Biografien & Erinnerungen
Das Haus an der Brücke

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"Mein erster Prosatext von 1992"
Veröffentlicht am 10. Februar 2015, 10 Seiten
Kategorie Biografien & Erinnerungen
© Umschlag Bildmaterial: fleur de la coeur
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Über den Autor:

"Der Lyriker bringt seine Gefühle zum Markt wie der Bauer seine Ferkeln." Wilhelm Busch Habe hier 2010 mit Gedichten begonnen, aber das meiste davon ist für mich inzwischen passé. Man lernt auch als Großmutter nicht aus ;-) Bin in der DDR aufgewachsen, immer berufstätig gewesen, links orientiert. In zweiter Ehe verheiratet, gehören zu meiner Familie drei Enkelinnen. Den Nick "Fleur de la coeur" hat seinerzeit meine Freundin Seelenblume ...
Mein erster Prosatext von 1992

Das Haus an der Brücke

Das Haus an der brücke

Joschka hat kaum Erinnerungen an den Krieg. Das ist kein Wunder, denn bei Kriegsende war er erst vier Jahre alt. An ein Erlebnis aus dieser Zeit – April 1945 – erinnert er sich jedoch recht gut, da es ihn sehr beeindruckt hatte. Wahrscheinlich hat sich auch im Laufe der Jahre in seinem Gedächtnis Selbsterlebtes mit später Gehörtem vermischt.
Damals lebte Joschka mit seiner Familie in einem kleinen Dorf in der Oberlausitz. In dem am Dorfrand, unmittelbar am Ufer der Spree gelegenen, alten Umgebindehaus war schon sein Großvater geboren. Ganz in der Nähe

überspannte eine Eisenbahnbrücke das Spreetal in weitem Bogen. Die Dörfler nannten sie nach der Anzahl ihrer Brückenpfeiler die „Siebenbrücke“.
Ende April, als die Front näher rückte, verbreitete sich Unruhe im Dorf; man befürchtete die Bombardierung der Brücke. Manche Familien erwogen, ihre Häuser zu verlassen.
Als Joschka eines Tages hinter dem Haus mit Silberpapierstreifen spielte, die von einem Flugzeug abgeworfen worden waren, rief seine Mutter aufgeregt nach ihm: „Joschka, schnell, wir gehen in den Wald!“

Im Wald war er bis dahin noch nie gewesen,

den kannte er nur aus Märchen. Erwartungsvoll stürzte er in das Haus, wo ein fieberhaftes Packen im Gange war; Kleider, Hausgerät, Lebensmittel , alles wurde in Koffer, Taschen, Rucksäcke gestopft – die Großmutter hatte sogar ihren riesigen Tragekorb vom Boden geholt – bis der Vater zu Recht Einhalt gebot. Sie hatten gut zehn Kilometer auf abgelegenen Feld- und Wiesenwegen zu laufen, also musste alles Unnütze zurückbleiben. Die Mutter nahm den Kleinen bei der Hand, schnell noch ein bisschen wärmer anziehen, nachts konnte es ja kalt werden. Dann schnallte sie ihm einen kleinen Rucksack um, der etwas Wäsche zum Wechseln und den geliebten Teddy enthielt.


Schon ging es los. Auf dem Handwagen türmte sich das Gepäck, dazu eine Kiste mit vier Kaninchen und das Bettzeug. Die Ziege war von der Nachbarin, die ihr Haus nicht verlassen wollte, in Obhut genommen worden. Der Vater drängte zur Eile, kaum blieb Zeit für einen Blick zurück. Es war erst Ende April, aber der Apfelbaum stand schon in voller Blüte.
Joschka schien es, dass sie sehr lange unterwegs gewesen waren. Der überladene Handwagen ächzte auf den unebenen Wegen, die Großmutter jammerte immer wieder nach der Ziege, und ob es wohl richtig gewesen war, sie zurückzulassen. Er selbst konnte bald

nicht mehr laufen, war zuletzt auf den Wagen gesetzt worden. Endlich schlug die Familie – völlig erschöpft – ihr Nachtlager unter hohen Bäumen auf. Das Wetter war so mild und trocken, dass man Decken und Federbetten über einer dünnen Reisigschicht auf dem Waldboden ausbreiten konnte. Nach den Strapazen des Tages schliefen alle tief und fest.
Am nächsten Tag wurde Joschka von lautem, fröhlichem Vogelgezwitscher geweckt, die Sonne blinzelte durch die Baumkronen. Nach dem Frühstück schnitzte ihm der Vater einen richtigen kleinen Wanderstock. Joschka fand es wunderschön im Wald, aber die Erwachsenen waren unruhig und besorgt.

Er erinnert sich nicht mehr, wie viele Tage sie im Wald zugebracht hatten. Genauso unvermittelt, wie sie von zu Hause aufgebrochen waren, traten sie den Rückweg an. Es war nicht nötig, dass der Vater zur Eile trieb. Unter der fast schon sommerlichen Hitze stöhnend, liefen sie immer schneller, je mehr sie sich dem Dorf näherten.
Angesichts der zerstörten Brücke begann die Großmutter zu weinen, es standen nur noch fünf Pfeiler. Ihr Haus war noch nicht zu sehen, da sprang Joschka vom Handwagen und rannte quer über die Wiese. Am Gehöft der alten Hanka musste er verschnaufen. Den Rucksack neben sich im Gras, starrte er auf sein Haus, das hinter dem Apfelbaum

hervorlugte. Ja, es stand noch da, aber anstelle des Dachs leuchtete der blaue Himmel durch ein Balkengerippe. Sein Haus ohne Dach! Joschka war fassungslos. „Glück im Unglück!“, hörte er die Mutter sagen, die ihm nachgelaufen war. Als die Brücke von der zurückweichenden Wehrmacht gesprengt worden war, hatte die Druckwelle lediglich das Dach abgedeckt, die Ziegel lagen nun – teilweise zerbrochen – um das Haus herum verstreut. Aber das verstand Joschka damals nicht.
Er konnte seinen Blick nicht abwenden von dem alten Haus mit dem leeren Balkengerippe über seinen unebenen Lehmwänden, verwitterten Holzbalken und

den kleinen Fenstern. Im Erdgeschoss hatten die Großeltern ihre Küche, Stube sowie einen Vorratsraum für Kohlen, Heu und anderes. Vom rückwärtigen Teil des Hausflurs gelangte man in den Ziegenstall und den dahinter angebauten Abort. Wasser spendete die Pumpe auf dem Hof. Joschka wohnte mit seinen Eltern im Obergeschoss. Von der Wohnküche war die Schlafstube nur durch eine Bretterwand abgeteilt. Außerdem gab es noch zwei Kammern. Ein sehr bescheidenes Anwesen, dennoch war Joschkas Familie stolz auf ihr Zuhause; es war alles, was sie besaß.

Das neue Dach, im hinteren Teil mit Dachpappe gedeckt, weil die Ziegel nicht

mehr gereicht hatten, erinnerte Joschka später noch viele Jahre an das Kriegsende mit der Übernachtung im Wald.

© fleur

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Über den Autor

FLEURdelaCOEUR
"Der Lyriker bringt seine Gefühle zum Markt wie der Bauer seine Ferkeln."
Wilhelm Busch

Habe hier 2010 mit Gedichten begonnen, aber das meiste davon ist für mich inzwischen passé. Man lernt auch als Großmutter nicht aus ;-)
Bin in der DDR aufgewachsen, immer berufstätig gewesen, links orientiert. In zweiter Ehe verheiratet, gehören zu meiner Familie drei Enkelinnen.

Den Nick "Fleur de la coeur" hat seinerzeit meine Freundin Seelenblume für mich ausgesucht. Er hat nichts mit der Gestalt aus den Harry-Potter-Büchern Fleur Delacour zu tun.

Inzwischen bin ich im letzten Lebensquartal angelangt, da küsst mich die Muse nur noch selten. ;-(

mariewolf43@gmail.com

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schnief Eine wunderbare Geschichte, die du mit viel Gefühl geschrieben hast.
Liebe Grüße Manuela
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR 
Liebe Manuela,
es ist die Geschichte meines Mannes. Das Foto habe ich am 3. Oktober gemacht, als wir dort in der Oberlausitz zu seinem Klassentreffen waren. Ich würde mich sehr freuen, wenn sie in das Buch passt.
Vielen Dank und liebe Grüße
fleur
Vor langer Zeit - Antworten
Memory 
Eine sehr authentische und vor allem gefühlvolle Geschichte, die im Moment so aktiúell ist, wie sie damals war.
Ich kenne einige solche Erlebnisse aus den Erzählungen meines Dads. Selten hat er sich dazu aufraffen können, vom Krieg zu erzählen, aber wenn, dann ging es immer um die Flucht. Sie mussten Hamburg verlassen und sind in Sachsen Anhalt gelandet, waren nie richtig glücklich darüber und haben Hamburg immer vermisst. Nach der Grenzöffnung war das seine erste Reise.
Oft muss ich jetzt daran denken, wenn ich die vielen "Reisenden" sehe.
Danke für den Gedankenanstoß.
Liebste Grüße zu dir
deine Sabine
Habe keine Coins mehr, aber der Favo ist mehr als verdient.
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR 
Liebe Sabine,
ich habe diese Geschichte damals als Hausaufgabe an eine Schreibschule in Hamurg geschickt. Inzwischen leicht korrigiert ...
Es gab da ein Bild, wo ein kleiner Junge mit aufgerissenen Augen an einem Zaun steht, dazu mussten wir schreiben. Da fiel mir das eben ein, was die frühkindlichen Erinnerungen meines Mannes so beherrscht hat. Für ihn war es ein Abenteuer, doch für die Erwachsenen Angst ... Das Haus sieht auf dem Foto noch viel majestätischer aus, als es war und heute ist. Bin froh, dass ich es nicht von innen sehen musste ...

In meiner Familie hat der Krieg auch viel Unglück gebracht, mein Vater im letzen Kriegsjahr gefallen, das Haus meiner Oma in der Westprignitz 1945 voll von Flüchtlingen aus dem Osten, ihre älteste Tochter und deren vier Kinder sinnlos ermordet ... Ja, wer kann da schon glauben, dass die heutigen Flüchtlinge aus reinem Spaß unser Land überströmen ...

Danke dir, meine Liebe, kann dir auch keine Coins vermachen, aber das finde ich so nebensächlich ...
Ganz liebe Nachtgrüße
deine fleur
Vor langer Zeit - Antworten
Memory 
So viel Elend, das ist einfach furchtbar und wird noch Generationen weiter Narben hinterlassen.
Gerade jetzt muss ich viel daran denken. Im TV sieht man ja nur die "Schwärme" von Menschen, aber hinter jedem steht ein einzelnes Schicksal und meistens auch Familien.
Wenn ich dann unsere wohlbehüteten Kinder sehe und mir anhöre, worüber in meinem Umfeld gestöhnt wird ...

Ich wünsche dir für heute einen schönen Abend
und grüße dich ganz lieb
deine Sabine
(Und fein, dass wir uns auch einig sind, was die Coins betrifft. Ich finde sie auch sehr sehr unwichtig)
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR 
Liebste Sabine,
so ist es, Krieg ist das Schlimmste überhaupt, was einem im Leben passieren kann, weil man keinerlei Einfluss mehr hat darauf .... Ich habe meinen Vater immer vermisst, so wie heute die Flüchtlinge ihre Verluste vermissen ...
Aber wie das mit der Flüchtlingswelle weitergehen soll, müssen schon auch die Politiker regeln.
Seien wir einfach froh, dass wir bisher nur indirekt betroffen sind.

Ich hoffe, es ist alles im grünen Bereich bei dir und schicke dir
liebste Nachtgrüße
deine fleur
Vor langer Zeit - Antworten
shirley Meine Omi lebte viele Jahre in Forst - Lausitz. Daran musste ich beim Lesen als erstes denken.
Sehr gern hier gewesen, hast ja super viele liebe Kommis unter mir.....;)
Lg Shirley
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR 
Liebe Shirley,
Forst gehört zur Niederlausitz und zu Brandenburg. "Joschkas" Dorf liegt bei Bautzen, gehört zur Oberlausitz und zu Sachsen. Das sind ca. 90 km Entfernung.
Ja, er kann dieses Kindheitserlebnis bis heute nicht vergessen ...
Danke auch dir für deinen lieben Besuch
LG fleur
Vor langer Zeit - Antworten
MarieLue Durch die Geschichten unserer Großeltern und Eltern lernen wir sie kennen und verstehen.
Eine schöne Geschichte!
Herzliche Grüße
Marie Lue
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR 
Danke dir für's Lesen und das Geschenk, liebe Marie Lue. Ich habe mich sehr gefreut.
Bin ein paar Jahre jünger als "Joschka", habe daher keine eigenen Erinnerungen an den Krieg, aber Nachkriegserinnerungen sehr wohl. Ich habe die Kleider und Schuhe meiner Cousinen aufgetragen, die 1945 ermordet wurden, und konnte als kleines Kind nicht verstehen, warum meine Oma immer geweint hat ...
Herzlichst
fleur
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