Über die Ufer...
Es war Mitte August, im Jahr 1958. Die Sonne brannte vom Himmel und ihr heißer Atem legte sich auf das Land. Von Westen nahte eine Gewitterfront. Dunkle Wolken zogen langsam aber stetig heran und eine unerträgliche Schwüle breitete sich aus.
Meine Großmutter saß auf der Veranda unseres kleinen Hauses und wischte sich mit ihrem in Kölnisch Wasser getränkten Taschentuch über das Gesicht. Schwerfällig stand sie aus ihrem Schaukelstuhl auf, um nach uns Kindern zu sehen. Sie mahnte uns, endlich aus
dem Wasser zu kommen.
Meine Schwester, mein Bruder und ich badeten in dem kühlen Nass der Werse. Gerade jetzt war es in dem erfrischenden Gewässer so wunderbar und nur widerwillig folgten wir ihren Worten. Die ersten Donner waren bereits zu hören und ab und zu erhellten Blitze den mittlerweile dunklen Himmel. Regentropfen platschten ins Wasser und ein starker Wind war aufgekommen.
Wir sahen unsere Großmutter den Hang herunterlaufen und hörten sie immer wieder unsere Namen rufen.
Sie winkte unaufhörlich und ihre Worte klangen schon fast hysterisch, als sie uns
zum wiederholten Male aufforderte, sofort nach Hause zu kommen. Jetzt beeilten wir uns, ihr Folge zu leisten, denn das Getöse am Himmel machte uns nun doch Angst. Plötzlich krachte es. Ein greller Blitz jagte zur Erde und traf die alte Eiche in der Nähe unseres Hauses. Zu Tode erschrocken rannten wir unserer Oma entgegen, um schnell mit ihr ins schützende Heim zu laufen. Dort standen wir dann in Handtücher gehüllt und schauten aus dem Fenster zu, wie sich das Gewitter weiter entlud. Es krachte und blitzte in einer Tour. Donner und Blitze wechselten sich im Sekundentakt ab. Dazu schien sich der Himmel geöffnet zu haben, denn es
regnete wie aus Kübeln.
Mittlerweile hatten wir uns umgezogen. Da auch die Temperatur stark gefallen war, wurde wärmere Kleidung notwendig. Immer wieder schauten wir ängstlich aus dem Fenster. Es regnete nun schon seit Stunden. Die Werse war mittlerweile über ihre Ufer getreten. Immer höher stieg das Wasser. Unser Haus stand auf einer Anhöhe, mitten im Grünen. Es war eine ehemalige Badeanstalt, im Turnerbad, die mein Großvater und mein Vater zu einem wohnlichen Heim umgebaut hatten. Die angrenzenden Häuser waren alle aus massivem Stein gebaut, nur unser
Häuschen war ein Holzhaus und wir hofften, dass es dem Unwetter standhielt. Immer weiter stieg das Wasser an und erreichte bereits die ersten umliegenden Boots- und Ferienhäuser, die alle das ganze Jahr über bewohnt waren. Einige Anwohner verließen bereits ihre Häuser, als klar wurde, dass man gegen diese Urgewalt der Natur nichts unternehmen konnte als nur zu beten und abzuwarten.
Erst nach vielen Stunden beruhigte sich die Wetterlage. Als wir endlich die Tür unseres Hauses öffneten und auf der Veranda standen, erblickten wir das ganze Ausmaß des Unwetters. Die Werse
war zu einem reißenden Fluss geworden. Die Schleusen an der Pleistermühle waren geöffnet worden, man sah es an der starken Strömung, die die Wassermassen mitsamt der heruntergefallenen Äste und Baumreste mit sich trugen. Die meisten Bootsschuppen und Häuser standen zum Teil unter Wasser. Nur die höher gebauten Wohnstätten wurden verschont.
Erste Sonnenstrahlen spiegelten sich im Wasser und wir hörten das erleichterte Zwitschern der Vögel in den Zweigen. Die Luft war klar und frisch.
Die Eiche vor unserem Haus war in der Mitte durch einen Blitz gespalten
worden. Leichter Rauch stieg uns in die Nase, aber der starke Regen hatte die Flammen sofort gelöscht.
Wir hier oben waren verschont geblieben. Die Bewohner der Nachbarhäuser hatten rechtzeitig das Weite gesucht und waren teilweise zu uns geflüchtet. Unsere Großmutter und auch wir hatten alle Hände voll zu tun, warme Getränke, Decken und etwas zu essen zu verteilen.
Dieses Erlebnis hat sich mir in mein Gedächtnis eingebrannt. Hat es doch meine bis dahin unbeschwerte Kinderzeit an der Werse mit anderen Augen sehen lassen. Damals wurde mir
bewusst, wie wenig wir doch den entfesselten Naturgewalten entgegen zu setzen haben...und wie viel Glück wir doch in jener Zeit hatten.
Heute fließt die Werse in meist ruhigen Bahnen. Durchgeführte Wasserschutzmaßnahmen fruchteten und nur selten hörte ich in den folgenden Jahren von katastrophalen Überschwemmungen in diesem Gebiet. Der später angelegte Werse-Radweg verläuft durch die vom Fluss geprägte idyllische Landschaft von Rheda-Wiedenbrück bis Gelmer - ein beschauliches, ruhiges Gebiet. Nichts weist darauf hin, dass unsere Natur doch
unberechenbar ist, auch wenn sie uns oft so friedlich erscheint.
© Sonja Rabaza