Kleiner Junge in der U Bahn
Ich sitze in der U Bahn auf meinem Platz am Fenster.
Triste, graue, dunkle U-Bahntunnel. Im Fenster epileptisches
Aufzucken einzelner Lampen an der Tunnelwand.
Meine Gedanken im Leerlauf. Bei mir selbst. Bei meinen Problemen.
Mein Blick leer, ausdruckslos, wie der vieler Anderer.
Mir gegenüber sitzt du, kleiner Junge.
So Zart, so zerbrechlich, so jung. Dein Blick schweift aus dem Fenster
und verliert sich in der Dunkelheit.
Neben mir lässt sich eine alte Dame
nieder. Sie hat zu viel getrunken – trinkt wohl des Öfteren zu viel. Was ihr wohl passiert ist?
Kleiner Junge, in deinen Augen sehe ich, dass du genauso denkst.
Dein Blick trifft meinen und er verharrt einen kurzen Moment. Wir wissen es.
Wir wissen, dass wir das Selbe denken. – Was denkst du, kleiner Junge?
Du schaust wieder aus dem Fenster, verfolgst das Aufzucken der Lampen und deine Gedanken schweifen ab. Ich sehe sie aus dem Fenster fliegen, auf Reisen gehen.
Was hast du erlebt, kleiner Junge? Warum sind deine Gesichtszüge schon jetzt die eines Erwachsenen? Neben mir
schreit die alte Dame ihr Gegenüber an. Sie tritt und schreit und meckert. Wie konnte es soweit kommen? Arme alte Dame…
Kleiner Junge, hast du Angst? Hab keine Angst, sie wird auch vieles erlebt haben, was sie prägt. Ich fühle, dass du nachdenkst. Worüber denkst du nach, kleiner Junge.
Ich schaue dich immer noch an. Meine Blicke suchen deine. Ich will dich verstehen, dir sagen, hab Kraft und Geduld. Will dir sagen, dass alles gut wird und man
an seinen Problemen wächst… Doch ich schaue dich nur fasziniert an.
Ich rutsche etwas näher an das Fenster,
um dem Geruch der Dame zu entfliehen.
Ein Lächeln huscht über dein Gesicht. Ich lächle zurück. Ganz kurz nur.
Die Dame wird immer lauter und ich überlege, was ich tun kann, wenn sie dir zu nahe kommt.
Ich will dich beschützen, kleiner Junge. Diese Welt ist zu grausam für Kinder, wie dich.
Der Mann gegenüber der Dame wird beleidigend. Du und ich, wir sitzen stumm da.
Sie schreit und droht mit der Polizei…hörst du ihre Verzweiflung, kleiner Junge?
Der Mann neben dir wechselt den Platz… Die alte Dame legt ihren Beutel
voller Flaschen auf den jetzt leeren Platz und sackt dann zusammen… Sie ist so kaputt, mein kleiner Junge…
Die Menschen sind so kaputt… Du weißt es. Ich sehe es an deinen Augen. Du verzweifelst auch… Habe Kraft und glaube an dich, kleiner Junge.
Ich blicke dir in die Augen… ganz kurz nur…ein leichtes Lächeln…
Du suchst deine Sachen zusammen, stehst auf und drängst dich vorsichtig an der alten Dame vorbei. Der Zug hält und du steigst aus.
…Pass auf dich auf kleiner Junge aus der U Bahn…
… Ich sitze hier alleine mit der alten
Dame neben mir…
Inzwischen sind genug andere Plätze frei und ich könnte mich weit weg setzen von
dem Geruch alter Bierflaschen…
... Ich bleibe sitzen…
Ich weiß, wie Ablehnung sich anfühlt.