A. Einleitende Worte
Es war Jürgen Habermas, welcher verkündete, dass wir nun im nachmetaphysischen Zeitalter leben. Also einem Zeitalter, in dem wir uns nicht mehr Dinge zum Maßstab machen, welche außerhalb unseres Wissens sind und die wir damit auch nicht fassen können. Das bedeutet schlichtweg Gott und alles andere Transzendente.
Bezeichnend ist, dass derselbe Mann Jahrzehnte später, das neue Jahrtausend war noch nicht besonders alt, verkündete, man küsse sich mehr dem religiösen Bürger zuwenden.
Eine ähnliche Spaltung durchzieht unsere
Welt. Einerseits schrecken wir vor den Gräueltaten, welche Menschen verüben, die angeblich im Namen des einen Gottes handeln, zurück. Zugleich nimmt die Zahl derer, die sagen, dass sie selbst an etwas jenseits des Wissens glauben stetig zu. Wie passt dies zusammen? Und kann man jene Spaltung aufheben?
B. Der große Graben
Beginnen wir mit einer Bestandsaufnahme. Natürlich wäre es dumm die Schrecken des Extremismus der Religion als Allgemeinmerkmal anzukreiden. Neben den wenigen Spinnern gibt es die beträchtliche Majorität jener, die in Frieden leben und ihrem andersgläubigen Nachbarn kein Haar krümmen.
Und trotzdem berufen auch die Irren sich auf die heiligen Schriften und ihre eigenen sehr kruden Auslegungen dieser. Ihre Legitimationsgrundlage für Mord und Eroberungsfeldzüge sind die Worte der Heiligen. Alles ohne Sinn und
Zusammenhang, aber in ihren Köpfen macht es Sinn.
Jenseits dieser kleinen Gruppe glauben Milliarden von Menschen an Dinge jenseits des Wissens. Und das meint nicht nur die großen Glaubensrichtungen, sondern darüber hinaus auch die allgemein esoterisch eingestellten Personen. Es wird an allen Ecken an Kräfte geglaubt, welche ordnen, schalten und walten, jenseits aller Gesetze der Physik und anderer Wissenschaft. Vorstellen kann man es sich das Jenseitige, das beweisen Abbildungen und Geschichten aller coleur.
Aber jenseits des Begreifens der eigenen
Unendlichkeit in uns selbst, indem wir einen absoluten Standpunkt jenseits aller Wissenschaft einnehmen, da wir ihre Grenzen kennen (Hegel) hat es selbst der sublimste Denker nicht geschafft das Jenseitige zu erforschen. Thomas von Aquin verkündete, dass die Schau Gottes allein im Jenseits möglich und nicht vom Menschen durch Vernunft möglich sei. Kant musste resignierend feststellen, dass wir Gott weder widerlegen noch beweisen können.
Der Grund, warum wir abseits des sicheren Wissens, welches sich stetig erweitert, immer noch glauben dürfte die Unsicherheit des Jetzt sein. In einer immer schnelleren Welt, in der alte
Institutionen, die gestern noch so viel wert waren, heute nur noch ihre Schatten selbst sind, da gibt es nur noch Kontingenz. Und so suchen wir das Kontinuum und finden es im Glauben.
Aus dieser Zerrissenheit des modernen Menschen dürfte sich wohl die Sehnsucht nach einer festen Größe jenseits aller Schrecklichkeiten, welche auch in ebendiesem Namen begangen werden, resultieren. Und das obwohl wir schon lange genau wissen, dass wir wohl kaum auf etwas vertrauen dürfen, was wir nicht beweisen können.
C. Versuch der Überwindung
Daraus folgt für den Autor unumgänglich die Frage, ob es nicht sogar gute Gründe dafür gibt endlich und unumkehrbar ins nachmetaphysische Zeitalter zu treten?
Was kann man eindeutig sagen über Gott? Nichts! Kant scheiterte an seiner Widerlegung. Das bedeutet natürlich immer, dass es eine solche Existenz gibt. Doch offenbart er sich uns heute? Schon länger, nämlich seit Spinoza gibt es eine dazu passende Herleitung. Stellen wir uns einmal auf den Standpunkt es gäbe wirklich Gott und er ist nicht bloß der gedankliche unbewegte
Beweger, den man benötigt als erste Idee um den infiniten Regress zu verhindern. Dann sagt man doch Gott sei allmächtig. Was bedeutet aber Allmacht? Nicht nur ihre allumfassende Größe sondern Gott ist zugleich über jeden Zweifel erhoben, perfekt, derjenige, welcher alle Formen der Welt in sich vereinigt und diese selbst als Erster denkt (Aquin). Würde dieser unfehlbare und allmächtige Gott, der die Erde schuf, jetzt in sie korrigierend eingreifen müsste er sich selbst negieren, indem er sich eingesteht nicht unfehlbar zu sein. Da dies ja nun schlechterdings mit den zuvor aufgestellten Axiomen nicht vereinbar
ist, so wird Gott niemals in die Welt eingreifen. Das bedeutet er hat es in Gang gesetzt aber das war es dann auch schon.
Jetzt ist eigentlich der Weg frei. Wieso sollten wir unsere Geschicke in die Hände von jemandem legen, dem die Hände gebunden sind? Wieso sollten wir glauben dass es wichtigere und bessere Glauben gäbe? Im Ergebnis glauben alle im Kern an Dinge jenseits des Wissens, welche im letzten Schritt die erste Urkraft sind, die aber dem Menschen nichts geben kann als das, was es schon gibt.
Also kann man eigentlich alles wegwerfen und die Wahrheit allein in
sich selbst suchen. Was muss ich als Mensch beachten? Wie soll ich mich anderen Menschen gegenüber verhalten? Wann handele ich moralisch richtig? Alles dies muss ich aus mir selbst herausfiltern. Denn abgesehen vom Menschen gibt es nur noch Naturgesetze wie g = 9,81 m/s. Aus denen kann man allerdings keine Regeln ableiten für das richtige Verhalten, denn alles Leblose entbehrt der Moral. Aber ausgehend von der obersten Maxime, dass alle Menschen gleich sind und jeder einem jeden den gleichen Achtungsanspruch als Mensch an sich entgegen zu bringen hat (Kant – heute u.a. Art. 1 GG) lassen sich alle notwendigen grundlegenden
Werte entwickeln, welche für das menschliche Zusammenleben notwendig sind. Darauf muss nicht näher eingegangen werden, denn Zeugnis dessen haben wahrlich größere Köpfe bereits geliefert.
Oder anders ausgedrückt – Achtung des Anderen, ihm seine Freiheiten im größtmöglichen Umfange zu gewähren, man kann es auch Nächstenliebe nennen wenn man mag, lernen wir aus uns selbst. Dazu bedarf es keiner Heiligen Bücher.
Handeln wir also alle nach eben diesen Maximen in unserem Handeln und es bedarf nur der entsprechend unterfütterten Rechtsordnungen, welche
über uns herrschen als Wahrer des Friedens und zugleich exekutierbare Zwangsmittel, und alles könnte gut sein. Dann gäbe es eben nicht mehr die Irren, die sich auf diese Werke berufen könnten, denn es gäbe sie schlechtweg nicht mehr. Keine Glaubenskriege mehr, nur noch vernünftige Menschen. An Stelle des einen Gottes tritt das unerschütterliche Wissen um die Vernünftigkeit des Rechts und seiner einklagbaren und immer geltenden Grundwertungen. Gott wäre nicht tot, aber man würde ihm keine Beachtung mehr schenken.
D. Zweifel an der Lösung
So sehr dies alles wünschenswert erscheint, so zweifelhaft dürfte es wohl sein.
Leider kann die nachmetaphysische Philosophie nicht verhindern dass auch in ihr Extrempositionen auferstehen. Genannt sei exemplarisch Peter Singer. Als extremer Vertreter des Utilitarismus propagiert er dass es zum größten Nutzen der Gesellschaft ist, dass man ihr Schmerz und Nöte erspart. Das bedeutet für einen behinderten Menschen dass er der Euthanasie (i.S.d. griechischen Ursprungs – aus Mitleid entspringende Sterbehilfe) zuzuführen ist
– sein Leid wird gelindert und die Gesellschaft nicht unnötig belastet. Das erinnert fatal an die dunkelsten Stunden deutscher Geschichte. Zudem kann nicht mit Sicherheit gesagt werden ob eine der Wissenschaft in tiefster Verbundenheit hörige Gesellschaft nicht doch ihre selbstdestillierten moralischen Grundwerte Preis gibt um des Fortschritts Willen, wenn die mahnenden Worte aus dem Lager der Gläubigen verstummt sind.
So ungern man es zugeben will aber Habermas hatte wohl recht. Hinter seiner neueren Aussage verbirgt sich nämlich noch mehr. Der religiöse Bürger ist eine Person, die über die
Jahrhunderte wichtige Werte der Menschheit konserviert hat. In der Religion, gerade der katholischen Naturrechtslehre, haben sich Werte wie die menschliche Würde, in der Tat erst entfaltet und sind erhalten geblieben, bevor große Denker sie säkularisierten und aus ihrem transzendenten Gewand in die nicht metaphysische Welt zogen. Das bedeutet dass jene großen Gedanken, auf die wir unser nachmetaphysisches Haus errichten wollen, erst lange selbst heilige Begriffe waren.
Also ist es nicht so, dass in einer Welt, welche leider ihre Werte immer schneller Preis gibt wir den Glauben
notwendig brauchen um eben diese ewigen Werte weiterhin zu konservieren?
Überdies hinaus ist es dem Menschen seit Urzeiten ein Bedürfnis für seine Menschen auch für eine letzte Reise Vorsorge zu treffen. Die Neandertaler und Cro Magnongs bestatteten ihre Verstorbenen. Warum? Bestimmt nicht aus Spaß, denn zersetzt wird der Leichnam selbst, wieso sollte er also erhalten bleiben und wozu bedarf er Beigaben? Diese uns ureigenen Bedürfnisse nach einem Grundstock an mitleidiger Religiosität dürften wir wohl nie vollständig überwinden können.
E. Nachmetaphysisches Zeitalter als Utopie
Nach allem Gesagten erscheint eine Welt ohne Glauben eine Utopie zu sein. Insbesondere weil es fraglich ist, ob es wirklich eine bessere Welt wäre. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass anstelle der Götter andere treten, in deren Namen dann Vernichtungskriege geführt werden. Denn wenn es um Macht gibt schient manchen Menschen nichts heilig, was sie sich auf die Flaggen schreiben können um ihre Allmachtsphantasien zu rechtfertigen. Heute sind es krude Auslegungen heiliger Schriften, morgen krude Verständnisse der Vernunft.
So muss man wohl erkennen, dass wir wohl weiterhin dabei verharren und es immer bleiben werden, dieser tiefen Spaltung. Einerseits der Moderne, welche viele Werte hat aber zugleich einen Gott und Transzentales leugnet und die sie doch als Stütze bedarf um nicht aus den Fugen zu geraten.
Habermas hatte recht – wir bedürfen des religiösen Bürgers; vielleicht heute mehr denn je.