Sie tanzten nur einen Sommer
Schon lange musste sie nicht mehr auf die einzelnen Schritte achten. Wie von allein bewegten sich ihre Füsse. Es fühlte sich an, als ob sie schwebte und die Berührung ihrer Hände genügte, um ihr Halt und blindes Vertrauen zu geben.
Felicity tanzte, seit sie ein Kind war. Zuerst, weil es ihrer Mutter gefiel, später, weil auch ihre Freundinnen tanzten und noch viel später, weil es eine gute Gelegenheit war, sich vor der Schule zu drücken. Und doch war es für sie immer nur eine Art Sport. Es hätte keinen Unterschied gemacht, zum Handball zu gehen oder zum Schwimmen.
Es machte ihr Freude, sich zu bewegen, mehr war es nicht.
Dass Tanzen so viel mehr sein kann, erfuhr sie erst, als Colin ihr Tanzpartner wurde.
Der Teufel hatte sie geritten, nachdem sie in ihrem Studio das Plakat gesehen hatte. Eine Filmproduktion suchte eine Tänzerin, die als Double in einem Kinofilm mitwirken sollte. Die Bedingungen waren eindeutig fünfundzwanzig Jahre alt, schlank, exakt 1.65 groß, dunkelhaarig und aus Kosten-und Organisationsgründen, wohnhaft in L.A.
„Die suchen mich!“ Kichernd hatte sie mit ihrer Freundin Cassandra vor dem
Plakat gestanden, sofort damit begonnen, die männliche Rolle für den Film zu besetzen und natürlich ihr weiteres aufregendes Leben zu planen. Jeder bekannte Schauspieler und heimliche oder unheimliche Schwarm kam in Frage. Die Phantsie ging mit ihnen durch und erst der Beginn ihrer Tanzstunde und der schrille Ruf von Chantalle Armvièr, ihrer strengen Tanzlehrerin, holte sie zurück in die Wirklichkeit.
Und doch wurde aus dem Spaß recht schnell Realität. Felicity hatte sich aus einer Laune heraus tatsächlich unter der angegebenen Adresse beworben. Sie hatte nichts zu verlieren. Ihr Job in der
Zahnarztpraxis langweilte sie, seitdem ein neuer Chef die Karten in der Praxis umsortierte. Und Zeit war unnedlich zur Verfügung, weil Henry, ihr langjähriger Dauerfreund sie vor einem halben Jahr verlassen hatte.
Natürlich war sie schrecklich aufgeregt, als sie zum Casting eingeladen wurde. Noch aufgeregter war sie, als sie in die engere Wahl kam und nicht mehr auszuhalten war der Streß, als sie sich unter den letzten Dreien befand. Noch immer wusste sie nicht, was für ein Film gedreht werden sollte und auch von den Hauptdarstellern fehlte natürlich jede Spur. Nur die Info, dass ein Tanz-Double für die weibliche
Hauptrolle gesucht wurde, stand nach wie vor im Raum. Sie tanzte und tanzte, bewegte sich und lief vor den strengen Augen der Jury auf und ab, bis sie wirklich nur noch zu dritt übrig waren. Als nächstes war endlich der gemeinsame Auftritt mit dem männlichen Part geplant. Fürchterliche Aufregung und masslose Enttäuschung mischten sich, als bekannt wurde, dass auch dieser Hauptdarsteller gedoubelt werden sollte. Es würde also keinen Tanz in den Armen eines Schwarms geben. Schmollend wollte Felicity schon aufgeben, aber ihr Ehrgeiz war geweckt und sie blieb. Sollte sie den Part bekommen, würde sie vielleicht, wenn
auch nur als Double, in einem Kinofilm zu sehen sein. Das waren Aussichten, die eigentlich gar nicht so schlecht waren.
Nahdem die männlichen Tänzer den Saal betraten, bekamen sie Zeit, sich anzunähern und bekannt zu machen. Obwohl die drei Männer äußerlich fast nicht zu unterscheiden waren, fühlte sich Felicity auf der Stelle nur zu einem hingezogen. Colin ging es wohl ähnlich, denn auch für ihn stand die Wahl von der ersten Sekunde an fest. Mit ernster Mine schaute er sie aus braunen Augen so lange durchdringend an, bis sie ein leichtes Kribbeln auf ihrer Haut spürte. Sie redeten nicht viel, stellten sich nur
kurz vor und begannen sogleich, sich zur Musik zu bewegen. Zuerst noch getrennt voneinander, dann an den Händen haltend und zum Schluß, der zur Verfügung stehenden Zeit, auch als Paar. Schnell waren die dreißig Minuten vergangen und Felicity stellte erstaunt fest, dass sie beide nicht das Bedürfnis verspührt hatten, die Partner zu tauschen oder die anderen wenigstens kennenzulernen. Ihre Chemie stimmte, wie man so oft sagt und das hatten offensichtlich auch die Juriemitglieder bemerkt, die als stille Beobachter anwesend waren.
„Ihr müsst ohne Kopf tanzen! Wie oft
soll ich Euch das noch sagen?“ Pablo Ramaz, ihr Tanztrainer hatte diesen Satz inzwischen mindestens zweitausend Mal gesagt. Manchmal sogar geschrien, wenn sie beide wieder und wieder die gleichen Fehler machten. Was bedeutete ohne Kopf tanzen? Sie hatte sich das oft gefragt, sich aber nie getraut die Frage laut zu stellen. Es musste einfach funktionieren. Colin und Felicity hatten den Job bekommen, waren als Paar ausgewählt worden, um die Rollen in den Tanzszenen zu doubeln.
Was dann folgte, war nicht immer amüsant. Es war der wohl heisseste Sommer, den L.A. jemals erlebt hatte. Die Luft in dem Studio auf dem
Produktionsgelände war zum Schneiden, unerträglich dick und stand wie eine Wand im Raum. Pausenlos schien die Sonne durch die Fenster, die sich an drei Seiten der Halle befanden und der breite Spiegel an der vierten sorgte dafür, dass die Sonne auch noch schien, wenn sie eigentlich schon nicht mehr sichtbar war. Öffnete jemand die Fenster, drang unerträglicher Großstadtlärm herein, blieben sie geschlossen, war es schwierig, Luft zu holen.
Pablo, der Trainer, ein Perfektionist durch und durch und als Spanier allem Anschein nach an Temperaturen dieser Art gewöhnt, gab auch dann noch nicht nach, wenn Felicity und Colin einige
Schritte bereits fünfzig Mal geprobt hatten. Immer und immer weiter forderte er die Beiden beständig und duldete so gut wie keine Pausen. Nur zum Wassertrinken animierte er immer wieder.
„Wasser ist Leben und ihr lebt beide nicht!“, war ein weiterer seiner Sprüche. Warum hatte man sie eigentlich gecastet, wenn sie so schlecht waren, fragte sich Felicity an manchen Tagen, aber auch diese Frage behielt sie für sich.
Im Grunde bekam sie in diesem Sommer nicht viel vom realen Leben mit. Bald schon wurde es zur Magie mit Colin zu tanzen und wenn sie den Saal betrat, fiel
alles von ihr ab. Vergessen war der Stress in der Praxis, genau, wie der Streit mit Cassandra, die sich beschwerte, weil sie keine Zeit mehr zusammen verbrachten. Vergessen war auch die unerträgliche Hitze, die den Schweiß schon auf die Haut trieb, wenn man bewegungslos verharrte. Vergessen war auch der Film, für den sie so hart trainierten. Kaum schloss sich die Tür hinter ihnen, die ersten Takte der Musik erklangen und Colin kam mit ausgestreckten Händen auf sie zu, drehte sich die Welt andersherum. Eigentlich blieb sie sogar manchmal stehen. War Colin überhaupt von dieser Welt? Wenn er sie in den Arm zog und die ersten
Schritte führte, fühlte es sich so an, als ob sich ein Schalter in ihrem Leben umlegte. Es war, wie in Wasser tauchen, schwerelos werden, bewegen, ohne die Füße am Boden zu haben. Es war schmerzhaft schön und gleichfalls befriedigend, wie aufregend. In Colins Armen flog sie ohne Flügel und hatte niemals Angst abzustürzen. Mit ihm schwamm sie im Wasser und fürchtete die Tiefe nicht. Hielt er sie mit seinen kühlen Händen fest, standen sie im strömenden Regen und wurden nicht nass.
Was war das zwischen ihnen? Sie redeten nicht viel miteinander und sie wusste fast nichts von ihm. Er lebte
allein, hatte er einmal erzählt und verdiente sein Geld mit Kunst. Mehr war nicht aus ihm herauszukriegen, aber wollte sie es wirklich wissen? Sie trafen sich auch nicht vor oder nach den Trainingsstunden. Manchmal fragte sich Felicity, wie es wäre, mit ihm in einer Bar zu sitzen oder hinter ihm auf einem Motorrad. Auch, wie er sich unter seiner engen Tanzkleidung anfühlte. Aber ihre Phantasie genügte nicht dafür. Colin war Colin, ihr Tanzpartner und für den Zeitraum der Übungsstunden, ihre zweite Hälfte. Der Teil, ohne den sie nicht komplett war.
Die Wochen des Sommers vergingen, Felicity lebte in einem Traum, fernab
jeder Wirklichkeit. Sie war eingeschlossen in diesem merkwürdig schönen Kokon aus Musik, Tanz und Colin. Bis zur Perfektion hatten sie es geschafft und sie war unendlich stolz und glücklich, als ihr Tanzlehrer nach der letzten Probe andächtig geschwiegen hatte, um dann, nach endlos erscheinenden Minuten langsam aufsah und in die Hände klatschte. Es war der letzte Tag vor Beginn der Dreharbeiten für sie beide. Die für den Film liefen schon längst und ihre Szenen sollten in den nächsten zwei Wochen gedreht werden. Es war ihr egal, dass sie die Hauptdarsteller treffen würden, auch, dass gemeinsame Drehzeiten mit ihnen
geplant waren. Alles was zählte, war die Zeit, waren die Tanzstunden, die sie mit Colin verbrachte.
Wie im Nebel vergingen die nächsten Tage. Felicity funktionierte, die Szenen für den Film wurden gedreht und sie tanzte, wie um ihr Leben. Es war wie ein Rausch, als sie die ersten Momente des Films anschauen durften, Colin griff unter dem Tisch nach ihrer Hand und drückte sie leicht. Sie waren gut, sehr gut sogar.
Am Abend des letzten Tages der Dreharbeiten, Pablo hatte sich bereits verabschiedet und nach und nach verliessen auch alle anderen das Gelände, saßen Felicity und Colin noch
lange auf der Begrenzungsmauer des Studios. Ganz dicht nebeneinander schauten sie der untergehenden Sonne zu. Er hatte einen MP3-Player mit der Filmmusik dabei, ihr einen Ohrhörer ins Ohr gesteckt und den anderen sich selbst. Langsam wiegten sie sich zu den Klängen. Als es längst dunkel war, zog er sie an sich und tanzte mit ihr ein letztes Mal ihren gemeinsamen Tanz. Erst in diesem Moment, als sie sich an ihn geschmiegt, wie Halme im Wind bewegten, begriff Felicity, was dieser eine Satz des Trainers bedeutete - was es hieß, ohne Kopf zu tanzen.
„Danke für unseren Sommer.“ Leise flüsterte er ihr die Worte ins Ohr.
Sie hörten sich nach Abschied an und es war auch einer.
Fortsetzung folgt …
© Fliegengitter 2015