Fortsetzung von ‚Das Findelkind1:
2. Kapitel
'Gebärdensprache.'
Sofie verweilte noch einige Augenblicke nachdenklich, bevor sie zu Maya zurückkehrte. ‚Auf den Gedanken, plötzlich Mama zu sein, wäre ich nie gekommen, dachte sie. ‚aber ganz falsch ist es nicht,
Eines war ihr klar, alleine lassen konnte sie ihren
Schützling nicht. Sie konnte ihr nicht einmal erklären, dass sie wiederkommen würde. Es war wichtiger als alles andere, dass sie sich so bald wie möglich verständigen konnten.
Sofie entwickelte erstaunliche Fantasie, wie sie Maya abstrakte Begriffe klar machte, wie „ich habe Hunger“, sie machte eine Bewegung, als stopfe sie etwas in den Mund, "ich bin
müde“ dabei legte sie den Kopf auf die übereinandergelegten Hände oder, „danke, es schmeckt mir“. Ab und an deutete Maya etwas falsch, dann probierten sie es so lange weiter, bis Maya die Pantomime richtig deutete.
Es gab Stunden, in denen Maya sie gar nicht zu hören schien, dann war sie weit, weit weg. Lag ein Lächeln auf ihren Lippen, war sie vermutlich mit ihren
Gedanken bei ihren Lieben. Verdunkelte sich ihr Blick, der Kopf blieb gesenkt, war ihr anzusehen, dass sie Schreckliches durchlebte. Zum Glück waren die Moment selten.
Sofie hatte begriffen, dass sie sich ganz den Signalen anpassen musste, die sie von ihrem Gast bekam. Sie musste Geduld haben. So erweiterte sich Mayas Sprachschatz Tag für Tag, Inzwischen war sie in der
Lage, kleine Sätze zu bilden. Eines Tages kam ihr die Idee, den Sprachunterricht durch Zeichnungen zu erweitern. Und es stellte sich heraus, dass Maya nicht nur besondere Freude daran hatte, Gegenstände zu zeichnen, sie entwickelte eine erstaunlich Fantasie darin, Abstraktes darzustellen, auch Lachen, Angst, Neugier, Freude, sogar Trauer machte sie mit wenigen Strichen deutlich, eine Kunst, bei der
Sofie weit hinter Maya zurückblieb. Zunächst hatten Sofie und Maya für diese Art der Kommunikation lose Blätter benutzt, dann legten sie ein dickes Heft an, in dem ganze Gespräche ihren Niederschlag fanden.
Julia hatte sich nicht mehr gemeldet. Sie hatte Sofies Zurechtweisung verstanden und wartete auf eine Aufforderung. Vier Wochen verstrichen, bis Sofie es für
angebracht hielt, Maya mit Julia zusammen zu bringen. Es sollte ein erstes Experiment sein. Allerdings nahm Sofie der Freundin das Versprechen ab, sich zurückzuhalten und die Fremde nicht mit Fragen zu bombardieren. Julia war Vollblutjournalistin und brannte darauf, mehr über die Hintergründe zu erfahren.
Sofie deckte den Kaffeetisch auf der Terrasse für drei Personen. Als Maya das
bemerkte, schaute sie Sofie fragend an. Die nickte zustimmend und freute sich, dass Maya offenbar verstanden hatte, eine weitere Person würde hinzukommen. Nun war sie doppelt gespannt, wie jede der beiden Frauen reagieren würde? In Julias Gesicht würde sie lesen können. Was Maya dachte, würde ihr weiter verschlossen bleiben.
Julia kam nie ohne ein besonderes Mitbringsel. Sofie
überreichte sie eine Topfpflanze. „Ich weiß, dass du keinen Jasminbusch hast. Suche einen geeigneten Platz in deinem Garten aus“, schlug sie vor, „dann wirst du immer an meine erste Begegnung mit deinem ungewöhnlichen Gast erinnert.“ Sofie hielt den Topf mit beiden Händen in die Höhe, dass Maya ihn betrachten konnte. „Jasmin“, sagte sie laut und deutlich, „Jasmin“, kam es gleich
einem Echo zurück. „Jasmin, Jasmin“, mehrmals wiederholte sie das Wort, als müsste sie es sich fest einprägen. Inzwischen überreichte Julia der Fremden ein in buntes Papier gewickeltes Päckchen. Die aber nahm es gar nicht wahr, sondern starrte auf die Pflanze, die Sofie auf der Einfassung der Terrasse abgestellt hatte. Julia war enttäuscht, dass ihr Präsent keine Beachtung fand. „Es ist
ein Buch“, erklärte sie „es dir wird gefallen.“ Maya nickte und legte den unbekannten Gegenstand auf den Kaffeetisch. „Um die Pflanze kümmern wir uns später“, entschied Sofie und bedeutete den Damen, Platz zu nehmen. Der Kaffeeduft war sogar in der frischen Luft wahrnehmbar, und der Pfirsichkuchen lockte verführerisch. Julia und Sofie bemühten sich um eine einfache Unerhaltung, in die
sie Maya einzubeziehen versuchten, was jedoch nicht gelang. Sie schien ganz in sich zurückgezogen. Sofie nannte es ihr Abwesenheitsgesicht. Julia konnte ihre Neugier nicht länger zügeln, sie erinnerte erneut an ihr Geschenk. Typisch Julia, stellte Sofie amüsiert fest, sie hat sich ein besonders Mitbringsel ausgedacht und brennt jetzt darauf, die Reaktion zu erfahren. Maya jedoch
verstand nicht, was vorging, so griff Sofie nach dem Geschenkpäckchen, schaute fragend zu Maya und machte Anstalten, es zu öffnen. Maya nickte, also entfernte Sofie die Verpackung. Zum Vorschein kam ein Buch mit dem Titel: ‚Die Lacandonen, Nachfahren der Maya. Auf dem Umschlag waren ein Mann und eine Frau abgebildet, beide langhaarig und in mit einfachen kittelartigen Gewändern
bekleidet, sie saßen neben einem Jasminstrauch und schienen in ein Gespräch vertieft. Sofie hielt das Buch so, dass Maya es betrachten konnte. Ihr Blick glitt über das Titelbild und kehrte fast panikartig zurück zu der Topfpflanze am Rande der Terrasse. Gleich einem Schrei stieß sie den Namen Jasmin aus, sie griff nach dem Buch, drückte es an sich, als fürchtete sie, dass es ihr weggenommen würde und
lief weinend davon.
Sofie und Julia blickten sich an, sie nickten sich zu. Julia fand als erste die Sprache wieder und meinte: „Unsere Vermutung war richtig. Mayas Reaktion war deutlich.“
„Jetzt weißt du auch, weshalb ich sie erst einmal von allem fernhalten wollte“, stieß sie einer Anklage gleich hervor, stand auf und folgte Maya ins Haus. „Ich würde sie in Ruhe lassen“, rief Julia ihr nach.
Julia hatte recht. Sofie fand Mayas Zimmertür verschlossen, ein deutliches Zeichen. Aber Sofie ließ sich davon nicht abhalten. Ohne anzuklopfen trat sie ein. Maya lag mit weit aufgerissenen Augen auf dem Bett, das Buch wie ein Schatz mit beiden Armen umschlungen. Sofie setzte sich an den Rand des Bettes, aber Maya schien sie nicht zu bemerken. Sie wirkte wie erstarrt. Sie ist in Trance durchfuhr es Sofie.
Sofie blieb sitzen, bis sie spürte, dass Maya tief schlief. Sie streichelte ihr sanft den Rücken. „Schlaf, ruh dich aus“, murmelte sie und erhob sich. An der Tür drehte sie sich noch einmal um, Maya regte sich nicht. ‚Ein Königreich für einen Blick in dein Inneres, wünschte sich Sofie.
Als Sofie zur Terrasse zurückkehrte, war Julia
verschwunden. Traurig ließ sie sich an dem kaum berührten Kaffeetisch nieder. „Es war einfach zu früh“, murmelte sie Jetzt wurde ihr erst so recht bewusst, wie fremd die Welt war, in die ihr Gast verschlagen worden war. Es grenzte an ein Wunder, dass sie sich trotz allem so ruhig und angepasst verhielt. Sie sah Maya vor sich, wie sie, das Mayabuch fest in den Arm auf ihrem Bett lag und versuchte,
sich vorzustellen, was sich in ihrer Seele abspielte. Die Abbildung hatte offenbar etwas in ihr ausgelöst. „Ich werde es nicht erfahren“, seufzte Sofie und erhob sich, um den Jasminbusch einzupflanzen. Die geschützte, sonnige Stelle neben der japanischen Kirsche, nicht zu nahe an einem Fenster, erschien ihr gut geeignet. In ein paar Jahren würde aus dem Winzling ein hoher, kräftiger
Busch werden. Sie hatte sich viel Zeit gelassen mit ihrer Pflanzarbeit. Als sie dann die Arbeitshandschuhe auszog, erschien Maya auf der Terrasse. Sie wirkte völlig aufgelöst. Beide Hände in den Haaren vergraben, den Kopf gesenkt, lief sie mit Trippelschritten auf und ab, die auf unterdrückte Wut schließen ließen. Es schien, als würde sie laut sprechen. Einzelne Wortfetzen erreichten Sofie. Maya sprach
eindeutig in ihrer Muttersprache. Dann ließ sie die Arme sinken und schlenkerte sie hin und her. Mit jeder ihrer Bewegungen drückte sie Verzweiflung aus. Ob sie weinte, konnte Sofie auf die Entfernung nicht feststellen, und sie überlegte, ob sie sich einmischen oder abwarten sollte. So als habe Maya einen unsichtbaren Befehl erhalten, fielen die hektischen Bewegungen von ihr ab, sie stand wie erstarrt
und verschwand wie eine hölzerne Puppe im Haus.
Sofies Herz klopfte zum zerspringen. Jetzt war sie sich absolut sicher, dass Maya einen Traum aus ihrer Welt gehabt hatte. Das Buch über die Lacandonen? Es beantwortete zwar die Frage nach ihrer Herkunft, nicht aber was sie derart erschüttert hatte. Sofie musste ihre ganze Kraft aufwenden, weiter geduldig
und gelassen zu bleiben. Mit Gewalt war hier nichts zu erreichen. Mindestens bis zum anderen Morgen musste sie warten.
Aber auch dann kam sie keinen Schritt weiter. In Maya hatte sich ein Wandel vollzogen, der aber nicht den geringsten Rückschluss auf die gestrige Reaktion zuließ. Sie zeigte einen fast fanatischen Lerneifer, ließ keine Gelegenheit aus, ihren Wortschatz zu erweitern. Sofie
war überzeugt, dass Maya sich inzwischen ausschließlich auf die Sprachübungen konzentrierte. Über ein eventuell aufrüttelndes Erlebnis sprach sie schon gar nicht. Eines allerdings fiel Sofie auf. In ihrem Skizzenbuch fehlten mehrere Seiten. Malte sich Maya Gedanken von der Seele, die sie nicht preisgeben wollte?
Die Zeit verging für Sofie so
rasend schnell, dass sie vom schlechten Gewissen gequälte wurde. Sie hatte sich nun mehrere Wochen nicht um den Besuchsdienst im Altenheim gekümmert, obwohl sie wusste, wie wichtig diese Zuwendung für die alten Menschen war. Über Sandra hatte sie sich regelmäßig über den Zustand ihrer Schutzbefohlenen informiert. Besonders freute es sie, dass es Mama Martha sehr gut ging und sie nach
wie vor oft nach Mama-Sofie fragte.
Sie überlegte allen Ernstes, ob sie Maya nicht einfach mitnehmen könnte. Sie müsste sich nur eine plausible Ausrede für ihre Anwesenheit überlegen. Dann warf sie alle Ausflüchte über Bord und entschied: Ich nehme Maya einfach mit und schaue, was sich ergibt. Es war ein herrlicher Spätsommertag, als sich Sofie mit Maya zu Fuß zum
Altenheim aufmachte. Sie fasste Maya wie ein Kind bei der Hand und schaute sie verschmitzt an. In ihren Augen las sie Verwunderung, aber auch ein wenig Neugier. Wie erwartet war der Residenzpark gut besucht.
In kleinen Gruppen saßen sie alten Menschen beisammen, nur wenige gingen alleine spazieren. Sofie sah Herrn Klausner, er war mit Karola Beitz, seiner Zimmernachbarin in ein
eifriges Gespräch vertieft. Sofie lächelte verwundert, da sich die Dame anfangs betont abseits gehalten hatte. Mit Maya an der Hand, ging Sofie quer über den Rasen auf Mama Martha zu. Ein strahlendes Lächeln glitt über ihr Gesicht, als sie Sofie erkannte. Sie klatschte vergnügt in die Hände. „Ich hatte recht“, rief sie aus, „du bist Mama geworden und hast keine Zeit mehr für uns.“ „Beides stimmt nicht ganz“,
verteidigte sich Sofie, „Ich habe einen ganz besonderen Gast. Diese junge Frau ist fremd in unserem Land und spricht unsere Sprache noch nicht. Für eine Weile bekommt sie noch meine ganze Aufmerksamkeit.“
„Natürlich, Sie können Sie sich ja nicht zweiteilen“, kehrte Martha zu der höflichen Anrede zurück. Sofie runzelte die Stirn, wenn Martha formell wurde, war das in der Regel kein gutes
Zeichen.
Da die anderen Sofie jetzt erkannten, wurde ihr von überall her zugerufen und gewunken. Auch Herr Klausner hatte sie bemerkt. Sofie sah ihm an, dass er zu ihr rüber kommen, aber Karola nicht alleine stehen lassen wollte. ‚Ein wahrer Gentleman, registrierte Sofie und widmete sich weiter Mama-Martha, die Maya mit unverhüllter Neugier musterte. „Das ist Maya“,
erklärte sie. „So“, kam es zögernd zurück, „kann die nicht für sich sprechen.“ „Sie kommt aus einem fremden Land und kann noch kein Deutsch“, erklärte Sofie „Wenn ich sie das nächste Mal mitbringe, wird sie es können.“ In dem Augenblick rief Sandra ihr aus dem Fenster zu und machte ihr Zeichen zu kommen. Sofie zögerte einen Moment, sollte sie Maya hier lassen oder mit zu Sandra nehmen? Sie
Entschied sich für mitnehmen. Es war ihr doch zu riskant, sie alleine den Fragen der alten Menschen auszusetzen.
„Komm, wir sagen Sandra guten Tag“, Sofie griff nach Mayas Hand und zog sie mit sich. Auf dem Weg ins Haus wurde Sofie noch zweimal aufgehalten und freudig begrüßt. „Alle nett“, murmelte Maya und schaute Sofie an. „Prima“, lobte sie, „ja, alle sind hier nett. Bald
wirst du sehr gut sprechen“, Sandra hörte noch den Rest des Satzes mit, streckte Maya beide Hände entgegen und entbot ihr ein herzliches Willkommen. Sie schob ihr eine Schale mit Gebäck hin. „Ein kleine Stärkung gefällig?“ Maya schaute ratlos „In Ordnung, also hast du Hunger, Maya?“ Die nickte und langte zu. „Na also, es geht doch.“
Wieder zu Hause angekommen, betrachtete
Sofie ihren Schützling von der Seite. Maya machte einen ausgeglichenen Eindruck. Dabei fiel ihr auf, dass sie immer noch von ihr ausrangierte Kleider trug. Das musste sie schnellsten ändern.
Fortsedtzung folgt