte ich trotzig und wies mit dem Kopf hinter mich, wo die anderen Männer standen. Der Schlag, der mich von hinten an den Kopf traf, erinnerte mich allerdings daran, dass ich doch lieber kooperativ sein sollte. Die Augen des Mannes vor mir funkelten mich böse an.
„Nathanael de Boer“, antwortete ich zaghaft.
„Und woher kommst du, wenn ich fragen
darf?“ Der Comissario blieb direkt vor mir stehen. Er schob sein fettes Gesicht dicht an meines heran. Sein Mundgeruch war eine Mischung aus Zwiebeln und bitterem Bier und ich drehte leicht angeekelt meinen Kopf zur Seite. „Ich wohne in der Stadt Kramerstraße 8c“, antwortete ich und versuchte, durch den Mund zu atmen.
Der Mann sah mich verwundert an. „Kra mer stra - ße ... 8 ...c ...? Hier in unserer Stadt?“ Er blickte die anderen hinter mir fragend an. „Wo soll das denn sein?“, zischte er und starrte mir zornig ins Gesicht.
Die Kramerstraße war die zweitgrößte Straße in Bernburg. Und die wussten nicht, wo das war? Aber ein Schaudern
lief mir über den Rücken was, wenn ich gar nicht in Bernburg war? Ich hatte natürlich absolut keinen blassen Schimmer, wie ich woanders hingekommen sein könnte.
„Wie heißt Ihre Stadt denn?“, fragte ich vorsichtig. Der Comissario riss die Augen vor Verwunderung auf und zog die Augenbrauen weit nach oben. „Du weißt nicht, wie unsere Stadt heißt?“, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. „Wenn ich nicht in Bernburg bin wo dann?“, fragte ich unsicher.
Der Comissario setzte gerade zu einer Antwort an. Er öffnete den Mund, doch es kam kein Wort über seine Lippen. Irgendetwas schien seine Aufmerksamkeit
gefangen zu haben. Er wies mit seinem kurzen dicken Zeigefinger auf mich und fragte: „Was hast du da?“ Ich sah an mir herunter. Jetzt erst wurde mir bewusst, dass ich ja noch das Päckchen mit dem Tintenfass und das Buch bei mir trug. Es war den anderen sicherlich entgangen und nur deshalb hatten sie es mir nicht sofort abgenommen.
Ich hielt es dem Comissario ein Stück entgegen und nuschelte: „Geburtstagsgeschenke. Für meine Schwester Alma. Habe ich heute Nachmittag im Laden von Oskas gekauft.“
Die kleinen schmalen Schweineaugen des Comissario wurden mit einem Mal kugelrund. „Hast du gerade Oskas gesagt?
Oskas Galatani?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, wie der heißt. Ja, kann schon sein. Mein Freund hat mich dorthin geschickt“, antwortete ich fast beiläufig, aber schon sichtlich genervt. Weshalb wollte der das denn wissen und warum machte er dann so einen Aufstand deswegen? Und überhaupt wo zum Geier war ich hier???
Das Dröhnen in meinem Kopf hatte endlich ein wenig nachgelassen. Mit einem Mal konnte ich wieder einigermaßen klar denken. Verstohlen sah ich mich um. Ich befand mich in einem großen Raum. An der hohen Decke erkannte ich ein bunt bemaltes Kreuzgewölbe. Wow! Papa war ein absoluter Liebhaber alter Gemäuer. In
jedem Urlaub schleppte er uns euphorisch durch Burgen und Kirchen und Schlösser. Garantiert wäre er voll begeistert von dem Kunststück hier. Die schmalen Fenster an den Wänden waren durch Sprossen in lauter kleine bunte Quadrate unterteilt. Im Raum befand sich ein breiter Tisch aus Holz, der mich sehr an Almas alten Schreibtisch erinnerte. Einige hohe antike Lehnstühle standen um ihn herum. An einer der fensterlosen Wände gab es ein Regal, das bis unter die Decke reichte. Es war vollgestopft mit Büchern, Schriftrollen und anderem Kram. Wieder musste ich an den kleinen Laden denken. Vorsichtig drehte ich mich um. Die Kerle, die mich hierher geschleppt hatten, trugen
nicht nur genau die gleichen altertümlichen Klamotten wie der Comissario. An ihren Gürteln hingen Schwerter, echte Schwerter aus blankem Metall. Schnell drehte ich mich wieder um und fuhr mir mit einer Hand heftig über die Augen. Ich musste träumen. Ganz sicher! Ich war wohl noch immer bewusstlos! Dieses Mal hatten Tom und seine Halbaffen mich ganz sicher erwischt und windelweich geprügelt.
„Was hast du mit Oskas Galatani zu schaffen?“, donnerte der Comissario. Ich zuckte zusammen, trat einen Schritt zurück und prallte dabei gegen den Bauch des Mannes, der hinter mir stand.
„Ich habe gar nichts mit ihm zu schaffen“, motzte ich. Doch ich fühlte mich dabei
nicht besonders wohl. Die wütende Stimme des Comissario hatte mich ziemlich eingeschüchtert. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, mein Mund war urplötzlich staubtrocken und die Zunge klebte mir am Gaumen. Ich fing an zu zittern und meine Hände waren schweißnass. Es waren die gleichen Symptome, die mich überfielen, wenn Tom und seine Clique mir mal wieder irgendwo in der Stadt aufgelauert hatten und hinter mir her waren. War das ein bescheuerter Traum! Ich musste schnellstmöglich aus ihm erwachen.
„Woher kennst du ihn dann?“ Die Stimme des dicken Mannes war unverändert wütend und forderte eine Antwort.
„Mein Freund Ben hat ihn mir empfohlen, also den Laden von diesem Oskas, meine ich. Weil ich ein Geschenk für meine Schwester gesucht habe“, antwortete ich schon fast panisch.
Aufwachen, rief ich mir in Gedanken zu, ich wollte so schnell wie möglich aufwachen. Der Kerl machte mir Angst.
„DU LÜGST!!!“ Der Comissario kam mit einem Satz, den ich ihm aufgrund seiner Leibesfülle überhaupt nicht zugetraut hatte, auf mich zu gesprungen. Er packte mich an meinem Shirt und rüttelte mich ordentlich durch. „Sag endlich die Wahrheit, du kleiner Betrüger!“
Weil ich befürchtete, dass ich meine Geschenke fallen lassen würde, drückte ich
sie ganz fest an meinen Körper. Ich spürte das metallene Kreuz mit seinen vier Glassteinen schmerzhaft an meiner Brust. Es fühlte sich beinahe so an, als ob es sich in meinen Körper brennen wollte.
„AUFWACHEN!“, schrie alles in mir.
Obwohl ich das Buch am liebsten von mir geworfen hätte, hielt ich es fest an mich gedrückt, trotz des Schmerzes an meiner Brust. Mit einem Mal kam es mir so vor, als ob ich anfangen würde zu fliegen. Jemand hatte das verdammte Kettenkarussell wieder in Gang gesetzt. Um mich herum wirbelte alles durcheinander. Ein Strudel aus bunten Farben und verzerrten Figuren riss mich mit sich.
Schlagartig wurde mir kotzübel.
Kapitel 3
Als ich endlich fertig gekotzt hatte, öffnete ich die Augen.
Verwundert rieb ich mir mit beiden Händen über mein Gesicht.
Es war heller Tag und ich saß in der Hintergasse auf dem Boden, mit dem Rücken gegen eines der alten Häuser gelehnt. Neben mir lag mein Rucksack, das Buch und das Päckchen mit dem Tintenfass lagen in meinem Schoß. Verwirrt schüttelte ich den Kopf und wischte mir umständlich den Mund mit meinem T-Shirt ab.
Oh, verdammt, ich hatte eine Gehirnerschütterung ganz bestimmt. Ich
musste so schnell wie nur möglich nach Hause und mit Mama zum Arzt.
Diesmal würden Tom und seine Halbaffen nicht so glimpflich davon kommen, das schwor ich. Das würde eine Anzeige geben bei der Polizei. Vielleicht würden sie ja sogar von der Schule fliegen. Oder in den Jugendknast kommen. Da würde das halbe Ringelnatz-Gymnasium aufatmen ganz sicher.
Mühsam richtete ich mich auf. Ich bückte mich vorsichtig, um meinen Rucksack aufzuheben und lief los. In meinen Schuhen schmatzten die nassen Strümpfe.
„Wer weiß, was du dir am Nachmittag in der Stadt mal wieder in den Magen
geschoben hast, mein Lieber. Los, rück schon raus mit der Sprache, ich sag es deiner Mutter auch nicht.“ Dr. Bentwart zwinkerte mir fröhlich zu. „Ärztliche Schweigepflicht du verstehst?“
„Ich habe gar nichts gegessen nur den Fraß in der Schulmensa heute Mittag. Wurde ja endlich mal Zeit, dass sich jemand damit vergiftet. Vielleicht stellen die dann mal einen richtigen Koch ein.“ Ich zog mir mein Shirt über und schlüpfte wieder in die Schuhe.
„Alles klar, Nathanael.“ Dr. Bentwart, unser alter Kinderarzt, schlurfte zum Schreibtisch und setzte sich in seinen Ledersessel. „Eine Gehirnerschütterung hast du jedenfalls nicht“, murmelte er und
kritzelte dabei irgendwelche Hieroglyphen auf einen Zettel. „Und es gibt auch keinerlei Anzeichen dafür, dass dich irgendwer verprügelt hat.“
Ich sah ihn mit großen Augen ungläubig an. „Aber ... aber ich war bewusstlos und hatte so einen komischen Traum. Und ich musste tierisch kotz … ähm, mich übergeben.“
Dr. Bentwart schob sich aus dem Sessel hoch, kam auf mich zu und reichte mir die Hand zum Abschied. „Geh einfach früher ins Bett. Dann schläfst du auch am nächsten Tag nicht wieder im Sitzen ein.“ Er drückte mir einen rosafarbenen Zettel in die Hand. „Und gegen die Übelkeit holst du dir das hier aus der Apotheke.“ Damit
schob er mich aus dem Behandlungsraum.
Mama empfing mich im Wartezimmer mit ihrem besorgten Mütter-Blick. Als ich wieder vor ihr stand und Dr. Bentwart sagte, dass mit mir alles in Ordnung sei, streichelte sie mir über den Kopf. Ich spürte, wie mein Gesicht von einer auf die andere Sekunde feuerrot wurde. Wie peinlich! Mama wusste doch ganz genau, dass ich es absolut nicht ausstehen konnte, wenn sie das in aller Öffentlichkeit tat. Und das auch nicht erst seit gestern.
Hinter mir hörte ich es leise kichern. Ich drehte mich um und sah in das grinsende Gesicht von Julie Tharan, der Oberzicke aus meiner Klasse. Na, toll! Dann wusste ich schon jetzt ganz genau, über wen
morgen in der 8 d am meisten gelacht wurde. Danke, Mama.
Zuhause legte ich mich auf Mamas Befehl hin gleich ins Bett. Irgendwie schlief ich auch sofort ein. Doch mein Traum war voll mit allen Erlebnissen des vergangenen Tages. Sie mischten sich, als hätte sie jemand in den Mixer geworfen. Tom und seine Halbaffen jagten mich bis in die Praxis von Dr. Bentwart, wo mich der fette Comissario und Oskas erwarteten. Oskas hielt mir ein altes zerfleddertes Buch entgegen und grinste mich dämlich an. Ich kotzte den beiden den Schulmensafraß vor die Füße und wanderte dann mit einer kleinen Laterne in der Hand nach Hause, wo mich Mama
schon mit Julie Tharan erwartete und mir über den Kopf streichelte.
„AUFWACHEN!“, schrie es wieder in mir, doch es dauerte bis zum nächsten Morgen.
Kapitel 4
Am übernächsten Nachmittag klingelte es an der Wohnungstür. Ich saß gerade in der Küche und verputzte heimlich die letzten zwei Stücke Sahnetorte, die von Almas Geburtstagskaffee übrig geblieben waren. Gleich würde Mama von Arbeit kommen und dann musste ich es geschafft haben. Was ich gegessen hatte, war weg! In mir drin. Und hat geschmeckt! Da konnte Mama meckern wie sie wollte.
Ich wischte mir die süße Sahne aus den Mundwinkeln und ging zur Tür, um sie zu
öffnen.
Es war Ben. Und noch ehe ich ihn begrüßen und in den Flur bitten konnte, hatte er sich bereits an mir vorbei geschoben. Typisch Ben. Fühlte sich immer wie zu Hause bei uns.
„Komm ruhig rein“, murmelte ich und schloss die Tür wieder.
„Hast du noch was davon?“, fragte er und zeigte auf einen Rest Sahne in meinem Gesicht, den ich vergessen hatte wegzuwischen. Ich schüttelte den Kopf. „Nein, tut mir leid. Das waren nur noch zwei winzig kleine Stückchen.“ Schnell wischte ich noch einmal mit dem Ärmel über meinen Mund, um die letzten Spuren meiner Sahnetortenschlacht zu beseitigen.
Ben zuckte mit beleidigtem Gesichtsausdruck die Schultern. Doch dann trat er ganz nah an mich heran und raunte mir zu: „Wo ist das Buch?“
Ich sah ihn verständnislos an. „Welches Buch?“, fragte ich.
„Welches Buch?! Welches Buch?! Das Buch natürlich, das dir Oskas gegeben hat“, schnarrte Ben.
„Alma. Ich habe es Alma geschenkt“, antwortete ich und sah ihn komisch an. Was war denn mit dem los? Und überhaupt woher wusste er von dem Buch?
Ben bekam plötzlich einen panischen Gesichtsausdruck. „Du musst es dir zurückholen, Nathanael! Es gehört dir.
Oskas hat es dir gegeben.“
„Jetzt bleib mal ganz locker, Ben. Was redest du denn da für einen Mist? Was soll ich denn mit dem ollen Buch? Woher kennst du diesen Oskas überhaupt? Und woher weißt du, dass er mir ein Buch gegeben hat?“
Ben packte mich am Arm und zog mich in mein Zimmer. „Hey, was soll denn das?“, protestierte ich. Doch Ben schob mich ziemlich grob zu meinem Bett und drückte mich auf die Matratze.
„Es gehört dir, Nathanael. Ich kann es dir nicht erklären. Aber lass uns zu Oskas gehen mit dem Buch! Es ist wichtig!“ Ich verstand rein gar nichts. Weshalb benahm sich mein bester Freund Ben so seltsam?
War er unter die Junkies gegangen? Was zum Geier hatte er genommen? An unserer Schule wurde heimlich mit bunten Pillen gedealt, die einen komisch oder irre werden ließen, das wusste ich. Aber Ben? Das konnte nicht sein, oder?
Mein bester Freund war unterdessen zur Tür gelaufen. Er riss sie auf und trat in den Flur. Als ich ihm folgte, sah ich gerade noch, wie er in Almas Zimmer verschwand.
„Ben!“, krächzte ich. „Was machst du denn da? Alma bringt uns um!“ Ich rannte ihm nach.
Meine Schwester war wirklich in Ordnung, ehrlich. Ich wusste, dass sie mich über alles liebte. Doch was sie auf
den Tod nicht ausstehen konnte, war, wenn ich in ihrem Zimmer herum schnüffelte.
Almas Zimmer glich einem Museum. Das Bett, in dem sie schlief, war uralt. Sie hatte es guten Bekannten unserer Eltern abgeschwatzt, die auf einem Bauernhof aus dem 17. Jahrhundert lebten. Dort hatte es über viele Jahre hinweg unbeachtet auf dem Dachboden der Scheune gestanden. Papa hatte es mit Alma gemeinsam restauriert und wieder benutzbar gemacht. Neben einer großen Truhe, die mit wunderschönen bunten Intarsien verziert war, stand der breite Schreibtisch. In eines der Schubfächer war die Jahreszahl 1665 eingeritzt, doch Papa vermutete, dass
er in Wirklichkeit noch viel älter war. Er hatte ihn auf einem Trödelmarkt erstanden und Alma zum Geburtstag im letzten Jahr geschenkt. Jetzt entdeckte ich darauf das kleine Tintenfass, das sie gestern von mir bekommen hatte. Es passte wirklich perfekt dorthin. Auf dem Fensterbrett und in den alten Holzregalen standen unzählige Sammlerstücke meiner Schwester aus verschiedenen Jahrhunderten.
„Ben! Bist du wahnsinnig? Ich darf nicht ungebeten in Almas Zimmer gehen. Und du gleich gar nicht!“, motzte ich.
„Dann geh doch raus!“, schnarrte Ben, während er sich suchend umsah. Schon im nächsten Moment trat er auf das Bücherregal über dem Bett zu und zog das
Buch zwischen den anderen heraus. „Da haben wir ja dein gutes Stück!“, sagte er zufrieden.
„Stell das augenblicklich zurück. Das habe ich Alma geschenkt“, sagte ich in ziemlich barschem Befehlston. „Und woher weißt du überhaupt, wie das Buch aussieht?“, schob ich verwundert nach.
„Beruhig dich, Nathi. Ich erklär es dir doch gleich“, sagte Ben.
Draußen vor der Wohnungstür hörten wir Stimmen. Alma kam aus der Schule und sie hatte ihre Freundinnen dabei.
„Schnell, raus hier“, hauchte ich und sah erschrocken zur Tür. „Und das stellst du gefälligst wieder zurück.“ Ich zeigte auf das Buch in Bens Hand.
Der Schlüssel rasselte im Schloss. Wie von der Tarantel gestochen stürzten wir aus Almas Zimmer und verschwanden hinter meiner Tür. Wir hatten sie gerade geschlossen, als Alma mit ihren Freundinnen kichernd durch den Flur lief.
„Puh, das war echt knapp. Mach das nie wieder!“, sagte ich wütend zu Ben und ließ mich auf mein Bett fallen. Doch im selben Moment riss ich meine Augen weit auf. In seiner Hand trug er nämlich das Buch.
„Hast du sie nicht mehr alle? Ich hatte doch gesagt ...“
„Bleib mal locker, Nathi“, unterbrach mich Ben, „Komm mit zu Oskas. Dort erklären wir dir alles.“
Kapitel 5
Über uns erklang das schrille Bimmeln der Glocke. Sie machte wieder denselben höllischen Lärm wie vorgestern und ich zuckte auch dieses Mal erschrocken zusammen.
Oskas` Trödelladen kam mir an diesem Nachmittag noch viel seltsamer vor. In den dünnen Sonnenstrahlen, die sich durch das kleine Fenster in den Raum zwängten, tanzten wieder glitzernde Staubkörnchen. Und wieder bekam ich das beklemmende Gefühl, dass ich in einer ganz anderen Zeit gelandet war.
Ben hatte mich ohne weitere Erklärungen zu dem kleinen Laden geschleppt. Ich war nur sehr widerwillig mitgekommen. Nach wie vor glaubte ich, dass er völlig verrückt
geworden war.
„Hallo? Oskas?“ Ben lief bis zur Theke, beugte sich darüber und lugte von dort aus zu der schmalen Tür, die ins Hinterzimmer führte. Es raschelte hinter dem schweren Vorhang. Dann wurde er zur Seite gezogen und dieser Oskas stand hinter der Verkaufstheke.
„Benedict schön dich zu sehen“, sagte er lächelnd. Dann fiel sein Blick auf mich und sein Gesicht schien plötzlich noch ein wenig mehr zu strahlen. „Nathanael. So schnell sieht man sich wieder. Ich freue mich, dass es dir gut geht. Der fette Comissario hat sich wohl ganz schön gewundert, als du plötzlich wieder weg warst, was?“, redete Oskas auf mich ein.
Mir klappte die Kinnlade nach unten. Woher wusste dieser Trödelladenbesitzer meinen Namen? Und wie um alles in der Welt konnte er von meinem Traum erfahren haben? Die Begegnung mit dem fetten Comissario war doch nur in meinem Traum passiert! Was zum Geier war hier los?
Ich bemerkte, wie Ben Oskas komische Zeichen machte. „Langsam, Oskas, alter Freund. Du überforderst Nathanaels Vorstellungskraft. Ich habe ihm noch nichts verraten“, raunte er Oskas zu.
Ich sah von Ben zu Oskas und wieder zu Ben zurück.
Okay, Ben und dieser Oskas kannten sich also besser als ich vermutete. Und Oskas
wusste auch, wer ich war von Ben, schlussfolgerte ich. Aber wie konnte er von meinem Ohnmachtstraum wissen?
Die schrille Glocke über der Tür ertönte noch einmal. Gleich darauf trat ein älteres Paar in den Laden.
„Geht nach hinten, ich komme sofort zu euch“, flüsterte uns Oskas zu und zog uns hinter die Theke.
Das Hinterzimmer stand voller Kisten und Kartons. Ganz sicher waren sie allesamt bis unter den Deckel mit altem Trödelkram vollgepackt. Ich sah mich um. Auf einem kleinen Ofen, in dem ein Feuerchen flackerte, stand eine Kanne aus Metall. Dampf stieg aus ihr auf und es roch nach frisch gebrühtem Kräutertee. Es gab einen
kleinen Tisch mit vier Stühlen. Alles sah genauso altertümlich aus, wie die Dinge, die er vorn in seinem Laden verkaufte. Anscheinend besaß Oskas nichts Modernes.
An einer Wand befand sich eine bogenförmige Holztür. Ich überlegte, wo sie hinführen könnte und stutzte, als mir bewusst wurde, dass sie sich an der gleichen Wand befand, wie die Tür zum Verkaufsraum. Es gab im Laden, soviel ich gesehen hatte, keinen zweiten Eingang nach hinten. Verwundert trat ich durch die eine Tür nach vorn und sah noch einmal nach, doch es gab wirklich keine zweite. Kopfschüttelnd ging ich wieder nach hinten.
„Wohin führt diese Tür?“, fragte ich Ben.
Ich hoffte, er kannte die Antwort auf meine Frage. Ben zuckte mit den Schultern. „Ich darf es dir nicht sagen.“
„Warum?“, fragte ich.
„Weil Oskas es dir selbst sagen wird“, war Bens Antwort.
Eine viertel Stunde später trat Oskas durch die schmale Tür. Er nahm sich eine Tasse aus dem Regal an der Wand und goss sich Tee ein. „Wollt ihr auch einen?“, fragte er und wies auf die anderen Tassen. Ben bediente sich er fühlte sich anscheinend auch hier wie zu Hause. Ich lehnte ab.
„Alles, was ich will, ist die Erklärung dafür, weshalb sich Ben plötzlich wie ein Verrückter aufführt und ein paar Antworten auf meine Fragen“, erklärte ich.
Mein Tonfall klang fast trotzig.
Oskas machte es sich auf einem der Stühle bequem. „Gut, Nathanael. Ich werde versuchen, dir die nötigen Antworten auf deine Fragen zu geben.“
„Was hat es mit dem Buch auf sich? Und warum haben Sie es gerade mir gegeben?“, begann ich und hielt Oskas das alte Buch entgegen.
„Es ist ein altes magisches Buch. Weshalb das so ist, weiß ich leider nicht. Aber ich habe es von meinem Ziehvater Darios bekommen mit dem Auftrag, es dir zu bringen“, erklärte Oskas.
„Wer ist dieser Darios?“, wollte ich wissen.
„Ein alter Gelehrter aus Emotan. Er hat
mich vor einigen Jahren zu sich genommen, als die Häscher Nermonas meine Eltern verschleppt und unseren Hof zerstört hatten.“
Ich verstand Bahnhof. Was war das für ein Spinner, der hier vor mir saß und heißen Tee aus einer alten Tasse schlürfte.
„Emotan, Nermona hallo? Habt ihr sie noch alle?“ Ich sprang auf und lief in dem kleinen vollgestopften Zimmer umher. „Ich glaube, ihr seid bescheuert!“
Oskas schüttelte den Kopf. Dann stellte er seine Tasse ab, erhob sich ebenfalls und sagte: „Gut, wahrscheinlich glaubst du uns erst, wenn du es selbst gesehen hast. Also, dann lasst uns gehen.“
„Wohin?“ Ich sah ihn verwundert an.
„Nach Emotan“, lautete Oskas` kurze und knappe Antwort. „Du warst vorgestern schon einmal da, erinnerst du dich nicht?“, fügte er hinzu.
Ben schlug sich grinsend mit den Händen auf die Oberschenkel und schob sich vom Stuhl. Die Beiden gingen auf die Bogentür aus Holz zu, von der ich nicht wusste, wohin sie führte. Mittlerweile war ich zu der Erkenntnis gekommen, dass es die Tür zu einem Schrank sein musste, doch in diesem Punkt hatte mich reichlich getäuscht.
Ben forderte mich auf, ihnen zu folgen. Ich zögerte etwas, stellte mich dann allerdings doch neben ihn. Als Oskas die Tür mit einem alten Schlüssel, den er an
einem Lederband unter seinem Hemd trug, geöffnet hatte, blieb mir vor Staunen fast die Luft weg. Hinter der Bogentür lag ein dunkler Gang.
Kapitel 6
Plötzlich wurde mir schlecht und ich fühlte mich wieder einmal so, als würde ich Kettenkarussell fahren. Es war allerdings nicht ganz so schlimm wie die anderen Male.
„Wir haben es gleich geschafft“, hörte ich Oskas neben mir sagen.
„Mir ist kotzübel“, antwortete ich ihm.
„Mit der Zeit gewöhnst du dich daran“, meinte Ben und ich konnte förmlich sein Grinsen spüren, obwohl ich sein Gesicht nicht sah.
Um uns herum war es dunkel. Nur ab und zu blitzen kleine bunte Lichter auf. Es war, als würden wir uns schnell vorwärts bewegen, doch ich merkte, dass ich meine Füße nicht einen Meter weiter setzte.
Es kam mir eher so vor, als würde uns irgendeine Kraft herum wirbeln. Ein starker Wind, fast ein Sturm lautlos allerdings.
Nach ein paar Augenblicken war es vorbei, wir standen in einem spärlich beleuchteten Raum. Als das Drehen in meinem Kopf aufgehört hatte, sah ich mich verstohlen um. Wir befanden uns nicht mehr in Oskas` Laden, soviel stand schon mal fest. Aber wo waren wir dann?
„Wo sind wir?“, flüsterte ich und versuchte
intensiv zu atmen, damit ich nicht kotzen musste. Doch das Einatmen der modrigen Luft hier in diesem Raum machte es auch nicht besser.
„Wir sind in Emotan. Genauer im Haus meines Ziehvaters Darios. Kommt, wir wollen ihn begrüßen“, meinte Oskas, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, durch eine Tür in der Wand in einen Gang zu gelangen, der einen irgend woanders hin führte. Ich schleppte mich erst einmal zu einem Stuhl, der in meiner Nähe stand und ließ mich darauf fallen.
„Leute, nehmt es mir nicht übel aber bin ich jetzt auch irgendwie bescheuert geworden? Ich träume, oder? Ihr verarscht mich doch! Wo kommt jetzt der
Mann mit der versteckten Kamera?“, keuchte ich, als hätte ich einen 10-Kilometer-Lauf hinter mich gebracht.
„Nein, ganz und gar nicht. Emotan ist eine wahre Welt. Unsere Welt. Los, lass uns gehen“, erwiderte Oskas, während er die Tür öffnete, die aus dem Raum heraus führte. Ben zog mich vom Stuhl hoch und schob mich in Oskas` Richtung. „Los, komm schon!“
Wir schritten einen langen mit großen Fackeln beleuchteten Gang entlang. Aller paar Meter gab es Türen, an denen wir allerdings vorbei liefen. Erst vor einer Tür ganz am Ende des Ganges blieben wir stehen. Oskas hob die Hand und klopfte.
„Herein“, erklang eine Stimme aus dem
Raum hinter der Tür.
Oskas öffnete die Tür und ließ Ben und mich eintreten, ehe er uns in den Raum folgte und sie wieder schloss.
„Guten Abend, Darios. Verzeih mir, aber ich musste Nathanael sofort mitbringen. Er hat uns nicht geglaubt und ich hatte nicht ein richtiges Wort im Herzen, das ich ihm hätte sagen können.“
Der alte Mann, der hinter einem Schreibtisch saß, der über und über mit alten Büchern und Blättern belegt war, erhob sich von seinem Stuhl. Er kam auf uns zu. Dabei musterte er mich mit seinen strahlenden blauen Augen von oben bis unten.
„Nathanael Cajetan“, sagte er, fasste mich
bei den Schultern und zog mich ganz dicht an sich heran. Er ließ seine Augen über mein Gesicht wandern, als wollte er jeden einzelnen Zentimeter davon scannen. „Ich glaube es kaum, du siehst deinem Vater so sehr ähnlich, wie aus dem Gesicht geschnitten.“
Ich sah den alten Mann verwundert an. Ich sollte meinem Vater ähnlich sehen? Nie und nimmer! Mein Vater war groß und muskulös gebaut. Er hatte dunkelblondes Haar und dichte Brauen über den braunen Augen. Und nicht nur mir war aufgefallen, dass ich meinen Eltern in keiner Weise ähnlich sah. Manch einer behauptete sogar gemeinerweise - mit Anspielung auf mein dichtes schwarzes Haar, meine stahlblauen
Augen und den eher schmächtigen Körperbau - sie hätten mich ganz sicher vor der Haustür gefunden.
„Wenn Sie meinen Vater kennen, dann aber nicht sehr gut“, erwiderte ich murmelnd.
„Doch, ich kenne deinen Vater sehr gut. Joram Cajetan war einer meiner Schüler“, murmelte Darios und lächelte still vor sich hin.
Ich schüttelte den Kopf. „Sie müssen sich irren. Mein Vater heißt Hannes de Boer.“
Was stimmte hier nicht?
Darios ließ eine Weile seinen Blick auf mir ruhen, dann nickte er langsam. „Jaja, ich verstehe“, murmelte er. Er schwieg einen Augenblick. „Hannes de Boer ist das für dich, was ich für unseren guten Oskas bin.
Ein Ziehvater und einer unserer Verbündeten, die in der modernen Zeit Zuflucht gesucht haben. Er und seine Familie haben dich damals zu sich genommen, als es hier für dich gefährlich wurde“, erklärte dieser alte Mann dann seelenruhig mein Leben.
Ich sah Darios verdattert an. Der hatte ja einen noch viel größeren Knall als Oskas und Ben zusammen. Es schien so, al könnte Darios meine Gedanken erraten. Er ging zu einem kleinen Schränkchen, das unter einem der Fenster stand, zog eine Schublade auf, holte etwas heraus und kam zu uns zurück. Mit einem Lächeln auf den Lippen drückte er mir das, was er geholt hatte, in die Hand. Es war ein
schwarzer Bilderrahmen aus Holz mit einem gemalten Bild darin. Als ich mir das Bild ansah, wurde mir beinahe schwindlig. Ich blickte meinem eigenen Ich entgegen, es war nur ein paar Jahre älter.
Darios bot uns Plätze an. Als wir saßen und jeder von uns eine Tasse mit stark riechendem Kräutertee vor sich hatte, begann er zu erzählen:
„Nermona ist die Herrscherin über unser Nachbarland Salaphia. Salaphia ist ein großes Land, das einstmals sehr reich gewesen war. Doch die verschwenderische Lebensweise Nermonas hatte mit den Jahren alle Reichtümer aufgebraucht. Die einzige Chance, ihr Land oder besser gesagt sich selbst - vor
bitterer Armut zu retten, war, ein anderes Land zu unterwerfen und auszubeuten. Also hat sie vor 14 Jahren ihre Soldaten über das Gebirge geschickt, um unser kleines Emotan zu überfallen. Wir sind mit unseren Nachbarn immer sehr gut ausgekommen, hatten immer im Frieden gelebt und aus diesem Grund gab es keine Armee. Es war ein Kinderspiel für Nermona. Und die Wächter, die zum Schutz unseres kleinen Reiches ausgebildet wurden, hatten keine Chance. Die Häscher Nermonas haben sie allesamt aufgespürt und verschleppt. Und mit ihnen viele andere Emotaner. Keiner weiß, wohin. Wir vermuten, dass sie sich irgendwo in Salaphia befinden. Es gibt nur wenige
Nachkommen der Wächter, die es schaffen könnten, Nermonas Macht und somit die Unterdrückung zu beenden. Oskas, Hannes und Benedict gehören dazu. Oskas konnte vom Hof seiner Eltern fliehen, noch ehe die Häscher ihn entdeckten. Er ist bei mir untergetaucht. Benedicts Familie und die Familie von Hannes haben es geschafft, in der modernen Zeit unterzutauchen, zusammen mit dir, dem direkten und einzigen Nachkommen Joram Cajetans, dem obersten Wächter und Magier Emotans. Nermona hat ganz Emotan nach dir abgesucht, doch wir waren schneller. Die Tore zur modernen Zeit haben es uns möglich gemacht, dich, Benedict, Oskas und ein paar andere zu retten.“
Darios machte eine kurze Pause. Ich saß vor ihm und starrte ihn mit offenem Mund an.
„Nun ja, vor zwei Tagen wärst du den Häschern und dem fetten Comissario beinahe in die Hände gefallen, habe ich gehört.“ Der alte Mann sah mich eindringlich an. Ich nickte, unsicher, ob ich tatsächlich verrückt geworden war. Woher wusste auch er von meinem Ohnmachtstraum? Mein Gesichtsausdruck schien Darios meine Gedanken zu verraten.
„Du fragst dich, woher ich davon weiß? Nun, ich habe zwei Leute in die Gruppe der Häscher eingeschleust, die es mir berichtet haben“, erklärte Darios lächelnd.
„Wie bin ich dort hingekommen?“, fragte
ich mit trockenem Mund. Ich griff nach der Tasse und nahm einen Schluck des nun bereits kalten Tees.
„Es war das Buch. Es ist einer der geheimen Notein- und -ausgänge. Wenn du dich zu weit von einem der Tore befindest, dann kann es dir helfen. Es ist aber besser, wenn du eins der Tore benutzt, denn der Weg durch das Buch ist oft recht unangenehm.“ Allerdings. Ich nickte zustimmend. Selbst wenn ich noch immer glaubte, die verarschten mich gehörig. Aber ohne es mir erklären zu können, spürte ich in meinem Herzen, dass das, was Darios sagte, der Wahrheit entsprach.
„Warum hat Oskas das Buch gerade mir gegeben?“, wollte ich wissen.
Darios sah einen Augenblick lang stumm vor sich hin. Es war, als müsste er über die Antwort selbst genau nachdenken.
„In diesem Buch steht, wie wir Nermonas Herrschaft brechen können. Und es verrät dir, wie du deine Fähigkeiten anwenden kannst“, antwortete er nach ein paar Augenblicken.
„Warum habt ihr es dann nicht selbst gelesen? “ Das wäre doch das Einfachste gewesen, anstatt zu warten, bis ich mal hier vorbei schaue, vorausgesetzt, das Märchen von Emotan, Nermona und meinem angeblich richtigen Vater war keine Verarsche.
„Weil wir die Sprache der Magier nicht verstehen können. Das könnt nur ihr, dein
Vater und du.“ Darios schien keinesfalls ungeduldig zu werden. Er erklärte mir alles ganz in Ruhe.
„Aber ich kann es genauso wenig wie ihr“, gab ich zu bedenken.
„Ich bin mir sicher, dass du es kannst. Es liegt in dir.“ Darios legte seine rechte Hand auf meine Herzseite. „Wir müssen dir nur noch den Schlüssel geben, mit dem du das Buch öffnen kannst. Hannes de Boer trägt ihn seit langer Zeit um den Hals und beschützt ihn mit seinem Leben.“
Ich legte das Bild beiseite und griff nach dem Buch, das ich vor mich auf den alten Holztisch gelegt hatte. „Dafür brauchen wir doch keinen Schlüssel. Es dürfte doch kein Problem sein, das Buch zu öffnen“,
sagte ich und begann, mit den Fingern am Schloss herum zu zerren. Darios schoss von seinem Stuhl hoch und riss mir das Buch aus der Hand. „Nein!“, rief er aufgebracht. „Wenn du das Buch ohne den Schlüssel öffnest, wird es dir nicht viel nützen. Dann denkt das Buch, dass du ein unrechtmäßiger Benutzer bist. Es wird dir sein Geheimnis in diesem Fall nicht offenbaren. Es wird sein Geheimnis nie wieder jemandem offenbaren.“
Das Buch denkt??? Ich rieb mir mit den Fingern die Stirn. All das Gerede von Wächtern, Magiern, Nermona, Emotan und anderem seltsamen Zeug bereitete mir starke Kopfschmerzen.
Ich sah einen nach dem anderen an; erst
Ben, dann Oskas, Darios und wieder Ben.
„Also, nun noch mal ganz von vorne. Ihr behauptet, ich habe einen Vater, der ein sogenannter Wächter über euer Emotan ist und ein Magier noch dazu. Er wird irgendwo gefangen gehalten und meine Eltern da draußen, sagen wir mal draußen, sind gar nicht meine richtigen Eltern. Ich kann eine magische Sprache verstehen, die in diesem Buch hier steht und damit die Herrschaft dieser Tante, dieser Nermona, beenden.“
Alle drei nickten wie abgesprochen.
„Ihr spinnt doch alle“, rief ich aufgebracht. Was sollte das? Weshalb wollten die drei mir einreden, dass meine Familie, die ich über alles liebte, gar nicht
meine richtige Familie war? Welchen Grund sollte es geben, mir so einem Mist zu erzählen?
Ich erhob mich und ging zur Tür. Das Buch und das Bild ließ ich unbeachtet auf dem Tisch zurück. Doch noch ehe ich den Raum verlassen konnte, war Darios hinter mir hergekommen und hielt mich an der Schulter zurück.
„Nathanael Cajetan du musst uns glauben. Alles, was wir gesagt haben, ist wahr. Du bist Wächter und Magier unseres Landes. Und nur du kannst mithilfe deiner Magie Nermonas Macht brechen. Nur du kannst unser Volk, das auch dein Volk ist, retten.“
Seine gütigen Augen blickten mich eindringlich an. Ich hielt seinen Blicken
stand. Die Worte wirbelten in meinem Kopf herum und verwirrten mich nur noch mehr. Doch ich sah in seinen Augen Wahrheit. Zumindest fühlte ich, dass er mich nicht anlog. Erklären konnte ich mir das in diesem Moment nicht. Plötzlich schien sich alles um mich zu drehen. Der Raum, Ben, Oskas und Darios, meine Gedanken, mein ganzes Leben. Es war, als würde in diesem Moment alles durcheinander geworfen, wie Wäsche beim Schleudergang in der Waschmaschine. Alles war noch so, wie es eben war, nur konnte ich nichts davon klar erkennen. Meine Eltern waren nicht meine Eltern, Alma nicht meine Schwester. Und wer verflixt noch mal war eigentlich Ben?
Innerhalb weniger Augenblicke wusste ich nichts mehr, weder wer ich war, noch wer ich sein würde. Es kam mir so vor, als hätte sich mein ganzes bisheriges Leben direkt vor meinen eigenen Augen in Nichts aufgelöst.
TaraMerveille Danke fürs Lesen. Zumindest hat dir der Prolog gefallen ;) LG Yvonne |
AmeeBrooks ganz anders wie mein Werk aber dennoch megatoll geschrieben ...gefällt mir ..... Lieben Gruß Amee |
TaraMerveille So, jetzt noch mal mit Anmeldung. ich freue mich, Amee, dass es dir gefällt. Danke. LG Yvonne |
TaraMerveille Vielen Dank fürs Lesen. Ich freue mich, dass es dir bis jetzt gefällt. LG Yvonne |