SPOOKY „Das ist doch kindisch.“ Lorena verschränkte die Arme vor der Brust. Die braunen Locken fielen ihr in die Augen und sie musste zwinkern. Jonathan grinste. „Lorena hat Angst.” „Unsinn.“ Sie seufzte langgezogen. Mit dem rechten Ellenbogen schob sie ein Netz aus Spinnenweben beiseite und lugte in den Raum dahinter. “Wir ziehen das jetzt durch.“, flüsterte Mario in das Licht seiner Taschenlampe. „Heute Morgen fandst du es ja auch noch nicht kindisch.“ Lorena zuckte mit den Schultern. „Heute Morgen habe ich auch noch nicht geglaubt, dass das hier euer Ernst ist.“
Es war mitten in der Nacht. Schwarze Wolken hingen über dem Waldrand, wo eine Holzhütte abgelegen von der Stadt stand und langsam vor sich hin moderte. Seit über dreißig Jahren hatte niemand mehr die Veranda betreten und die Tür geöffnet, die noch mit einem Siegel verklebt war. Es regnete. Die Regentropfen klopften an die verschlossenen Fenster und dort wo einmal die Küche gewesen war, hatte sich mitten im Raum bereits eine Pfütze gebildet. Lorena, Mario, Jonathan und Judith, die in dieser Reihenfolge gerade durch den Türrahmen kamen und das Loch im Dach betrachteten, das für die Pfütze verantwortlich war, lebten seit ihrer Geburt in der 20000 Seelen Stadt, und schon immer hatte sie die Ausstrahlung
des Hauses am Waldrand in ihren Bann gezogen. Den Kindern war es verboten gewesen zu der morschen Hütte zu gehen, aber nun waren sie keine Kinder mehr. Lorena, Judith und Mario hatten gerade ihr Studium begonnen, während Jonathan nach einem Ausbildungsplatz suchte. Sie hatten sich spontan zu der Mutprobe entschlossen. Zugegeben, zwei Flaschen Alkohol waren im Spiel gewesen, aber eigentlich war es ihre kindliche Neugier, die sie dazu getrieben hatte. Nun jedenfalls standen die Freunde in der Hütte und sahen sich um. Sie hatten die Reste des Polizeisiegels weggeknibbelt und ihre Schlafsäcke im alten Wohnzimmer hinter dem modrigen Sofa ausgebreitet.
„Ob sich die erstochene Jungfrau wohl zeigen wird?“ Mario streckte sich. „Das ist doch bloß ein dummes Kindermärchen.“ „Das ist kein Märchen“, protestierte der blonde Junge und strahlte Judith mit der Taschenlampe an. „Das Mädchen wurde hier von ihrem Vater erstochen. Er hat alles gestanden, und man hat das Messer und jede Menge Blut unten im Keller gefunden. Nur ihre Leiche ist nie wieder aufgetaucht. Das konnte selbst ihr Vater sich nicht erklären.” „Trotzdem wird uns ihr Geist nicht entgegenschweben.“ „Das werden wir ja sehen.” Er lachte, und seine Freunde stimmten einer nach dem anderen ein. Schließlich gingen sie zurück
zum Nachtlager und stießen jeder mit einem Bier auf ihre kleine Mutprobe an. Der Regen nahm zu. Der schmale Bach, über dem sie am Abend gestiegen waren, war übergetreten und mittlerweile zu einem Fluss geworden. Auf dem morschen Holz klangen die Regentropfen bedrohlich. Der Wind pfiff um die Ecken und durch das kaputte Dach, aber Lorena und Judith waren trotzdem eingeschlafen. Die Jungs saßen stumm neben ihnen und spielten Karten. Sie Flüsterten, um die Mädchen nicht zu wecken und machten sich noch ein Bier auf, gerade als ein Knarren durch das Holz zog. Augenlider flogen auf. „Was war das?“ Jonathan zuckte mit den Schultern. Er war
erschrocken aufgesprungen und musste im nächsten Moment beinahe selbst darüber lachen. „Der Wind.“ Eine Tür schlug zu. Das Geräusch war unverkennbar. „Der Wind öffnet und schließt also Türen.“ „Wenn er im richtigen Winkel einströmt durchaus.“ Mario räusperte sich. „Das kommt aus dem Keller.“, nuschelte Lorena. Sie war aufgestanden und horchte in den Korridor, der nach links zu einer Treppe und dort zu einer weiteren Tür führte, die mit einem Polizeisiegel verklebt worden war. Mario kratzte sich am Hinterkopf, dachte einen Moment nach und stellte schließlich seine Bierflasche zur Seite. „Sehen wir nach.“ „Ihr wollt nicht ernsthaft da runter?” Judith
fasste sich an den Kopf, als hätte sie Schmerzen, und stöhnte. Er stemmte die Arme in die Hüften. „Wir wollten doch herausfinden ob es in diesem Haus spukt. Na also. Jetzt haben wir unsere Chance. Auf.“ „So fängt das in Horrorfilmen auch immer an.“, nuschelte Judith, griff ihre Taschenlampe und stampfte den anderen missmutig hinterher. Der Keller war verwinkelter als angenommen. Regale türmten sich aneinander und nur eine dicke Staubschicht verbarg die Geheimnisse die sie behüteten. Lorena erkannte Bücher und Einmachgläser. Ein Rascheln riss sie aus dem Versuch, den
Staub weg zu pusten und sich genauer umzusehen. Die Freunde tauschten Blicke, mehr oder weniger mutig, aber niemand sagte etwas. Es war zu abwegig, um es ernsthaft in Erwägung zu ziehen, auch wenn Lorena zugeben musste, dass sie kurz über die alten Geschichten nachdachte und nach einer Blutspur auf dem Kellerboden Ausschau hielt. Sie gingen gerade ein Stück weiter und waren dabei sich aufzuteilen, als Judith kreischte. „Da ist eine dicke Ratte. Ich will wieder nach oben.” Jonathan schüttelte den Kopf. „Wenn das dein einziges Problem ist.” Er leuchtete mit seiner Taschenlampe um die Ecke. Es polterte wieder. Diesmal drängender, dann
hörte man ein Klirren.
„War das etwa auch der Wind?”, neckte Judith und wischte den Staub demonstrativ von den Büchern, die sie neben sich aus dem Regal griff. „Ich sag ja, dass es hier spukt, aber mir will ja niemand glauben.” Mario grinste. Dass er blass um die Nase war, und sich unwillkürlich nach einem Fluchtweg umsah, hätte er allerdings niemals zugegeben. Lorena brachte ihn mit einer flüchtigen Bewegung zum Schweigen. „Seid mal leise. Hört ihr das nicht?” Sie lauschte einen Augenblick, dann drehte sie sich um und lief in die entgegengesetzte Richtung. “Weg ist sie.”, nuschelte Jonathan, zuckte mit den Schultern und seufzte.
Es blieb eine Minute zu lang still, um ruhig zu bleiben. Judith kaute auf ihrer Unterlippe und gab Jonathan mit ihrem Blick zu verstehen, dass sie sich Sorgen machte. Mario schluckte. Er holte Luft und wollte gerade nach Lorena rufen, als es wieder polterte. Er zuckte zusammen und sah die Anderen mit großen Augen an. Was sollten sie tun? „Kommt her Leute. Ich hab die erstochene Jungfrau gefunden!” Lorenas Stimme zerschnitt die Anspannung und löste einen Knoten, der kurz davor gewesen war panisch aufzuplatzen. Sie hörte die Schritte ihrer Freunde, und ein ungläubiges Murmeln, dann leuchteten drei Taschenlampen ihr ins Gesicht. Lorena grinste. “Das Gespenst hat vier Beine und ein
ganz weiches Fell. Und Nachwuchs hat sie auch. Also vermutlich doch keine Jungfrau.” Miauen. “Das sind ja Kätzchen.” Judiths Augen strahlten. Sie langte nach einem der beiden weißen Wollknäule, das ihr den Kopf zu reckte, und sich in ihre Handfläche schmiegte. „Und zutraulich sind sie auch.“ „Seltsam. Ob die hier eingesperrt waren?“ „Die ganzen Jahre? Wohl kaum. Ist doch auch Egal.“ „Wir können die Katzen aber nicht hier lassen. Sie brauchen ein zu Hause.”, sagte Lorena. Sie stand auf, die kleinere Katze auf dem Arm und liebevoll an ihren Körper gepresst. “Ich behalte diese hier. Die Andere nimmt entweder einer von euch, oder wir
bringen sie ins Tierheim.“ Schulterzucken. „Ich weiß auch schon wie ich dich nenne.“ Lorena grinste. „Spooky.” Als das Morgengrauen über die schlafende Stadt einbrach, verebbte allmählich auch der Regen. Mit den letzten paar Tropfen rollten auch die Freunde ihre Schlafsäcke zusammen und knipsten die Taschenlampen aus. Sie hatten nicht wieder geschlafen, sondern mit den Katzen gespielt und schließlich übermütig noch eine zweite Runde durch die Hütte gemacht. Immer noch Lachend und mit den zwei Tieren im Arm beschlossen sie schließlich aufzubrechen. „Schade. Doch keine Geister.“, maulte Mario.
Er rieb sich die Augen und gähnte. Jonathan klopfte ihm auf die Schulter. Kaum hatten Sie die Hütte verlassen; das zweite Kätzchen war mit Judith über die Türschwelle getreten und von der Veranda herunter, sprang es von ihrem Arm und lief zur Mutter. Mit lautem Jauchzen brach die Holzhütte in sich zusammen und verendete in Staub und morschen Brettern. Fassungslos standen die Freunde da. Judith klammerte sich kreischend an Jonathans Arm, und Mario entfuhr ein langgezogener Ton, der sich nicht interpretieren ließ. Nur Lorena starrte andächtig und lauschte. Während Spooky sang, zerklirrte die letzte Fensterscheibe am Boden.
Fiona Lewald, 2015
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