Ratlos sah er zwischen dem Blatt und mir hin und her. „Ähm, nein, eigentlich wie meistens, Kampf dem Kapitalismus, Rechte für alle … Sie sind vielleicht etwas blumiger unterwegs als sonst, aber ansonsten ...” Ich grinste, ich konnte es ihm nicht übel nehmen. Aber gleich würde er mich wahrscheinlich verstehen. So tippte ich auf den Abschnitt, der direkt unter den Namen der Entführten begann. Interessanterweise stand Jens' Name als letzter in der Liste, obwohl sie ansonsten alphabetisch geordnet war und es einen Harold Ziekollski unter den Entführten gab. Darunter hieß
es -- Si usted permite, queremos que se ocupe de nuestras opinión. La sua no vale nada. Si fuera posible, se debe asumir nuestra verdad! La sua no vale nada. Vamos a convencer a usted para compartir su riqueza! -- „Kommt dir das also nicht bekannt vor?”, fragte ich, zückte aber gleichzeitig mein Smartphone, denn Stan sah immer noch irritiert aus. Rasch suchte ich eine passende Seite und hielt ihm das Gerät unter die Nase. „Hier, lies das mal. Ist
zwar Portugiesisch, aber du wirst es sehen ..” Halblaut las er und schaute dann hoch. „Moment, das ist doch ...” „Jens' Spezial-Lied auf Portugiesisch, ja. Erinnert dich das nicht an was? Ich meine, siehst du nicht die Ähnlichkeit?!!” Noch einmal studierte er das Blatt. „Ja, der Aufbau ist ähnlich, aber worauf willst du hinaus? Hat Dad damals alte Flugblätter von denen benutzt?” „Oh ...” Jetzt war ich verunsichert und wusste nicht, ob ich mit meiner Idee richtig lag. Da gab es nur eins. „Hm. Stan, sei so lieb und zahl, wir müssen nach Hause, ich muss was nachsehen!” Man merkte ihm an, dass ihn meine Sprunghaftigkeit etwas irritierte, aber im Moment hatte ich wahrscheinlich Dispens. Auf
dem Weg zur Remise fragte er deshalb vorsichtshalber „Bist du denn sicher, dass du zu euch nach Hause willst? Ich dachte, du wohnst im Moment extra bei Vince?” „Ja, Nachts würd ich auch noch nicht daheim sein wollen”, gab ich zu, „aber was ich brauche, ist nun mal da. Ist kein Problem, du wirst schon sehen.” Trotz dieser zuversichtlichen Aussage war es erst mal komisch, in unser leeres Haus zu kommen. Man hatte förmlich das Gefühl, die alten Mauern spürten die Notlage ihres Besitzers und strahlten daher eine gewisse Tristesse aus. Deswegen verschwendete ich nicht viel Zeit und marschierte gleich auf den Wandsafe im Büro zu, dessen Kombination ich dank Jens' Vertrauen zu mir kannte. In dem Ding waren ein paar wichtige Papiere und
Unterlagen, etwas Bargeld für den Notfall und dann noch etwas an und für sich sehr unscheinbares, aber für Jens sehr wertvolles. Das war es auch, auf das ich es abgesehen hatte: Seine geliebte China-Kladde! Beziehungsweise auf eine von vielen. Seit jeher, hatte er mir anvertraut, hatte er sich so ziemlich alles, was ihm zu einem Song durch den Kopf gegangen war, etwa den Ort, an dem ihm die Idee gekommen war, weitere Gedanken, Hintergründe, Inspirationen, auf diverse Zettel notiert. Wenn das Lied fertig war, wurde das alles in so einer Kladde zusammengefasst und zum Schluss kam der veröffentlichte Text. Es gab inzwischen einige davon und die blaue war für seine Soloprojekte, das wusste ich. Wenn ich also irgendwo die gewünschte Info finden würde, dann hier! Mit der Kladde vor der Nase sank ich auf dem
Bürosofa nieder, ignorierte dabei den Gedanken, dass wir darauf schon öfter gekuschelt hatten und suchte nach den Seiten, die ich brauchte. Dabei vergaß ich beinahe meinen Begleiter, bis der sich endlich ungeduldig räusperte. „Sag mal, Katy, ich meine Catherine, wonach suchst du eigentlich genau?!” „Bleib ruhig bei Katy, ich weiß du magst es. Und ich suche nicht mehr, ich habe es schon gefunden.” Mit der Hand klopfte ich auf den Platz neben mir und er pflanzte sich zu mir auf die Couch. „Ich hab nachgeschaut, ob du vielleicht Recht hast mit der Herkunft des Textes, aber dem ist nicht so. Bei seinen Texten ist er hier in der Kladde immer schonungslos ehrlich, selbst wenn er mal was irgendwo 'geklaut' hat. (Das war auch der Grund, warum die gesammelten Bücher im Safe lagen.) Wäre die Inspiration von alten Pamphleten gekommen, hätte dein Vater
das aufgeschrieben. Aber hier ist nichts davon vermerkt. Also glaube ich, dass ich mit meiner Vermutung gar nicht mal so falsch liege.” Geduldig fragte Stan „Und die wäre?” „Junge, jetzt enttäuscht du mich aber ein bisschen. Sagt dir dein journalistischer Spürsinn da denn gar nichts?”, neckte ich ihn und zog die Nachricht wieder hervor. „Schau mal, du sagst selber, dass die FARC hier um einiges 'blumiger' unterwegs ist als sonst.” „Hm”, machte Stan und runzelte die Stirn. „Außerdem halten sie sich in der Namensliste eigentlich strikt an ihren alphabetischen Aufbau, mit einer Ausnahme ...” „Stimmt, das ist mir auch schon aufgefallen”, brummte er, vielleicht ein bisschen beleidigt, weil ich seinen Scharfsinn angezweifelt hatte. „Ich dachte halt, vielleicht ist Dad als letzter dazu gekommen und hängt deswegen drunter
...” „Möglich”, gab ich zu. „ODER … Wie gesagt, Jens Kosim steht zum Schluss der Liste, direkt über weiteren Parolen. Und die zeigen plötzlich eine eklatante Ähnlichkeit mit Jens' Textaufbau. Pass auf: -- Wenn ihr erlaubt, wollen wir, dass ihr unsere Meinung übernehmt. Eure taugt nichts. Wenn es möglich wäre, solltet Ihr unsere Wahrheit annehmen! Eure taugt nichts. Wir werden euch überzeugen, euren Reichtum zu teilen. -- ”, übersetzte ich grob und sah ihn an. „Das kann einfach kein Zufall sein, verstehst du?!” Langsam zeigten sich Anzeichen der Erkenntnis auf seinem Gesicht, welches Jens' so ähnlich sah. „Du meinst
...” „Genau”, sprudelte ich hastig hervor, „irgendjemand hat erkannt, dass 'Jens Kosim' Künstler und berühmt ist hier in Deutschland! Deswegen steht sein Name auch als letzter. Das ist nicht einfach nur Blabla. Das ist eine Botschaft!” Wir verließen mein Heim und eilten wieder zu Vince, wo wir eine große Versammlung einberiefen. Julia kam mit ihrem Mann Sven sowie den Kindern Tobias und Carola, um die sich netterweise Vincentes Freund Jerôme kümmerte. Dieses Zuckerstück aus der Modellbranche konnte hervorragend mit Kindern und es war schade für ihn und seinen Schatz, dass es mit der Adoption von Kindern durch schwule Paare hier noch nicht so weit her war.
Alle versammelten sich im Wohnzimmer und Niels drängte sich eng an mich. Es war ein bisschen wie ganz früher, als er noch so klein und ich sein einziger Halt in dieser Welt gewesen war. Aber ich akzeptierte es gern, schließlich liebte ich meinen kleinen Bruder und hatte indirekt wegen ihm, auch wenn er das gar nicht wusste, einiges auf mich genommen. Dafür war ich allerdings mit dem wundervollsten Mann im Universum belohnt worden. Der MIR ein großer Halt im Leben war und den ich nun entsetzlich vermisste – und außerdem noch um sein Leben fürchten musste ... Atemlos erzählte ich von meinem Treffen mit von Goetze, zeigte ihnen die Kopie der Botschaft, wobei meine Hände so zitterten, dass
Pfanni auf meiner anderen Seite sie mir abnahm und beruhigend über meinen Rücken strich. Stan, der nach anfänglicher Skepsis nun voll auf meine Theorie eingestiegen war, erläuterte diese und natürlich guckten erst mal alle verwirrt. Dann stieß Vince einen Pfiff zwischen den Zähnen aus und sagte „Gib mal her.” Er las sich alles noch mal durch. Als sehr junges Kind hatte er ja selber noch die Unruhen in seinem Heimatland erlebt, später hatte er viel aus Erzählungen der Eltern gelernt und verfolgte auch heute noch die Politik auf diesem Kontinent mit Aufmerksamkeit. Jedoch war auch er überrascht gewesen von der neuen Entführungswelle, die war bisher anscheinend unter Ausschluss der Öffentlichkeit gelaufen. Darauf spielte er an, als er nun sagte „Ich bin geneigt, Catherines Theorie zu glauben. Warum?”, nahm er die Rückfrage vorweg, „Weil diese Guerilla es sonst selber an den großen
Nagel hängen würde. Also, wenn es wirklich nur um den sozialistischen Kampf ginge. Aber so ...” Sven guckte ein wenig ratlos. „Ja, aber was denn dann?” „Geld”, hauchte seine Frau tonlos. „Das war schon immer Jens' Sorge, dass mal irgendjemand auf die Idee kommt, ihn zu erpressen. Deswegen hielt er auch gerne sein Privatleben unter Verschluss, nicht nur, um seine Ruhe zu haben.” „Himmel, warum hat er uns denn dann geoutet?!”, entfuhr es mir. Zärtlich streichelte Julia meinen Arm. „Ich denke, weil er dir so seine Liebe beweisen wollte. Du solltest nicht meinen, er würde dich verstecken, nicht zu dir stehen. Er war – er ist doch so stolz auf dich!” Ein riesiger Kloß bildete sich in meinem Hals.
Und ich blöde Kuh mache einen Riesenaufstand, weil am Abend der Vernissage die Bilder nun mal wichtiger waren als ein Gespräch, das man auch später hätte führen können. Verdammt! Pfanni mischte sich nun ein. „Ihr meint also, das ist ein versteckter Hinweis darauf, dass sie einfach nur Lösegeld wollen? Nur von Jens?!” Stan schüttelte den Kopf. „Nicht nur von ihm. Ich bin die übrigen Namen noch mal durch gegangen. Gut, Katy”, grinste er mich kurz an, „dass du den Herrn Ministerialdirektor anscheinend so becirct hast, dass er vergaß, die zu schwärzen. Ein paar hab ich sogar erkannt, andere grade gegoogelt. Da sind noch ein paar andere reiche Säcke dabei und ich bin mir inzwischen sicher, dass es für jedes Land eine eigene Liste gibt, wo jeweils ein bestimmter Name zuletzt steht. Dads Lied war da ein willkommener
Aufhänger.” Nach und nach akzeptierten auch die anderen diese Idee, aber dadurch wussten wir auch nicht recht weiter, bis es jemand laut sagte „Und was jetzt? Das ist so toll versteckt, ob da außer uns überhaupt jemand drauf kommt?!” „Ja genau”, rief Niels mit dem Eifer der Jugend (er ist zwar kein Teenager mehr, aber halt doch auf ewig mein Kleiner), „müssten wir da nicht den Behörden oder den anderen Betroffenen Bescheid geben?” „NEIN!” Das kam von mir und ich fühlte mich regelrecht panisch. „Nein um Gottes Willen! Um JENS' Willen!! Ihr wisst doch, wie Staat und Polizei bei Erpressung reagieren. Kein Draufeingehen, kein Verhandeln, keine Zahlung. Der Rechtsstaat lässt sich nicht erpressen, das würden sie sagen, wenn es offiziell würde und sie könnten sogar unsere Konten sperren!”,
ereiferte ich mich und Niels sah mich mit großen Augen an. „Echt?” „Italien tut's”, murmelte ich, denn bei Entführungen durch die Camorra war genau das schon der Fall gewesen. Wer konnte mir also sagen, ob Frank Walter Steinmeier Herrn Kosim nicht genauso im Stich lassen würde wie weiland Herrn Kurnaz in Guantanamo?!? „Hart”, murmelte Sven. Der Gute, er hatte von jeher ein weiches, liebes Herz, wofür ja auch seine Berufswahl zum Physiotherapeuten sprach, doch heute schnauzte ich ihn an: „Ja, hart, aber siehst du das wirklich anders? Würdest du das Risiko eingehen, nichts tun zu können, wenn es um Julia oder die Kinder ginge? Häh!?” Er fuhr erschrocken zurück und wedelte abwehrend mit den Händen, Julia sah mich in
einer Mischung aus Ärger und Erstaunen an. „Catherine! Also wirklich-” „Nein nein, lass nur”, sagte nun Sven ruhig und griff nach ihrer Hand. „Bei aller Menschenfreundlichkeit, ich fürchte, sie hat nicht Unrecht. Ich würde auch alles für euch tun und andere Menschen, nun ja, sie wären mir nicht egal, aber … sie stünden sicher nicht an erster Stelle ...” „Danke Sven”, nuschelte ich und fügte versöhnlicher hinzu. „Wenn wir irgendwas genaueres wissen, finden wir ja vielleicht einen Weg, zumindest die Angehörigen was wissen zu lassen, hm?!” „Okay”, sagte nun Pfanni in die etwas ungemütliche Atmosphäre hinein, „damit wäre klar, was wir nicht machen, aber was sollen wir denn dann eigentlich machen? Ich meine, haben wir irgendwelche Kontakte, können wir auf
irgendjemanden von unserer Südamerikatour zurück greifen?” Vince schüttelte den Kopf. „Nein Mickey, in Kolumbien waren wir doch nicht, du Tüffel!” „Ja was dann? Wir können wohl schlecht Shakira um Hilfe bitten, oder?” Ich bekam einen spontanen Lachanfall, den er wohl beabsichtigt hatte, der aber natürlich fast schon ins hysterische abkippte. Ausgerechnet die Sängerin, die ihnen damals so auf die Nerven gegangen war, dass sie in einem Lied verewigt wurde! Eine Ehre, die sie sich inzwischen mit Mariah Carey und vor allem der noch viel schlimmeren Rihanna teilte. Nur, dass die nicht so viel Gutes in ihren Heimatländern taten, wie es die kleine Blondine zugegebenermaßen inzwischen tat. Nun räusperte sich Stan. „Ich denke, ich kann
ein paar Beziehungen zu einer der Redaktionen dort ausnutzen und mal ein bisschen nachhaken. Ist ein heikles Thema, deswegen solltet ihr darüber besser Stillschweigen bewahren, aber ich weiß, dass die öfter mal fingierte Anzeigen aufnehmen.” „Fingierte Anzeigen?” Niels war irritiert, aber bei weitem nicht mehr so aggressiv Stanley gegenüber wie gewohnt. Die momentane Krise hatte sie wohl zu einem Waffenstillstand bewogen. So nickte auch Jens' Sohn nur bedächtig. „Ja, damit werden oft Botschaften dort unten ausgetauscht, wenn die Gefahr von Abhörung etc. besteht. Oder wenn man gar nicht weiß, wo der andere sitzt, so wie wir nun. Sie leugnen es offiziell, aber ich hab noch den einen oder anderen Gefallen ausstehen, den ich einfordern könnte ...” „Oh Gott, würdest du das tun?!”, keuchte ich
und Stan fuhr zu mir herum. „Du liebe Zeit, Katy, was denkst du denn?!” Jetzt nahm er meine Hände in seine und sah mir ernst in die Augen. „Es geht hier schließlich um meinen Vater! Und um dich; und ihr zwei seid mir mit die zwei liebsten Menschen auf der Welt ...” Abgesehen von seiner leiblichen Mutter, nahm ich an, und nickte dankbar und gerührt, wieder einmal stiegen mir die Tränen auf. Julia bemerkte das und klatschte in die Hände. „Gut, dann bleiben wir erst mal dabei, Stan soll mal seine Fühler ausstrecken. Wir bleiben alle in Kontakt, aber ich glaube, Cathy braucht jetzt erst mal ein bisschen Ruhe, okay?! Am besten, du legst dich in deinem Zimmer ein wenig hin, Liebes.” Normalerweise hätte ich an dieser Stelle wahrscheinlich ob dieser Bevormundung heftig
protestiert. Aber trotzdem, dass im Moment eine gewisse Portion Adrenalin in meinen Adern prickelte, weil sich gerade eine Möglichkeit aufgetan hatte, wie wir aktiv werden konnten, fühlte ich mich tatsächlich gleichzeitig irgendwie ausgelaugt und erschöpft. Deswegen nickte ich einfach dankbar und unsere kleine Versammlung löste sich auf. * In meinem Zimmer ließ ich mich einfach quer aufs Bett fallen, doch an richtige Ruhe war anscheinend nicht zu denken. Statt dessen fuhr mein Kopfkino Achterbahn, mein Herz zog sich wieder einmal beim Gedanken an meinen Liebsten zusammen. Oh Jens, wo bist du, wie geht es dir? Spürst du, dass ich an dich
denke?! Ich presste mein Gesicht ins Kopfkissen und meine Gedanken versanken in Erinnerungen. Zum Beispiel an die Zeit kurz nachdem Jens mich damals in Namibia wieder gefunden hatte. An sein Geständnis, mich schon so lange Zeit geliebt zu haben, mich aber um meinetwillen losgelassen zu haben ... Es war, als wäre ihm in den Tagen danach erst so richtig bewusst geworden, was er da riskiert hatte und er war ein paar Wochen fast nicht von meiner Seite gewichen! Im Grunde müsste er in dieser Zeit so einiges über Tiermedizin gelernt haben ... Und natürlich hatte ich seine Hingabe genossen, ging voll in unserer Liebe auf! Denn ich hatte akzeptiert, dass seine Entscheidung damals zwar schmerzhaft für beide, aber richtig
gewesen war. Nur so konnte ich ihm nun nicht mehr nur als verängstigtes junges Mädchen entgegen treten, sondern als wesentlich selbstbewusstere junge Frau, was unserer zugrunde liegenden Freundschaft keinen Abbruch tat. Manchmal hatte ich ihn auch ertappt, wie er Nachts wach lag und mich einfach nur anschaute. Dann hatte ich ihn still angelächelt und mit der Hand an meine Seite gezogen, um ihn spüren zu lassen, dass ich durchaus real war ... . . . Den Rest des Jahres und jenes darauf hatten wir uns viel auf uns konzentriert und Rollen D.
Rubel war auch in dieser Zeit nicht auf Tour gewesen. Statt dessen hatten wir meine Rückkehr nach Deutschland vorbereitet, während Jens regelmäßig zwischen dort und Namibia pendelte. In dieser Zeit war auch die Entscheidung gefallen, nach Berlin zu übersiedeln. Es war Jens' Geburtsstadt, zu der er nie den Kontakt verloren hatte und außerdem grad so sprudelnd vor Leben. Und es verminderte die Möglichkeiten, gewissen Leuten in Hamburg zufällig zu begegnen … Diese Angst, in Hamburg nicht stressfrei auf die Straße gehen zu können war auch der Grund gewesen, warum ich mich bisher nicht alleine auf den Weg in die Heimat gemacht hatte, obwohl ich mich danach sehnte, mein Brüderchen wieder einmal persönlich zu treffen. Toni war zwar zu der Zeit noch immer
im Knast, aber die meisten seiner Männer waren auf freiem Fuß, arbeiteten nun für andere Kiezgrößen. Und dann war da ja auch noch Judith … Keine Ahnung, wie sie nun hieß. Und keine Ahnung, ob sie noch in Hamburg wohnte, aber die Wahrscheinlichkeit war groß, deswegen wollten wir unseren Lebensmittelpunkt verlagern. So organisierte Jens den Umzug allein und ich musste nur ein einziges Mal in diese Stadt zurück kehren, nämlich um meinen Bruder (und auch unseren Hund Jake) aus den Fängen meiner Mutter zu befreien. Ich hatte keinerlei Bedenken, ihr dafür Geld anzubieten, welches mir Jens großzügig zur Verfügung stellte, denn ich wusste, sie hätte den damals noch minderjährigen Niels ansonsten liebend gern als Waffe gegen mich
eingesetzt. Und Cornelia hatte keinerlei Skrupel, die Kohle anzunehmen. Noch etwas übrigens, von dem Niels bis heute nichts weiß. Ein bisschen hatte ich ja bedauert, das alte Haus, aus dem Jens schon länger fort gezogen war, nicht wieder betreten zu können, musste ich doch immer mal ans erste Mal denken, wie ich mich damals heran geschlichen und Tinkerbell vor dieser grässlichen Gerlinde gerettet hatte. Überhaupt Tinkerbell … Jens hatte mir schon berichtet gehabt, dass sie inzwischen deutliche Alterserscheinungen zeigte. Und vor eben jener Reise, die ihn überraschend zu mir nach Harnas führte, hatte es sogar eine Zeitlang Spitz auf
Knopf gestanden! Doch sie hatte sich kurz vorher soweit erholt, dass er sie hatte mit einigermaßen gutem Gewissen bei Julia lassen können. Als er nach Hause kam bzw. direkt zu Julias Haus fuhr, hatte er schon genügend 'Munition' dabei, um die Kleine gebührend zu begrüßen, die laut Julia in der langen Zeit seiner Abwesenheit so manch schlechten Tag gehabt hatte. Die Munition war in erste Linie eine große Schachtel Frolic. Das war nämlich die Besonderheit der kleinen Diva gewesen, immer, wenn Jens von einer seiner längeren Reisen zurück kam (seltsamerweise nicht, wenn er beruflich auf Tour war), stellte Tinkerbell in Julias Haus erst mal die Ohren auf Durchzug, benahm sich, als sei Jens ein Fremder und kam nur sehr widerwillig zu ihrem Herrchen. Der musste dann immer auf die Knie gehen und innigst um Abbitte flehen, mit Leckerlis und ganz vielen
Streicheleinheiten und gesäuselten Schmeicheleien. War diese Zeremonie aber erst mal überstanden, war Tinkerbell immer wieder komplett die alte gewesen. Ich musste immer grinsen, wenn er mir von diesem Ritual erzählt hatte. Der große Rollen D. Rubel ganz klein im Staub vor einer kleinen grauen Pudeldame! Doch als er dieses Mal nach Hause kam – nachdem wir uns schweren Herzens doch erst mal voneinander verabschiedet hatten – zeigte sie sich nicht so gewohnheitsmäßig beleidigt, wie sie es sonst immer tat. Nein, sie, um die Julia in den letzten Wochen manchmal ernsthaft gebangt hatte, kam diesmal ziemlich schnell um die Ecke, was ihn schon mal überraschte. Dann begann sie aufgeregt an ihm zu schnüffeln – und gab plötzlich ein lautes Jaulen von sich, gefolgt von einem
regelrechten Freudentanz. In diesem Moment wurde Jens klar, dass er ja noch immer die Sachen trug, in denen er sich von mir verabschiedet hatte. „Süße, jetzt sag bloß, du riechst Catherine?”, fragte er die Kleine leise und wieder jaulte sie kurz auf, während der Schwanz, wie er später erzählte, wie ein Propeller rotierte. Von da an ging es ihr nicht mehr so schlecht und die Geschwister hatten ernsthaft den Eindruck, die alte Hundedame wüsste, dass ich bald wieder kommen würde … Als sie mir davon am Telefon erzählten, bekam ich fast ein wenig Angst, meine Prinzessin beim Wiedersehen irgendwie zu überfordern, hatte Angst, sie würde vor lauter Freude einen Schlag kriegen! Dementsprechend nervös war ich, als ich Tinkerbell wieder sah, doch erneut überraschte
uns der kleine Hund. Natürlich führte sie einen großen Begrüßungstanz auf, beruhigte sich aber dann schnell wieder bzw. trieb mich entschlossen in Julias Wohnzimmer, wo sie erst Ruhe gab, als ich mich aufs Sofa hockte. Dort sprang sie auf den Platz neben mich, schaute in die Runde, die nun aus Julias kompletter Familie, Jens und mir bestand, schnaufte dann einmal tief durch und rollte sich zum Schlafen zusammen. Ich glaube, in diesem Moment war ihre Welt einfach perfekt und vollständig gewesen. Im Folgenden baute sie dann leider von Woche zu Woche ab. Es war, als hätte sie wirklich nur darauf gewartet, mich wieder zu sehen! Ich erkämpfte mir sogar die Möglichkeit, sie und Jake, den sie gnädig mit in die Familie aufgenommen hatte, mit zur Arbeit in den Zoo zu nehmen. Gar nicht mal so ohne Risiko, wenn man gerade erst mit der Arbeit dort anfängt,
aber ich wollte sie so wenig wie möglich alleine lassen, wenn schon ihr Herrchen öfter fort sein musste. Ach ja. Nicht zum ersten Mal verspürte ich das schmerzhafte Ziehen beim Gedanken an den Verlust der süßen Pudeldame, die ein knappes Jahr darauf von uns ging, Jake war ihr kurz darauf gefolgt. Um wie viel schlimmer musste dann- 'HALT!', befahl ich mir selber, als mich der nächste Gedanke wie ein Messerstich durchzuckte und mich verschwitzt hoch schrecken ließ. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es noch immer Nachmittag war. Ruhe hatte ich nicht wirklich finden können, so beschloss ich einen Besuch zu machen, der irgendwie fällig war.
* Ich musste zwei Mal klingeln, bis Sabine die Tür öffnete und überrascht die Augen bei meinem Anblick weit aufriss. „Catherine, du - Ist Rollen auch ...”, begann sie hoffnungsvoll und ihr Blick wanderte in den leeren Flur hinter mir. Ach ja, sie wusste ja von nichts und das sollte auch besser so bleiben; je weniger Leute Bescheid wussten, um so sicherer für meinen Mann. Also schüttelte ich einfach stumm den Kopf und sie zog mit einem ergebenen Seufzer die Tür ganz auf. „Komm rein.” „Danke. Ich will auch nicht weiter stören, ich wollte nur-” „Ach komm, wenn du schon mal da bist, können wir doch einen Tee zusammen trinken. Oder einen Wein, dein Herr und Meister ist ja nicht
da!”, zwinkerte sie mir zu. „Ähm, lieber Tee”, murmelte ich, denn im Moment war mir ganz und gar nicht danach, mir den Kopf mit Alkohol zu vernebeln. Sabine setzte das Wasser auf und plapperte munter drauf los. „So, dann bist du von deiner Mission in Afrika zurück? Gut, Rollen dann sicher auch, warum ist er nicht mit gekommen?! Es gibt einiges zu bereden wegen der Galerie, die will-” „Nein, Jens ist noch nicht wieder hier”, unterbrach ich sie, das war ja auch nicht gelogen, genau wie mein nächster Satz. „Und ich weiß auch nicht genau, wann er zurück kommt, das klärt sich noch.” „Aha”, machte sie unbestimmt und ich sah die Neugier in ihren Augen flackern – und noch etwas. Ich nahm die Tasse Tee in Empfang und fuhr
fort „Ich bin auch erst grade wieder angekommen und eigentlich wollte ich nur kurz vorbei kommen, um das Handy abzuholen.” „Das Handy ...”, wiederholte sie. „Also, dann bist du schon wieder hier, hast aber keine Ahnung, wann Rollen zurück kommt?” „Wie gesagt, das klärt sich noch. Aber ich dachte mir, ich entlaste dich schon mal von dem Teil, dann hat Jens es gleich zur Verfügung, wenn er zurück kommt”, lächelte ich zuckersüß. „Tut mir leid, Catherine, da weiß ich nicht, ob ich es dir geben kann.” Fast wäre mir der hässliche Klimt-Becher aus der Hand gefallen. „Wie bitte?!?!” „Naja, er hat es mir anvertraut, als er abgereist ist und ihr euch heftig gestritten hattet. Woher soll ich denn wissen, dass ihr euch wieder versöhnt
habt?!” „Kannst du nicht wissen. Aber das Wichtigste dabei ist: Es ist egal!” „Na, ich weiß nicht ...”, insistierte sie, was mich langsam aber sicher aufregte. „Aber ich weiß. Es geht dich so oder so nichts an!” „Was?”, schnappte sie und ich zwang mich zu mehr Ruhe. „Du hast richtig gehört, ganz unabhängig davon, ob mein Mann und ich uns ausgesprochen haben, das Teil gehört dir nicht und du gibst es mir nun bitte!” „Aber er … Also, ist doch egal, wo es ist, du hast ja eh dein eigenes, da behalt ich es lieber bis zu Rollens Rückkehr bei mir.” Ein kleiner Wirbel ging durch meinen Kopf und ich fühlte förmlich meinen Blutdruck steigen. So holte ich tief Luft. „Jetzt pass mal auf,
Sabine, im Gegensatz zu mir hast du keinerlei Eigentumsansprüche auf dieses Handy. Du warst ein Notnagel, der zufällig gerade da war, doch jetzt bin ich wieder hier und bitte dich höflich, mir dieses Gerät auszuhändigen!” Ja, ich war gemein in diesem Moment, aber sie wollte mir ja auch anscheinend das Ding verweigern! „Du bist ein echtes kleines Biest”, zischte Sabine nun, „und ich werde einfach nie verstehen, was Rollen an dir findet!” „Geht mir mit dir genauso”, gab ich relativ gelassen zurück, denn Sabine hatte inzwischen in ihrer Handtasche gewühlt und nun warf sie mir Jens' Smartphone verächtlich in den Schoß. „Dann nimm es doch”, knurrte sie, „ist sowieso nutzlos, weil der Akku schon nach ein paar Tagen platt war und dein Liebster mir kein Ladekabel mitgegeben
hatte.” Kurz runzelte ich die Stirn. Warum trug sie es dann in ihrer Tasche mit --- Ein Blick in ihre Augen, die sich noch immer geradezu in das Telefon krallten, und auf den Ausdruck in ihrem Gesicht erübrigten den restlichen Gedanken. Denn hier sah ich endlich bestätigt, was ich schon lange vermutet hatte: Die Gute war einfach rettungslos in Rollen D. Rubel verliebt! Und eigentlich hoffnungslos, denn ich war nun mal seine Frau und bis vor kurzem war ja an unserer Liebe kein Zweifel gewesen. Möglicherweise hatte unser Streit ihr aber einen gewissen Auftrieb gegeben, einen Silberstreif am Horizont … Plötzlich tat Sabine mir leid. Sie saß hier in
dieser in einer seltsamen Mixtur aus moderner Kunst und plüschiger Deko eingerichteten Wohnung und himmelte einen Mann an, der trotz aller Freundlichkeit ihr gegenüber nie der ihre sein würde. Eine kleine Ahnung, wie sich das anfühlte, hatte ja auch ich und wäre es nicht um mein eigenes Liebesglück gegangen, hätte ich sie wahrscheinlich sogar getröstet. So blieb mir nur, aufzustehen, das Corpus delicti einzustecken und mich mit rauer Stimme von ihr zu verabschieden. „Hör mal, es tut mir leid, ich wollte nicht so gemein sein ...” „Schon gut”, nuschelte sie, „ich war ja auch nicht nett.” Ich nickte mit einem Kloß im Hals und setzte erneut an. „Ich weiß auf jeden Fall zu schätzen, was du für u- für Jens tust und er wird sich sicher bei dir melden, wenn er ...” Hier versagte
mir die Stimme und ich räusperte den Druck in meiner Kehle weg, schnappte meine Tasche und strebte dem Ausgang zu. „Also dann. Mach's gut und danke für den Tee!”