Sie tanzten nur eine Nacht
Felicity war die letzte, die ihre kleine Himmelslaterne noch immer in den Händen hielt. Sie wusste einfach nicht, was sie sich wünschen sollte. Die Idee von Ben hatte alle überrascht. Kurz vor Mitternacht bekam jeder seiner Partygäste diese kleine Laterne geschenkt und sollte sie, bestückt mit einem eigenen Wunsch, in den Himmel schicken. Für Ben war das überhaupt nicht typisch aber seine Idee kam bei den Gästen sehr gut an. Wenig später standen die etwa fünfundzwanzig Freunde auf dem kleinen Grundstück und plauderten wild durcheinander. Die
Liste der Wünsche war breit gefächert und Felicity musste bei einigen etwas schmunzeln. Ob die kleine Laterne es schaffte, für ein neues Auto zu sorgen, oder einen neuen Job? Oder ob der Wunsch nach einem ewigen und vor allem gesunden Leben in Erfüllung ginge? Wieder schaute sie in den Himmel, die Nacht war klar und unzählige Sterne funkelten wunderschön um die Wette. Nur die Tag-und Nacht-Dauerbeleuchtung des nahen Flughafens sorgte störend für dieses künstliche Strahlen am Horizont.
Was also sollte sich Felicity wünschen? Ein funktionierendes Auto besaß sie und ihre Arbeit machte ihr auch Spaß.
Seitdem sie damals vor vier Jahren überaus erfolgreich als Double in einem Kinofilm mitgewirkt hatte, bekam sie immer wieder Angebote von Filmproduktionen. Eine so große Rolle war zwar nicht wieder dabei gewesen, aber es war ein lukrativer Nebenverdienst, der ihren Job in der Zahnarztpraxis durchaus angenehm versüßte.
Für ein gesundes und vor allem ewiges Leben wollte sie den Wunsch auch nicht verschwenden, das erschien ihr zu unrealistisch. Sie hatte ja Augen im Kopf und sah, was passierte, wenn Menschen versuchten, das ewige Leben zu erreichen.
„Jetzt los, Felicity! Die ersten gehen schon wieder rein. Du wirst doch einen Wunsch haben. Wenn nicht, gib mir die Laterne, ich hätte noch einige in petto.“ Es war Cassandra, ihre beste Freundin, die an ihren Mann Flavio gelehnt, langsam die Geduld verlor. Ein frischer Wind wehte in dieser Nacht, obwohl es mitten im Sommer war, aber die Gänsehaut, die Felicity schon seit Minuten fühlte, störte sie nicht. Sie wollte sich etwas wirklich Richtiges wünschen, etwas, das in Erfüllung gehen könnte, wenn sie nur fest daran glaubte.
„Geht doch rein, ich komme gleich nach.“ Kurz drehte sie sich zu den beiden Turteltäubchen um und ohne es zu
wollen, war da wieder dieser kleine Stich in ihrem Herzen, den sie immer empfand, wenn sie die Zwei ansah. Cassandra hatte tatsächlich ihr großes Glück gefunden. Flavio war der beste Mann, den sich Frau vorstellen konnte und es war kein Wunder, dass die Hochzeitsgklocken vor einem Jahr so schnell läuteten. Cassandra hatte bekommen, wonach sie suchte und es war nur eine Frage der Zeit, bis sich der erste Nachwuchs ankündigen würde. Flavio war überhaupt nicht Felicitys Typ aber ohne es beeinflussen zu können, war sie manchmal ein ganz klein wenig neidisch auf ihre Freundin.
Genau in diesem Moment vermisste sie
Patrick. Er war der Mann an ihrer Seite oder sollte es zumindest sein. Aber wiedereinmal hatte er es vorgezogen, sich mit seinen Football-Freunden zu treffen, anstatt mit ihr hier auf dieser Party zu sein. Was war nur los mit ihnen? Felicity schlug die Arme um ihren Körper, versuchte erfolglos, sich vor dem kühlen Wind zu schützen und überlegte schon, ob sie die Laterne wirklich verschenken sollte. Was sollte das denn alles? Sie war seit fast zwei Jahren mit Patrick zusammen, wohnte sogar gemeinsam mit ihm in einer Wohnung und es war schon des Öfteren die Rede von Hochzeit gewesen. Und doch fehlte etwas. Es war das Funkeln in
den Augen, welches sie immer wieder still bei Cassandra und Flavio beobachtete. Auch die sanften, unauffälligen Berührungen, manchmal nur der Fingerspitzen. Oder ab und zu ein leise gesprochenes Wort, das Zärtlichkeit ausdrückte. All das gab es in ihrer Beziehung nicht. Auch wenn sie wusste, dass sie Patrick liebte, zweifelte sie ab und zu. Warum hatte er sie heute wieder sitzen gelassen?
Beide freuten sich über Bens Einladung und so kurz vorher, sagte Patrick wieder ab. Natürlich verspürte auch Felicity spontan keine Lust mehr auf die Feier, wollte nicht wieder die verliebten Pärchen sehen, die sich in ihrem
gemeinsamen Freundeskreis gebildet hatten. Und doch war sie, wie zum Trotz, zu dieser Party gegangen, um nun hilflos und wunschlos, wenn auch nicht wunschlos glücklich auf der Wiese zu stehen.
Längst waren alle wieder nach drinnen in den Partykeller verschwunden und Felicity konnte es niemanden übel nehmen. Sie würde jetzt das Licht anzünden und sich wünschen, dass sie mit Patrick genauso glücklich wird, wie Cassandra mit Flavio. Sie musste den Wunsch ja nicht laut aussprechen, nur fest daran glauben. Ehrlich war er auf jeden Fall und sie gab die Hoffnung auch nicht auf. Vielleicht brauchte
Patrick einfach mehr Zeit und konnte nicht auf seine Freiräume verzichten.
Felicity suchte in ihrer Tasche nach dem Feuerzeug, fand es natürlich nicht und musste erneut schmunzeln, diesmal über die Ironie des Schicksals. Nun hatte sie endlich den perfekten Wunsch und die Erfüllung scheiterete an einem nicht vorhandenem Feuerzeug.
„Dann eben nicht!“ Im letzten Licht, faltete sie ihre Laterne wieder zusammen, legte diese auf dem kleinen Tisch ab und schaute noch einmal sehnsüchtig in den Himmel. Alle Laternen waren inzwischen nur noch Punkte am Himmel und hatten sich längst auf die große Reise zur Erfüllung
gemacht. Ihr Wunsch lag nun gefaltet auf dem Gartentisch.
Felicity hatte niemanden gehört. Sie stand immer noch im Dunkeln auf der Wiese, lauschte der Musik, die durch das Fenster nach draußen drang und hatte überhaupt keine Lust mehr, ihr zu folgen. Im Gegenteil, niemand würde es bemerken, wenn sie gleich von hier aus verschwinden würde.
Als sich plötzlich von hinten einen Hand in ihre schob, war es augenblicklich wieder da. Sofort war es zurück, dieses Gefühl und sie wusste genau, wer da hinter ihr aufgetaucht war. Ein Kribbeln überlief ihre Haut, von einer Sekunde zur anderen spürte sie die zunehmende
Kälte nicht mehr. Das Gefühl war einfach wunderschön. Nein, es war unbeschreiblich einzigartig. Es war nicht dieses verliebte Gefühl. Das, was man im Magen verspürt, wenn man verliebt ist und endlich den Grund dafür trifft. Das, was sich anfühlt, wie Ameisen und Schmetterlinge, den Herzschlag nach oben schnellen und einen komische Sachen sagen lässt. Es war nicht himmelhoch jauchzend und nicht die Luft zum Atmen nehmend. Das war es alles nicht. Und doch war es um ein Vielfaches besser. Es war, wie die Landung nach einem Zehn-Stunden-Flug. Der Moment, wenn endlich die ganze Anspannung abfällt
und man weiß, der Boden unter den Füssen ist wieder da. Es war, wie nach einem zu langen Sauna-Besuch, wenn man nach der fast unerträglichen Hitze endlich in das kalte Wasser taucht und spürt, wie das Leben in die Zellen zurückkehrt. Es war wie nach Hause zu kommen. Sie wusste, wer ihre Hand ergriffen hatte und inzwischen langsam mit dem Daumen ihren Handrücken streichelte. Und doch drehte sie sich noch nicht zu ihm um. Wollte den Moment auskosten, so lange es ginge, geniessen, was sie gerade fühlte. Und es fühlte sich so gut an!
Irgendwann wendete sie sich doch zu ihm um, schaute ihm in die Augen und
fragte sich, wie es sein kann, dass vier Jahre mit einem einzigen Blick schmelzen können, wie Eis in der Sonne. Es war so, als ob sie gestern Abend auf der Mauer gesessen hätten und ihren letzten Tanz tanzten. Colin hatte sich nicht verändert. Ein paar kleine Fältchen an den Augen verrieten, dass doch Zeit vergangen war, alles andere sah einfach aus wie Colin. Er strich immer noch über ihren Handrücken und beobachtet sie still.
„Ein Tanz gefällig?“, flüsterte er nach einigen Minuten, zog sie ohne ihre Zustimmung in seine Arme und begann ebenfalls ohne zu zögern, sie zu den entfernten Klängen der Musik über die
Wiese zu führen.
„Colin, wo kommst Du her?“, war alles, was sie über die Lippen brachte. Zu gut war es, in seinen Armen über den feuchten Rasen zu tanzen. Sie empfand, genau wie damals vor vier Jahren, in ihrem Sommer, wie alles um sie herum im Nebel versank. Patrick rückte in weite Ferne, Cassandra und Flavio verschwanden und die gesamte Party löste sich in Luft auf. Übrig blieben Felicity und Colin, verschmolzen zu einer Person, gefesselt in der Musik und dem Tanz. Da war sie wieder, die Magie, die sie verband, die sie ohne Worte in eine andere Welt beförderte.
„Ich kenne den Gastgeber.“ Stimmt, sie
hatte ja einen Frage gestellt. Aber die Antwort war egal. Wäre er vom Himmel gefallen, hätte sie das auch nicht gestört. Vergessen war der kühle Wind, vergessen die feuchte Wiese und vergessen ihre Wunschlaterne.
Es hatte offensichtlich niemand bemerkt, dass sie nicht zur Party zurückgekehrt war oder sie wurde einfach nicht vermisst. Ungesehen und unbemerkt waren da nur noch Colin und sie, tanzen ein Lied nach dem anderen, blieben dicht aneinandergeschmiegt, auch wenn die Musik schneller wurde und schwelgten in ihrer gemeinsamen Erinnerung.
„Möchtest Du Deine Laterne nicht
fliegen lassen?“, fragte er plötzlich in die Stille hinein?
„Woher weißt Du…?, fragte sie verduzt.
„Ich bin schon länger hier. Aber ich wollte auf den richtigen Moment warten. Komm, zünde sie an!“ Natürlich hatte Colin ein Feuerzeug zur Hand und faltete breits die Laterne auseinander.
Zögerlich schaute Felicity in seine Augen und plötzlich hatte sie den richtigen Wunsch. Warum war sie nicht vorher darauf gekommen?
Colin stand hiner ihr und hatte seine Arme leicht um sie gelegt, als Felicity die Laterne in den Himmel hob und fliegen ließ. Genau und präzise formulierte sie im Gedanken ihren
Wunsch, lehnte sich dann zurück an den wärmenden Schutz hinter sich.
Als sie weitertanzten, unterhielten sie sich ein wenig, redeten über die vergangenen vier Jahre. Felicity erzählte von Patrick und ihren Hochzeitsplänen und dass sie immer noch als Double arbeitete.
Colin erzählte, dass er immer noch allein lebt und die Stadt, nach dem Somer vor vier Jahren, verlassen hat. Er lebt seit dem am anderen Ende der Welt und verdient sein Geld immer noch mit Kunst. Als Tanz-Double hat er nach ihrem gemeinsamen Film nicht wieder gearbeitet.
Ohne es zu bemerken, waren sie längst
wieder verstummt, wiegten sich zu einer imaginären Musik, denn die Party war längst vorbei. Das erste Morgengrauen zeigte sich am Horizont und mischte sich mit dem künstlichen Licht des Flughafens, bis dieses ganz den Kampf gegen das Tageslicht aufgab.
„Wann fliegst Du wieder?“, fragte Felicity, als sie nur noch bewegungslos verschlungen auf dem Rasen standen.
„In zwei Stunden“, war seine Antwort. Langsam löste er sich von ihr, gab ihr einen Kuß auf die Stirn, ließ seine Hand an ihrem Arm herabgleiten, bis er nur noch ihre Finger in seinen hielt. Kurz danach lösten sie sich ganz voneinander.
„Danke für diese Nacht.“ Es klang
wieder nach Abschied und es war auch diesmal einer. Colin blieb verschwunden, Felicity und Patrick heirateten im nächsten Sommer.
Fortsetzung folgt ...
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