Ein paar von den Jungs kannte er noch. Da war dieser Junge, den sie früher immer nur „Chickenwing“ genannt hatten. Früher war er nur einer von vielen jungen Spielern gewesen, die sich bei den Profis versuchen durften. Heute war dieser schmalbrüstige Knabe der absolute Star der Mannschaft. Jürgen konnte sich noch gut daran erinnern, dass einer seiner Kollegen ihn in der Dusche einmal angepisst hatte, woraufhin „Chickenwing“ fast den Verein verlassen hätte. Was für ein Glück für den Club, dass er es nicht getan hatte. Heute war der Bursche Millionen wert. Jürgen hatte dem Kommentator den Saft abgestellt. Er konnte sich dieses hohle Geschwätz einfach nicht anhören, mit den Journalisten hatte er schon früher auf Kriegsfuß gestanden. Außerdem liebte er es, die reine Stadionatmosphäre wenigstens zu hören. Als die Spieler unter dem tosenden Applaus der Fans den Rasen betraten, wünschte sich Jürgen zum x-ten Mal, dass er immer noch mit dabei wäre. Doch seine aktive Zeit war abgelaufen. Er war ein Ex. Ein Ehemaliger. Ein Nichts. „Jürgen!“ Die Stimme seiner Frau hallte durch den Flur, wie das Geräusch eines rostigen Nagels auf einer Schultafel. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er sich eigentlich hatte anziehen sollen, nun aber nur mit einem Anzugshemd und einer Jogginghose bekleidet vor dem Fernseher saß. Er trug bereits einen Schuh, allerdings war der andere Fuß nicht mal mit einer Socke bekleidet und die Anzugshose hatte er noch gar nicht an. Die Klamotten hatte ihm natürlich Bianca rausgelegt, wie immer. Er selbst war unfähig so etwas zu tun, er schaffte es nicht einmal ein Brötchen alleine aufzuschneiden, ohne dass es hinterher aussah, als wäre ein wilder Schimpanse darüber hergefallen. Niemand hatte ihn je gelehrt selbständig zu sein, die achtzehn Jahre als Fußballprofi hatten ihr Übriges dazugetan. All das waren keine bewussten Gedanken, die Jürgen hatte, sie schwirrten als zerfetzte Gedankenfragmente durch sein Unterbewusstsein, ohne das Jürgen Zugriff auf sie gehabt hätte. Bianca stand in der Tür und beobachtete ihn mit diesem speziellen Blick, bei dem Jürgen sich immer vorkam, wie ein geistig behindertes Kind in einer Großfamilie voller Hochbegabten. Er bemerkte, dass sie auf seine Füße starrte. Weder verärgert, noch amüsiert. „Thomas holt uns in zwanzig Minuten ab“, sagte sie ausdruckslos.Jürgen wandte seinen Blick nicht vom Fernseher ab, nickte aber, um ihr zu zeigen, dass er es notiert hatte. „Hast du mich gehört?“ „Mhm.“ „Jürgen!? Hast du mich gehört?“ „Ja, Schatz.“ „In zwanzig Minuten. Schaffst du das?“ Sie klang genervt. „Ja, Schatz, ich bin gleich fertig.“Sie legte wieder diesen Blick auf, den Jürgen so sehr hasste, dass sich seine Eingeweide jedes Mal zusammenschnürten, wenn er ihn sah. Doch diesmal sah er ihn nicht, er hatte nur Augen für den Fernseher und die zweiundzwanzig Spieler, die dort ihr bestes gaben. Der Mann, den sie früher nur „die Grätsche“ genannt hatten, hätte in diesem Moment für jeden Außenstehenden ein jämmerliches Bild abgegeben. Die Atmosphäre war typisch für diese Veranstaltungen, auf die Bianca ihn immer mitschleppte. Steife, blasse Typen und aufgedonnerte alte Schabracken, geschmückt wie Pfingstochsen, stelzten umher, pickten sich dort ein Glas Sekt, dort ein paar Kanapees und ab und zu trafen sie jemanden den sie kannten und stießen fürchterliche Töne aus, die wohl Freude ausdrücken sollten. Jürgen kam sich vor wie ein Stück Pizza auf einer festlich gedeckten Weihnachtstafel. Die Veranstaltung fand zur Unterstützung sportinvalider Fußballprofis statt, aber Jürgen sah niemanden, den er kannte. Niemand hier schien sich auch nur annährend für Fußball zu interessieren, schließlich waren sie alle hier und sahen sich nicht die Samstagsspiele an. Jürgen hatte Bianca wenigstens darum gebeten, ihm die Konferenz aufzunehmen, damit er sie sich später ansehen konnte. Es schien dieselbe Gesellschaft zu sein, die man auf jeder x-beliebigen Benifizveranstaltung zu sehen bekam. Gutsituierte, die die Leere in ihrem Leben damit zu füllen versuchten, dass sie sich erhoben über jene, deren Leben zu aufregend war, um sich selbst zu feiern. Bianca war hier in ihrem Element. Es dauerte nicht lange und sie entschuldigte sich kurz und ließ Jürgen alleine an seinem Stehtisch. Dann stolzierte sie umher und grinste wie eine Wahnsinnige auf einem Kettenkarussell, im Glauben es würde auf die anderen Leute freundlich wirken. Vielleicht tat es das auch. Auf Jürgen wirkte es abstoßend. Sie gesellte sich zu zwei anderen Frauen, braungebrannt und mit Schmuck behangen, genau wie Bianca selbst. Vielleicht gefiel es ihr deshalb so gut hier, überlegte sich Jürgen. Hier war sie, im Gegensatz zu ihm selbst, unter ihresgleichen. Jürgen entdeckte an einem der Stehtische in seiner Nähe jemanden, den er von früher her kannte. Auch er stand da allein, von seiner Frau geparkt, wie ein altes, schrottreifes Auto. „Hallo, Trainer“, begrüßte ihn Jürgen und gesellte sich zu ihm an den Tisch. Er freute sich den Alten endlich mal wieder zu sehen. Der ältere Mann musterte ihn, schien ihn kaum zu erkennen und nickte kurz. Es war eine traurige kleine Szene. „Was machen Sie denn hier, ich hätte hier jeden erwartet, aber nicht…“ „Es war ja auch nicht meine Idee“, murmelte der Alte. „sondern die von…“Der Trainer machte eine Pause und seufzte tief. Ein Geräusch, das aus der hintersten Ecke seiner Seele zu kommen schien. „…von meiner Frau.“ Beide standen mit aufgestützten Ellbogen an dem kleinen weißen Stehtisch und schwiegen. Jürgen betrachtete das Gesicht seines Ex-Trainers verstohlen von der Seite. Es war eingefallen und freudlos. Jegliches Interesse an Irgendetwas schien aus ihm herausgesaugt worden zu sein. Es tat ihm fast körperlich weh ihn anzusehen, denn das erzeugte in ihm Mitleid und das war doppelt schlimm. Sein Ex-Trainer war nie ein Mann gewesen, mit dem man Mitleid hatte, oder der das auch nur im Entferntesten gewollt hätte. Vor ihm hatten sich junge Spieler früher regelmäßig in die Shorts geschissen. Er war ein harter, aber fairer Drecksack gewesen, der aus den Spielern das Letzte herausgekitzelt hatte und alle mit seinem Elan und seiner Verbissenheit angesteckt hatte. Nun sah er aus, wie etwas, was man ausgepumpt und anschließend mit kaltem Kaffee aufgefüllt hatte. Für einen kurzen Moment kam es Jürgen vor als würde er einen Blick in seine Zukunft werfen und ihm wurde übel. „War nett sich mal wieder zu unterhalten“, sagte der Trainer plötzlich, und er sagte es ohne Zynismus. Wahrscheinlich glaubte er wirklich sich mit Jürgen unterhalten zu haben. „aber da hinten winkt meine…“Er machte wieder diese seltsame kurze Pause und atmete tief durch. „…meine Frau.“ Dann ging er, ohne Jürgen noch einmal anzusehen und ließ ihn alleine am Tisch zurück. Jürgen sah ihm lange hinterher und konnte nicht fassen, was aus dem Mann geworden war, zu dem er einst aufgeblickt hatte. Dieser Mann war für viele Leute selbst heute noch ein Idol, aber von so etwas las man schließlich auch in keiner Sportzeitschrift. Es war traurig, einfach nur traurig. Vor allem weil Jürgen angst hatte, er könne in nicht allzu ferner Zeit ebenso enden. Bianca hatte mittlerweile eine kleine Gruppe um sich geschart und als Jürgen Blickkontakt mit ihr aufnahm, winkte sie ihn zu sich rüber. Jürgen kannte die Leute nicht, bei denen sie da stand und er hatte nicht den Wunsch sie kennenzulernen. Da er sich nicht rührte winkte Bianca noch etwas heftiger und legte wieder ihren berühmten Blick auf, während sie, kaum wahrnehmbar, „Jetzt komm schon“ mit ihren Lippen formte. Dann lächelte sie wieder zu der Gruppe und Jürgen bekam vom Anblick ihrer strahlend weißen Zähne eine Gänsehaut. Fehlte nur noch, dass sie ihn anbrüllte, so wie er seine Mitspieler früher auf dem Platz angebrüllt hatte, wenn er ihnen die Kommandos zugerufen hatte. Früher war er der Leitwolf gewesen, nun hatte er sich einem anderen Leitwolf untergeordnet. Weil es einfacher war wahrscheinlich, weil es ihm das Denken abnahm. Das reale Leben war nun mal kein Fußballspiel, es verlangte mehr als nur zu rennen und zu grätschen. Und dafür brauchte er Bianca und ihre leicht herrische Art. Aber brauchte er es wirklich? Wann hatte er das beschlossen? Wann hatte sie das beschlossen? Wann war er vom Leitwolf zum Lämmlein geworden. Jürgen verstand nicht, wie das hatte passieren können ohne dass er es mitbekommen hatte.Bianca kniff die Augen zusammen und Jürgen konnte in ihrem Blick all ihre Unzufriedenheit und ihre Ungeduld mit ihm erkennen. Ihren unterdrückten Hass auf ihn. Sie winkte ihn wieder her, noch ungeduldiger als zuvor, dann wandte sie sich wieder zu den anderen am Tisch und machte eine entschuldigende Geste, als wolle sie sagen „Tut mir leid, aber mein Mann ist nun mal ein Idiot. Ex-Fußballprofi halt, was soll man machen.“ Jürgen setzte sich widerwillig in Bewegung, dann beschleunigte er seinen Schritt, schließlich lief er. Die letzten Meter rannte er sogar, er war immer noch ganz gut in Form. Dann packte er seine Blutgrätsche aus, früher von allen Stürmern gefürchtet. Er säbelte Bianca um, deren Mund zu einem ungläubigen O erstarrt war. Er erwischte auch den Stehtisch und einen der Männer, die bei Bianca gestanden hatten. Wie in Zeitlupe stürzte alles zu Boden. Auch wenn es diesmal keinen Szenenapplaus gab, sondern eine Totenstille im Saal einkehrte, hatte Jürgen endlich wieder das Gefühl es immer noch drauf zu haben. Die Grätsche war wieder da. ENDE