Die Frühzeit des massentauglichen Internet ist eine Geschichte der Entbehrungen. Mir ist, als wäre es erst gestern gewesen, dass ich so um 2000 herum vor meinem nikotinfarbenen PC vom Ausmaß eines Hochofens saß, der keuchte und stöhnte wie Darth Vader mit Schnappatmung und mit dem ich mich über ein schnarchlahmes Modem ins Netz einwählte, das ich nach hoffentlich erfolgreicher Verbindung wie einen Götzen anbeten musste, selbige bitte nicht ungefragt wieder zu trennen.
War dem Modem eh egal. Das Modem war ein Arschloch. Diese plötzlichen Verbindungstrennungen, untermalt von
einem schadenfrohen »Klack« waren ein Ärgernis, weil damals jede scheiß Einwahl sagenhafte vier Pfennig kostete. Das klingt nicht teuer, aber weil ich das pro Tag vier, fünf Mal machte, so ziemlich jeden Tag im Monat natürlich, ganz davon abgesehen, dass die stehende Verbindung seinerzeit ja auch noch minütlich knapp zwei Pfennig kostete (was schon wahnsinnig günstig war) und es für angefangene Minuten hinterher nichts zurückgab, bedeutete das am Monatsende vor allem eines: »Kannst du mir mal bitte erklären, warum wir wegen dir schon wieder so eine hohe Telefonrechnung haben?« Das Für-die-Schule-Argument zog dabei in meinem
Fall irgendwann auch nur noch begrenzt, weil mir bald keiner mehr abnahm, dass man für akkurate Schulnoten jeden Monat Unsummen im Internet versurfen musste. Vorher ging's schließlich auch ohne. Ja gut, vorher ging's auch ohne das Rad, und trotzdem stünde der Autofahrer von Welt heute ohne Rad irgendwie ziemlich blöd vor seiner Karre rum.
Aber ganz im Ernst: Was machten wir eigentlich im Internet? Liebe Eltern der letzten Generation, natürlich haben eure Sprösslinge dieses komische Internet nicht für die Schule benötigt. Nicht nur, jedenfalls. Solange sich die Texte für
die nächste Wandzeitung eins zu eins auch vom Bertelsmanns CD-ROM-Lexikon klauen ließen, reichte uns das. War deutlich bequemer, als sich extra ins Internet einzuwählen und dabei zuzuschauen, wie die langsamsten Ladebalken der Welt sich gemütlich wie ein Hundertjähriger mit Rollator von null auf hundert Prozent hochkrebsten, während die Seite sich aufbaute, als würde sie jemand mit Papier und Prittstift von Hand zusammensetzen. Die Lehrer damals kamen außerdem nicht mal mit einem Videorekorder klar, drum war keine Hausaufgabe der Welt darauf ausgelegt, dass man irgendwas aus diesem komischen Internet heraussuchte.
Nein, also wenn wir schon ins Netz gingen, dann für die wichtigen Dinge des Lebens.
Um über Napster illegal Musik zu laden beispielsweise. Das mit der gestohlenen Musik war freilich nicht neu, schließlich hatten wir CDs vorher auch schon im Laden geklaut, aber mit dem Internet hatte sich dieser Prozess digitalisiert. Künstler, Plattenfirmen und der nun nicht mehr benötigte Hausdetektiv fanden das vermutlich blöd, dafür freuten sich die Telefongesellschaft und die Verteiler von AOL-CDs. Und natürlich sämtliche Hersteller von CD-Brennern. CDs waren überhaupt prima:
Im Gegensatz zu Kassetten gab's nie Bandsalat, und grundsätzlich gingen die Dinger eigentlich nur dann kaputt, wenn man sie an seine Freunde verlieh.
An und für sich war das »Saugen« von Musik in der Anfangszeit allerdings eine ziemlich zähe Angelegenheit. In einer Welt, in der eine simple Webseite ohne Bewegtbildgedöns – denn das gab es damals fast gar nicht – drei Minuten zum Laden benötigte, schaffte es auch die neuste Metallica-Single nicht schneller auf die Festplatte. Und wenn dann die Gegenseite, also der Blödmann, von dem man das Lied gerade kopierte, kurz vor Ende die Verbindung kappte, bekam man
glatt Mordgelüste, denn nun musste man von vorn beginnen. Selbst machte ich mir daraus natürlich auch gerne mal einen Spaß. Hahaha, du willst dieses Lied haben, ja? Haha, nur noch vier Prozent? Drei? Zwei? Eins? Nope, Freundchen! Ein Klick, und alles war umsonst. Die Arbeit einer ganzen Stunde – verbrannte Erde aus unbrauchbaren Dateihappen.
Abgesehen von den hohen Telefonrechnungen fanden zumindest die meisten Eltern das aber ganz toll, was wir so machten. Sie kapierten nicht, was unsereiner da tat, wenn wir wie der Angestellte des Monats im
professionellen Presswerk eine Silberscheibe nach der anderen im Brenner verschwinden ließen, um sie hinterher fein säuberlich mit Edding oder sogar bedruckten Labels zu verzieren und auf einen großen Stapel zu legen, der hinterher an Freunde oder andere Interessenten verteilt wurde – gegen Bares natürlich. Am Computer zu hocken war aus Elternsicht besser, als draußen heimlich eine Schachtel Kippen nach der anderen wegzuziehen. Nicht, dass dafür keine Zeit mehr gewesen wäre, aber ... Elternlogik halt.
Am Computer sitzen hieß für Eltern, wenn man nicht gerade zockte, dass man
was lernte. Was für die eigene Zukunft tat. Für meine Mutter galt die für sie logische Devise: Beschäftigt der Junge sich mit dem Computer, macht er später mal was Anständiges und muss nicht am Fließband Plastikpflanzen zusammenkleben. Zwar klebe ich heute beruflich tatsächlich keine Plastikpflanzen zusammen, hätte ich mich damals beim Schwarzkopieren aber erwischen lassen, dann hätte ich vielleicht im Knast welche zusammengeklebt.
Um 2000 herum war auch an das Herunterladen von Serien und Filmen noch gar nicht zu denken. Gott, diese
gigantischen Datenmengen! Ganze Filme, pah! Die passten doch gar nicht durch die Leitung. Und dann die Kosten! Einen neuen Film direkt in den USA zu kaufen – per Selbstabholung – wäre billiger gewesen. Mein Neid galt seinerzeit den paar Freunden mit teurer ISDN-Leitung. Wessen Eltern einen entsprechenden Vertrag bei der Deutschen Telekom hatten, der surfte nicht nur bedeutend schneller als ich mit meinem 56K-Miniaturpanzer, sondern durfte an gesamtdeutschen Feiertagen auch noch umsonst telefonieren und damit eben auch ... UMSONST SURFEN!!!
Ein digitales Eldorado tat sich für jene
Glücklichen auf. Den Luxus nutzte einer meiner Freunde seinerzeit, um in einem fein abgestimmten Projekt über mehrere Sonntage hinweg Gina-Wild-Filme herunterzuladen. Gina Wild – die Älteren werden sich erinnern – war um die Jahrtausendwende herum neben Goethe und Schiller eine der großen deutschen Kulturfiguren (»Jetzt wird's schmutzig« – ein Drama in sieben Akten) und gehörte definitiv auf selbstgebrannte CD-ROMs, die es auf dem Schulhof zu verteilen galt, wenn man mal neue Freunde brauchte. Alle anderen mussten sich mit den unzähligen Internetseiten voller, äh, Aktbilder zufrieden geben, die einem beibrachten, was mit
Körperöffnungen anatomisch gesehen noch so alles möglich ist. Ja, auch dafür brauchten wir das Internet, wenn wir uns im Zimmer einschlossen, um in Ruhe für die Schule zu lernen.
Heute kommt man an Filme und Musik viel einfacher und deutlich ungefährlicher. Es gibt tolle Online-Dienste wie Spotify. Will ich eine neue Platte anhören, kann ich das da tun. Jederzeit, immer wieder und das alles auch noch für umme und ganz legal. Ähnlich dekadent verhält es sich mit Filmen und Serien: Dank Netflix weiß ich inzwischen, dass nach »Akte X« doch nicht alle Serien Grütze waren. Dafür
weiß ich auch, dass »Akte X« sehr wohl Grütze war. Ja gut, will man sich aktuelle Folgen der Serie »Game of Thrones« anschauen, dann ist's immer noch wie vor zwanzig Jahren, weil die Rechteinhaber irgendwie zu glauben scheinen, sie könnten am meisten verdienen, wenn wirklich niemand ihre Serie anschauen kann. Nicht fragen, ist halt so. Die Vertriebschefs haben vermutlich im Jahr 1850 erfolgreich BWL studiert und glauben, digitaler Vertrieb mache impotent.
Aber gut, es waren unschuldige Zeiten damals, als man noch das Gefühl hatte, das ganze Internet würde von
Dampfmaschinen angetrieben. Heute gibt es den Spaß fast nur noch drahtlos, ohne fiepsendes Modem, das man in die Telefondose stöpseln muss, das die Leitung blockiert und so die Familie vom Rest der dauernd anrufenden Verwandtschaft abklemmt. WLAN gab es damals ja nicht. Und als es das endlich doch gab, war es beschissen: unsicher und die Verbindung schwankte schlimmer als Johnny Depp auf 'ner Pressekonferenz. Ein sehr cooler Trick war, zur Verbesserung der Verbindung etwas Alufolie um die Antenne des Routers zu wickeln. Das sah ziemlich nerdig aus und half kein bisschen. Leider.
Wie sich das geändert hat! Heute besteht die Luft zum Atmen wahrscheinlich zu fünfzig Prozent allein aus WLAN. Einmal zu tief Luft geholt, schon hat man vielleicht den viel versprechenden Online-Flirt des Nachbarn verschluckt. So ändern sich die Zeiten: Früher bekam man beim Einzug in eine WG zuerst den Schlüssel, heute fragt man nach dem WLAN-Passwort. Alles kein Thema mehr. Wer heute online sein will, kann das problemlos auch auf dem Klo sitzend tun, ohne den PC auf einem Rollwagen ins Bad karren und sich überlegen zu müssen, wie er die Verlängerungsschnüre durch die Bude legen soll. Früher druckte ich mir interessante Webseiten
aus und nahm sie zum Lesen mit aufs Örtchen, heute machen das nur noch CDU-Politiker. Sorgenfrei auf dem Lokus hocken und die Zeit versurfen, während der eigene Hintern allmählich mit der Klobrille fusioniert, das wäre damals undenkbar gewesen.
Und auch der Begriff des Surfens an sich hat sich verändert: Erkundete man früher noch mutig auch die finstersten Ecken des World Wide Web (Ja, natürlich möchte ich den Sexy-Teens-Newsletter täglich kostenlos an meine Mailadresse geschickt bekommen, schließlich ist er KOSTENLOS!), besteht dieser Mut heute weitestgehend darin, nicht nur die
Facebook-Timeline rauf und runter zu scrollen, sondern auch mal auf das Profil von Leuten zu klicken, die noch nicht in der eigenen Freundesliste vor sich hin gammeln.
Aus dem harten Scrollrad früher Tage ist eine verweichlichte Wischgeste geworden. Was uns früher beim Schleppen kaputte Knie und Rückenschmerzen bescherte, stecken wir nun in bunte Hüllen und werfen es in die Handtasche. Smartphones mit Dauer-Online-Zugang sind allgegenwärtig. Wir haben unsere digitale Unschuld verloren, unseren Entdeckergeist an Steve Jobs und Mark Zuckerberg verkauft. Man
könnte weinen, wäre das nicht alles so ungemein praktisch. So schön bequem. Die Welt steht uns so viel offener als früher, es gibt keine Grenzen mehr. Wer braucht digitalen Survivalurlaub wie früher, wenn er all inclusive mit Klimaanlage haben kann? Ich muss nur mein Telefon in die Hand nehmen, den Browser öffnen und ... oh ... Mist, Datenvolumen ist aufgebraucht.