Kapitel 110 Leben
Eden wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit sie das letzte Mal wieder bei Bewusstsein gewesen war. Zeit war etwas, das keine Rolle mehr zu spielen schien, wenn man starb. Am liebsten wäre es ihr ohnehin wenn endlich alles vorbei wäre. Außer ihrem schmerzenden Körper schien ohnehin kaum etwas zu existieren. Nur den kalten Steinboden und die Schemen der vier Wächter, die Zachary hier zurück gelassen hatte, durchdrangen gelegentlich den Schleier der sich um ihre Wahrnehmung gelegt hatte. Und
selbst dann schien alles weit weg und im Halbdunkel verborgen.
Nun jedoch hörte sie zum ersten Mal fremde Schritte, die sich näherten. Vielleicht hatten die übrigen Aufseher mittlerweile doch den Mut zusammenbekommen, es zu Ende zu bringen. Besser, als hier langsam auszubluten wäre es allemal…
Ein helles Licht blendete sie einen Moment und sie blinzelte. Selbst das tat weh. Auch wenn sie instinktiv versucht hatte, wenigstens ihr Gesicht zu schützen, waren ihr Augen halb zugeschwollen und sie damit fast blind. Eden erkannte langsam, das das grelle Licht von einer Laterne stammte, in der
eine Öllampe brannte. Den Mann, der das Glasgehäuse hielt kannte sie nicht.
Die Gestalt trug eine rote Robe und hatte ein bereits vom Alter gezeichnetes Gesicht. Dunkle Ringe unter den Augen zeigten, dass er in letzter Zeit wohl nicht sonderlich viel geschlafen hatte.
,,Ich bin hier…“ Eine zweite Person schob sich in ihr Blickfeld und sie erkannte Zachary.
Eden wollte irgendetwas antworten, aber selbst das Suchen nach Worten war im Augenblick zu viel. Götter, sie wollte einfach wieder abdriften, in die ruhige Dunkelheit wo…
,,Wach bleiben !“ , herrschte der fremde Mann sie an und zu ihrem eigenen
erstaunen zeigte es Wirkung. Es machte nichts besser, riss sie aber vor dem Abgrund zurück, in den sie beinahe gefallen wäre. Schlaf… ohne jemals wieder zu erwachen.
,,Ihr könnt ihr doch helfen ?“ , fragte Zachary.
Der Fremde brummte etwas unverständliches, während er nur weiter auf sie herabsah, wohl unsicher, was er mit dem blutverkrusteten, schmutzigen Bündel Fell anfangen sollte.
,, Normalerweise behandle ich nur Menschen. Aber ich kann wohl ihre äußeren Wunden versorgen. Säubern und vernähen, wo es nötig ist. Was innere Verletzungen angeht, kann ich jedoch
nicht viel tun. Wir müssen einfach hoffen, dass sie es so übersteht.“
Eden wollte etwas sagen, die Worte jedoch gingen ihr abermals verloren, als der Mann ein Stück Tuch mit irgendeiner Flüssigkeit tränkte und auf eine ihrer Wunden drückte. Der Schmerz verzehnfachte sich und obwohl ihr ganzer Körper dagegen aufbegehrte, wäre sie vielleicht aufgesprungen. Die Vernunft jedoch war grade noch stärker. Stattdessen Biss sie schlicht die Zähne zusammen und wartete auf den Moment, an dem die Pein nachlassen würde.
,, Alles wird wieder gut.“ , meinte Zachary, während er sich neben sie setzte. ,, Du wirst schon
sehen.“
Sie schüttelte den Kopf, bevor der Heiler dazu kam, die zweite Verletzung zu säubern. Wenn er sich wirklich um alle Schnitte und Blessuren einzeln kümmern wollte, würde das hier wohl eine Weile dauern.
,, Was soll das, Zachary ? Ich sterbe hier unten sowieso, das weißt du und das weiß ich. Wir…“ Sie beendete den Satz nicht, als der Heiler sich einer Schnittwunde an ihrer Schulter zuwandte. Ein scharfkantiges Stück Fels hatte dort eine klaffende Verletzung hinterlassen, aus der nach wie vor Blut strömte.
,, Das werde ich aber nicht zulassen, Eden.
Ich habe Andre erklärt, das ich nur bleibe, solange ich weiß, das du lebst.“
,, Wehe du machst das mit. Ich…“ Die Gejarn wurde erneut unterbrochen, als der Arzt begann, die Wunde mit groben Stichen zusammenzunähen. Er schien sich nicht wirklich darum zu Schweren, wie es ihr dabei ging. Vermutlich war er mehr auf Androhung Andres hier als freiwillig. Er wollte es einfach hinter sich haben. Nun da war er nicht der einzige, dachte Eden.
,,Ich komme schon klar.“ , erklärte sie, als die Nadel endlich aufhörte, sich durch ihre Haut zu graben.
,, Bitte Eden. Ich habe dich in Lasanta nicht gerettet um dich jetzt hier sterben
zu sehen.“
Hatte er grade Lasanta gesagt? Ihr Verstand war nach wie vor nicht ganz klar, dachte sie. Oder ? In Lasanta war doch überhaupt nichts passiert. Sie waren alle halbwegs Unverletzt aus der Sache heraus gekommen. Und sie hatte sogar… Die Knochenstarre. Ahnen, das hatte er nicht getan, oder?
,, Zachary ?“
,, ich wollte nichts sagen. Aber offenbar willst du mir genau so wenig zuhören wie Andre !“ , er klang jetzt zum ersten Mal mehr wütend als verzweifelt. ,, Ismaiel hat mir dabei geholfen. Nicht ohne einen Preis natürlich. Jormund ist nicht einfach nur entkommen, Eden. Ich
musste ihn gehen lassen. Dafür habe ich bekommen, was nötig war um dich zu heilen.“
,, Du hast was getan ?“
,, Mir ist durchaus klar, dass das keine gute Idee war. Später hat er immerhin Jiy und die anderen Überfallen. Aber bitte, Eden… Ich werde dich jetzt genau so wenig einfach sterben lassen wie damals.“
Sie schwieg einen Moment. Auf was hatte sich dieser Junge da bloß eingelassen? Und doch kam ihr dieses Wort jetzt schon falsch vor. Zachary war kein Kind mehr. Das hatte er durchaus bewiesen. Aber er war auch weit davon entfernt, vernünftig zu sein, wenn es
nach ihr ging. War das vielleicht der Grund, aus dem Ismaiel sie seltsamerweise in Schutz genommen hatte? Wenn ja, wollte sie gar nicht wissen, was der alte Magier plante. Nur eines war klar. Vielleicht konnte Zachary fliehen, aber wenn Ismaiel hinter ihm her war würde er nicht entkommen.
,, Also gut.“ , antwortete sie schließlich. Es war besser, sie hatte ein Auge auf ihn und war wenigstens noch… da falls sie eingreifen musste. Wie immer sie das auch anstellen würde. ,, Versprich mir nur, das du auf dich aufpasst.“
,, Solange du in Zukunft dasselbe tust.“ Und mit schüchterner Stimme, die Eden
wieder mehr an den Jungen erinnerte, den sie kannte fragte er : ,, Du bist mir also nicht böse?“
Sie musste wieder nachdenken, während der Arzt unbeteiligt ihre letzten Wunden versorgte. Sie fühlte sich nicht wirklich viel besser. Aber das Gespräch hielt sie wenigstens davon ab, wieder das Bewusstsein zu verlieren.
,, Böse ist nicht das richtige Wort. Geschehen ist nun mal geschehen, Zachary. Aber du weißt nicht, worauf du dich einlässt… Ich weiß es auch nicht. Und das macht mir Angst. Was immer Ismaiel dir anbietet… schlag es aus, verstehst du das?“
Zachary lachte bitter. ,, Nichts anderes
hatte ich vor. Ich bin nicht si dumm zu glauben, er würde mir irgendetwas geben, ohne davon selber etwas zu haben.“
,, Ich meine das ernst, Zachary. Egal was. Der Preis den du zahlst wäre zu hoch. Schwör es mir. Egal was.“ Und wenn es ihre Freiheit war. Genau das fürchtete sie letztlich. Das war das eine, das Zachary nie ausschlagen würde. Genau deshalb musste sie ihm das Versprechen abnehmen.
,, Ich verspreche es.“ , antwortete Zachary schließlich.
,,Gut.“
Der Wundarzt hatte derweil seine Arbeit beendet. Eden fühlte sich mittlerweile
wie ein lebender Flickenteppich, aber wenigstens blutete sie nicht mehr. Es war ein Witz. Sobald sie wieder n die Arbeit müsste, würden die meisten Wunden ohnehin wieder aufreißen. Allein der Gedanke, aufstehen zu müssen schien ihr schon wie ein Unüberwindbares Hindernis.
Zachary wendete sich an seine vier Wächter, die die ganze Zeit über im Hintergrund gewartet hatten und jeden, der die große Hauptkammer passierte davon abhielten zu nahe zu kommen.
,,Können wir sie irgendwo hinbringen wo sie erstmal… sicher ist ?“ Er warf einen Blick in Richtung eines Aufsehers, der grade die Höhle in Richtung
Silberschmelze passierte.
,, Lord Andres Anweisungen sind eindeutig. Sie muss hier bleiben. Es gibt aber einige verlassene Tunnel.“ , bemerkte einer der Männer. ,, Dort wird nicht mehr gearbeitet.“
Eden konnte beinahe am eigenen Leib spüren, wie Zachary sich anspannte. Dann jedoch wurde er wieder ruhiger. Er könnte noch einmal zu Andre gehen, sicher. Aber der würde niemals zulassen, dass man sie an einen weniger gut bewachten Ort brachte. Das war grade das eine, auf dem die Zwickmühle beruhte, in die er Zachary gebracht hatte.
,, Glaubst du, du kannst aufstehen
?“
Eden hätte am liebsten Nein gesagt. Aber ihr war selber klar, dass sie nicht schlicht hier liegen bleiben konnte, also nickte sie.
,, Aber ich glaube, du musst mir aufhelfen.“
Obwohl erneut eine Welle aus Schmerzen über sie hinwegspülte, ergriff sie Zacharys Arm und kam langsam wieder auf die Füße. Einen Moment schwankte sie und die Welt begann sich zu drehen.
,, Alles in Ordnung ?“
,, Ich brauche nur einen Moment.“ , antwortete Eden. Tatsächlich bräuchte sie mindestens ein paar Wochen absolute Ruhe, dachte sie. Die Schläge hatten
nichts gebrochen, da war sie sich sicher, trotzdem war sie ein einem erbarmungswürdigen Zustand. Nach wie vor war ihr Tod wahrscheinlich.
Doch sie hatte sich jetzt dagegen entschieden, dachte sie. Sterben war nicht länger eine Option. Sie musste auf Zachary achten, falls Ismaiel den Magier benutzen wollte. Viel würde sie nicht tun können, aber sie wollte wenigstens da sein.
Sich mehr voran schleppend, als wirklich laufend, folgte sie einem von Zacharys Wächter in Richtung der leer stehenden Tunnel. Sobald sie den Schacht betraten war auch Eden klar, das hier schon lange niemand mehr gewesen war. Die
Schienen am Boden waren verfallen und Brocken Geröll lagen über den Boden verteilt. Wasser lief die Wände herab und sammelte sich in Pfützen am Boden.
Irgendwie weckte dieser Ort bloß ungute Erinnerungen in ihr. Aber für den Moment wäre es die einzige Zuflucht, die sie hatte.
,, Kommt niemand hierher =“ , fragte Zachary.
,, Warum sollten sie ? Der Tunnel ist eine Sackgasse und außerdem nicht mehr sonderlich stabil.“ Der Wächter der gesprochen hatte deutete auf eine morsche Stützstrebe. Moos und Algen hatten sich auf dem Holz festgesetzt. ,, Ich denke, wir sollten uns nicht weiter
vor wagen als nötig. Das ist weit genug.“
Zachary protestierte nicht, sondern half Eden lediglich sich zu setzen. Mit dem Rücken an die Felswand gelehnt ging es ihr schon etwas besser.
,, Ich will, das sich jemand dem ihr vertrauen könnt darum kümmert, das sie etwas zu Essen bekommt. Zusammen mit allem, was sie sonst braucht.“ Und mit einem Blick in Richtung des Arztes, der ihnen schweigend gefolgt war fügte Zachary hinzu. ,,Ihr werdet regelmäßig nach ihr sehen. Andre wird euch dafür entlohnen. Wenn nicht… sagt ihr mir das.“
Eden konnte nicht anders, als einen
Moment Stolz auf den jungen Magier zu sein. Er wusste, was er tat, das schien klar. Und vielleicht war er reifer, als sie das immer wahr haben wollte. Sie spürte bereits, wie ihr die Augen zufallen wollten. Doch diesmal war sie sich sicher, dass es nicht der Schlaf der Toten sein würde. Nein. Sie würde wieder zu Kräften kommen.
,,Ich muss gehen.“ , meinte Zachary beinahe entschuldigend. ,, Andre wird mich nicht zu lange hier bleiben lassen und wenn er jemanden schickt um nach mir zu suchen…“
Sie nickte. ,, Ich komme ab jetzt schon klar. Pass auf dich auf.“
Statt einer Antwort legte er sanft einen
Arm um sie und sie erwiderte die Umarmung, soweit ihre Schmerzenden Knochen das zu ließen.
,, Man wird uns nicht vergessen haben.“ , flüsterte sie, so leise das die anderen es unmöglich hören konnten. ,, Cyrus gibt uns nicht auf, genau so wenig wie Erik oder Jiy und Kellvian. Wenn auch nur einer von ihnen noch lebt, erden sie uns finden.“
Zachary löste sich mit einem Nicken von ihr, bevor er seinen Begleitern bedeutete, ihm zu Folgen. Eden sah ihnen eine Weile nach und bis ihre Schritte in der Ferne verhallten. Dann schlief sie den Kopf an die Wand gelehnt
ein.
Als sie wieder erwachte, stellte sie jedoch fest, dass sie nicht mehr alleine war. Und das sie die Kälte des Steins nicht mehr spürte. Irgendjemand hatte eine Decke über sie gelegt. Ein zerrissenes und Schmutzfleckiges Stück Stoff, aber für die meisten hier unten wertvoller als das Silber, das sie aus dem Berg brachen.
Ein dutzend abgerissener Gestalten, Sklaven, hatten sich um sie versammelt. Es musste wohl eigentlich Ruhezeit sein, sonst hätte es wohl keiner von ihnen gewagt, hier zu erscheinen. Warum waren sie hier?
,, Das Wasser.“ , begann einer zu
sprechen, ein junger Gejarn, dessen leere, ausgebrannte Augen tatsächlich so etwas wie Ehrfurcht zeigten. ,, Wir haben euch nicht geholfen. Sie hätten uns alle getötet. Aber…“
Er brach ab und Eden sah sich in der versammelten Runde um. Und in allen Augen sah sie denselben seltsamen Ausdruck. Eine Mischung aus Hoffnung, Verzweiflung…. Und Respekt. Diese Leute hatten sie kämpfen sehen, wie ihr klar wurde. Etwas, das sie immer für unmöglich gehalten hatten.
Zum ersten Mal seit Jahrzehnten hatte so etwas wie Hoffnung in ihre Herzen Einzug gefunden. Und Eden würde nicht diejenige sein, die diese Flamme
erstickte
,, Da findet sich eine Lösung.“ , antwortete sie. ,, Es gibt immer einen Ausweg.“ Und ihr war durchaus klar, was das hieß. Mit diesen einfachen Worten hatte sie sich grade zur Anführerin gemacht. Zur Anführerin eines angerissenen Haufens von Arbeitssklaven. Männer und Frauen, die bis grade keine Hoffnung mehr hatte.
Eden lächelte schwach. Es würde Vorbereitungen brauchen. Aber grade eben hatte eine Revolte ihren Anfang genommen…