Kapitel 104 Rache muss sein
Eden blinzelte einen Moment, geblendet von der Sonne, die sich auf den weißen Schneeflächen spiegelte. Ihr war seltsam kalt und einen Moment wusste sie nicht, wo sie war… Alles in ihrem Kopf drehte sich. Aber irgendwie kam ihr dieses Gefühl viel zu bekannt vor. Es war Jahre her, fast ein Jahrzehnt…
Sie lag im Schnee, der unter ihr schmolz und rasch als Eiswasser durch ihre Kleidung drang. Ihr Mantel bot vielleicht normalerweise Schutz vor Wind und Wetter, aber die schneidende Kälte und den Wind hielt der Stoff nicht
ab.
Zachary…
Sie tastete mit einer Hand durch den Schnee und fand die seine, während ihre Augen sich langsam an das irritierende Licht gewöhnten.
,,Geht es dir gut ?“ , fragte sie.
,,Ja…“ Die Antwort war gedämpft und sie spürte, das auch er vor Kälte schlotterte. Eis bildete sich auf ihrer Kleidung und verfing sich in Edens Fell. Die Gejarn versuchte aufzustehen. Dabei erhaschte sie einen Blick auf zwei dunkle Stiefel, die unter einem schwarzen Umhang hervorlugten. Langsam hob sie den Kopf weiter und starrte bald in zwei bernsteinfarbene
Augen, die auf sie und Zachary hinab sahen. Sie hielt es nicht für möglich, aber blitzte da einen Moment so etwas wie bedauern in den Augen dieser Kreatur auf. Ismaiel ließ sich erstaunlich elegant auf ein Knie herab.
,, Ich hoffe es geht euch gut.“
Eden lachte bitter, während sie Zachary aufhalf und sich den Schnee von den Schultern klopfte. Wenn sie Ismaiel angriff, würde er sie höchstwahrscheinlich beide töten, ermahnte sie sich.
,, Seit wann interessiert euch so etwas bitte…“
Der uralte Magier blieb die Antwort schuldig, während er sich Zachary
zuwandte. Eden sah sich derweil mit wachsendem Schrecken um. Sie kannte diesen Ort. Sie kannte ihn sogar sehr gut. Die düsteren Hallen, die sich beinahe wie ein Schmutzfleck in der ansonsten weißen Umgebung erhoben. Die rußgeschwärzten Balken, die man offenbar aus dem Feuer gerettet hatte. Oh ja, sie wusste genau wo sie sich befand. An genau dem Ort, an dem sie sich in ihren Alpträumen wiederfand…
Sie waren auf dem Innenhof des Herrenhauses aufgetaucht. Das Gebäude hatte nur noch vage Ähnlichkeit mit dem Prunkbau, den Eden bei ihrer ersten Ankunft hier gesehen hatte. Offenbar durch den Brand, den Syle und die
anderen verursacht hatten schwer beschädigt, war das Gebäude vielleicht noch halb so groß wie zuvor und an vielen Stellen waren deutlich noch Bauarbeiten in Gange. Gerüste hüllten fast die komplette Westliche Fassade ein. Lange Baumstämme, die wohl erst noch zugeschnitten werden mussten, lagerten in einer Ecke des ummauerten Hofs. Und über eine lange Treppe, die durch ein eisernes Gittertor gesichert war, konnte Eden hinab in die Stadt sehen. Silberstedt selbst hatte sich zu ihrem letzten Tag hier noch am aller wenigsten verändert.
Ismaiel griff derweil nach der Kette an Zacharys Hals. Der Junge versuchte noch
zurückzuweichen, doch zu spät. Der alte Zauberer war ein gutes Stück schneller und riss das Silberband einfach an sich. Das große, blaue Juwel hatte jeglichen Glanz verloren. Eden wusste durchaus, was das bedeutete. Die Energie von Falamirs Träne war erschöpft zumindest fürs erste. Und Zachary…
,, Ich glaube nicht, das du mir ohne das noch viel Ärger machen kannst. Oder entkommen wirst.“ , sprach Ismaiel Edens Befürchtungen aus. Zachary war eine wahre Koryphäe , ein Naturtalent, das die meisten Magier des Ordens bei weitem Übertraf, selbst ohne die zusätzliche Macht, die er durch den Stein gewann. Aber gegen den Erzmagier
des alten Volkes hätte er keine Chance… Und sie hoffte innerlich, dass er es auch nicht versuchen würde.
Fieberhaft überlegte Eden, wie sie hier wieder rauskommen sollten. Einfach rennen war keine Option. Ismaiel würde sie mit einem Gedanken stoppen können, wenn ihm danach war. Und ob man sich vor ihm wirklich Verstecken konnte, war eine ganz andere Frage.
Und dann kam der Moment, den sie gefürchtet hatte, seit sie wusste, wo sie sich befanden. Die Türen des Herrenhauses schwangen auf und eine in einen schweren, schwarzen Pelzmantel gekleidete Gestalt trat heraus, gefolgt von mehreren bewaffneten Söldnern in
grauen Uniformen. Ein violetter Schulterumhang wehte hinter ihr im Wind. Andre de Immerson musterte sie mit einem Ausdruck aus Hass und Wiedererkennen.
Einen Moment fürchtete Eden fast, die Zeit hätte ich schlicht zurück gedreht. Und sie wäre schlicht wieder genau da, wo sie angefangen hatte. Aber da waren immer noch Ismaiel, die Söldner… und der gewaltige Abgrund, der neben dem Herrenhaus klaffte, umgeben von grauem, vom Ruß dunkel gefärbtem Schnee.
,, Wenn das keine Überraschung ist…“ Andres Stimme klang kalt, als er vor Ismaiel und ihnen stehen
blieb.
,, Seht es als zusätzliches… Geschenk.“ , meinte Ismaiel , während der Herr Silberstedts einen Schritt auf Eden zumachte.
,, Das sehe ich.“ Ohne Vorwarnung holte r mit der Hand aus und schlug zu. Doch Eden sah die Bewegung kommen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte sie einen Schlag über sich ergehen lassen um den zwanzig, die sonst folgen zu entgehen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte sie die Schmerzen in Kauf genommen und ihre Wut bezwungen. Aber das war eine andere Gejarn gewesen, in einem anderen Leben. Andre hatte es nicht mit einer verängstigten,
ausgehungerten Sklavin zu tun, dachte sie grimmig. Bevor Andres Schlag sie traf, wich sie zurück… und biss einfach zu. Ihre Zähne gruben sich in die Handfläche des Lords. Dieser schrie auf und wich zurück, offenbar überrascht von der plötzlichen Gegenwehr. Verzweifelt versuchte er seine Hand zu befreien und hieb mit der freien Faust nach ihr. Eden ignorierte die Schläge. Andre de Immerson war im Gegensatz zu ihr alt geworden. Sie hingegen hatte weit schlimmeres Überstanden, als ein paar Fausthiebe. Nach den letzten Monaten in denen sie gefürchtet hatte, das Gefühl in ihrem ganzen Körper zu verlieren, hieß sie die schwachen
Schmerzen sogar willkommen…
Und dann stieß irgendetwas Andre zurück, während ihre Fänge sich noch immer in seine Haut gruben. Er schrie auf und landete einige Schritte von ihr entfernt im Schnee. Blut troff aus seiner aufgerissenen Hand und seine Augen starrten weit aufgerissen auf Zachary. Der Junge mochte gegen Ismaiel keine Chance haben. Andre hingegen war wie eine Puppe im Griff der Magie.
,, Hör endlich auf !“ Seine Stimme war laut genug um selbst Andres Wächter einige Schritte zurück weichen zu lassen.
Eden spuckte Blut. Vor allem Andres. Ismaiel hingegen stand einfach schweigend dabei, scheinbar noch nicht
bereit, irgendetwas zu unternehmen. Er musterte den verwundeten Vater und den aufgebrachten Sohn lediglich neugierig.
,, Meinen eigenen Sohn gegen mich aufhetzen… das habt ihr gut hinbekommen Eden…“ Andre erhob sich schwerfällig, immer noch die blutende Hand stützend. Hoffentlich, dachte Eden, verlor er ein paar Finger. Es sah zumindest fast so aus. Sie hätte sicher gehen sollen… ,, Tötet sie…“
Zachary stellte sich schützend vor ihr. ,, Stirbt sie, sterbe ich… Vater.“
,, Das glaube ich nicht…“ Andre faltete die Hände in der so typischen Geste zusammen.
,, Ich lasse dir keine Wahl.“ Das Feuer,
das in Zacharys Augen loderte war echt. Magie, die nur darauf wartete entfesselt zu werden. ,, Ich brenne hier alles nieder bis es mich umbringt.“
Zu Edens Überraschung war es ausgerechnet Ismaiel, der plötzlich dazwischen trat. Er machte eine beiläufige Geste in Richtung Andre, der plötzlich zusammenzuckte, nach wie vor seine Hand haltend. Das zerfetzte Fleisch fügte sich innerhalb weniger Augenblicke zusammen, während der Lord darum kämpfte, auf den Beinen zu bleiben und nicht laut zu Schreien.
,,Besser, schätze ich ?“ Ein schwaches Lächeln huschte über die Züge des Magiers. ,, Vielleicht könnten wir jetzt
auch vernünftig miteinander reden…“
,, Hast du mir den nichts zu sagen ?“ , presste Andre zwischen halb geschlossenen Lippen hervor.
,, Lass Eden und mich gehen. Vielleicht eines Tages dann wieder. Wenn Kellvian dich nicht hinrichten lässt.“
,, Dieser… Narr wird noch darum bitten, dass ich ihn verschone. Genau wie seine verfluchte Kaiserin.“
Eden lachte auf. ,, Euch ist wirklich nicht klar, dass ihr schon verloren habt, oder ?“
Tatsächlich war sie sich nicht einmal sicher, ob Kellvian noch lebte. Oder irgendeiner der anderen. Oder Cyrus… Aber darüber würde sie erst gar nicht
nachdenken. Es ging ihm gut. Und früher oder später würden sie hier auftauchen. Sollte Andre sie töten, daran änderte das nicht das Geringste. Auch nicht daran, das Zachary ihn für alle Ewigkeit Hassen würde… Der Gedanke war auf eine Weise befriedigend und traurig zugleich. Vielleicht war es teilweise ihre Schuld aber… Nein Andre hatte das selbst zerstört. Er hatte die Chance gehabt.
,, Ismaiel, nennt mir einen guten Grund, warum ich sie mir nicht vom Hals schaffen soll !“
,, Und was genau erhofft ihr euch davon, Immerson ?“ Der Zauberer klang nur noch gelangweilt. Es interessierte ihn
wohl schlicht nicht, wie das hier ausging. Er sprach jedoch so leise, das Zachary ihn wohl nicht hören würde. Eden jedoch hatte bei weitem bessere Ohren. Hatte er das vergessen oder war das Absicht?
,, Meinen Sohn zurück.“ , murmelte Andre, ebenfalls unhörbar für den jungen Zauberer. ,, Ich bin sein Vater.“
,, Dann geht ihr es falsch an. Glaubt ihr das wäre so einfach? Nach was ? Mehr als acht Jahren, die die beiden zusammen verbracht haben ?“ Ismaiel klang amüsiert. ,, Ihr redet praktisch davon seine Mutter zu töten.. Zum zweiten Mal, wenn ich richtig liege. Sehr
Intelligent“
Der Magier schien den Lord tatsächlich zu verspotten.
,,Ihr wagt es…“
,, Ich sage euch nur, was jeder, der kein Narr ist erkennen müsste. Ihr seid kein Narr oder?“
,, Rache muss sein. Habt ihr eine Ahnung, was diese Frau alles zerstört hat ? Sie hat ihn doch bloß manipuliert, all diese Jahre…“
,,Vielleicht.“ Ismaiel zuckte mit den Schultern. ,, Vielleicht auch nicht. Es kümmert mich auch nicht. Aber es verbessert eure Lage trotzdem nicht.“
,, Ich sollte sie einfach töten.“
,, Und da wären wir wieder beim Punkt.
Ganz sicher nicht. Sie ist grade euer Schlüssel. Der Junge würde alles tun, soviel weiß ich sicher…“ Den letzten Teil des Satzes verstand Eden nicht mehr, aber sie ahnte bereits nichts Gutes. Vor allem, weil sich Andres Mine plötzlich aufhellte.
,, Also gut.“ , meinte er schließlich und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Er nickte einem seiner Wächter zu. ,, Aber bringt sie mir aus den Augen. Zu den Minen. Aber tötet sie nicht. Außer sie versucht zu fliehen… Tut mir einfach den Gefallen Eden!“
Die Männer machten einen Schritt auf die Gejarn zu. Sie hatte nichts, mit dem sie sich noch wehren konnte. Selbst
wenn… wären es zu viele, sagte sie sich. Jetzt zu kämpfen würde nur bedeuten, dass sie jede Hoffnung auf Flucht fürs erste Begraben konnte. Noch war es nicht vorbei. Trotzdem keimte beim Gedanken an die Silberminen leichte Panik in ihr auf. Sie war nie dort gewesen, aber die Diener in Andres Haushalt hatten sich Geschichten darüber erzählt. Selbst wenn nur ein Bruchteil davon wahr wäre, lebendig begraben unter den Gebirge bis sie an Schwäche oder Alter starb… Eden schüttelte den Kopf. Soweit würde es nicht kommen.
,,Nein !“ Zachary Stimme klang mühsam beherrscht und erneut konnte niemand das bedrohliche glitzern in seinen Augen
missverstehen.
Zu Edens Überraschung, war es Ismaiel, der den jungen Zauberer mit einem Blick Richtung Eden beschwichtigte. ,, Sie wird Leben.“ , erklärte er ruhig. ,, Mehr wirst du nicht bekommen, wenn ihr nicht beide sterben wollt. Sei nicht dumm.“
,, Warum interessiert euch das ?“ Zachary klang nach wie vor nicht überzeugt, aber nicht mehr wütend. Verdammt, selbst Eden musste Ismaiel innerlich recht geben. Dieser Mann konnte unglaublich überzeugend sein, wenn er es für nötig hielt.
,, Vielleicht, weil ich im Gegensatz zu deinem Vater verstehe, dass du nicht bluffst. Du würdest bereitwillig sterben,
sollte Eden etwas passieren. Daran habe ich keinerlei Zweifel. Den Beweis hast du längst geliefert.“ Eden musterte das uralte Gesicht des Zauberers. Wovon bitte sprach er grade? Was wusste Ismaiel, das sie nicht wusste? ,, Und ich habe kein Interesse an deinem Tod.“
Bevor Zachary etwas erwidern konnte, wurde Eden bereits an den Schultern gepackt. Wiederwillig und dem Drang wiederstehend ihren Bewachern einfach die Finger zu brechen, ging sie mit. Das letzte, was sie hörte, bevor sie vom Hof geführt wurde waren Andres Worte.
,, Und wir werden uns unterhalten.“ , meinte er an Zachary gerichtet.
Die Gejarn warf einen letzten Blick
zurück, der sich mit Zacharys traf. Dann drehte auch er sich um und folgte Andre langsam in Richtung Herrenhaus. Der einzige, der auf dem verschneiten Platz zurück blieb war Ismaiel, die Hände in den Ärmeln seiner Robe verschränkt. Die Kälte schien er nicht zu spüren.
,, Interessant.“ , murmelte er leise. ,, Äußerst… interessant.“