Humor & Satire
Lord Snowdown

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"Der Adel hebt ab"
Veröffentlicht am 26. Januar 2015, 36 Seiten
Kategorie Humor & Satire
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Über den Autor:

Ich versuche mit guten Geschichten zu unterhalten. Hoffentlich glückt es. Ich bin Jahrgang 1958, in München geboren. Seit meiner Kindheit schreibe ich, habe aber nie eine Profession daraus gemacht. Meine zarten Versuche mal eine meiner Geschichten bei einem Verlag zu veröffentlichen sind gescheitert. Hier gibt es eine Auswahl von Kurzgeschichten aller Art. Sie sind in ihrer Kürze dem Internet und e-pub Medium angepasst.
Der Adel hebt ab

Lord Snowdown

Vorbemerkung

Der Lord möchte eine Ballonfahrt antreten. Sein Diener Johann hat allerhand zu tun.


Die Geschichte wurde schon vor längerer Zeit einmal veröffentlicht, ist aber nun vollständig überarbeitet.



Copyright: G.v.Tetzeli

Cover: Dank an Pixabay

Cover Montage: Monika Heisig

Lord Snowdown

Lord Snowdown saß im Grünen. Er hatte einen Campingtisch vor sich stehen und selbst auf einem wackeligen Klappstühlchen Platz genommen. Auf diesem Tisch dampfte eine heiße Tasse Tee. Porzellan? Natürlich von Wetchwood. Auf der Untertasse ruhte ein silbernes Löffelchen und blickte auf die daneben stehende, silberne Teekanne. Vorsichtig wollte er gerade an dem heißen Gebräu nippen, da lugte er ungeduldig nach seinem Faktotum, dem unentbehrlichen Diener Johann. Obwohl sonst wie ein guter Geist an seiner Seite, wollte er sich diesmal nicht automatisch einstellen, und daher musste Lord Snowdown tatsächlich erst nach ihm rufen. Der im Hintergrund parkende

Rolls Royce mit seinem davor stehenden Chauffeur interessierte ihn nicht im geringsten. Dieser Wagen hatte die Aufgabe später nach dem Start den Ballon zu verfolgen und seine Lordschaft wieder gebührend aufzunehmen. Hurtig kam Johann mit federndem Schritt herbei gesprungen. „Sie wünschen, Mylord?“ „Johann, wie weit sind die Vorbereitungen denn gediehen?“ „Wir sind noch nicht soweit. Wissen sie, der Brenner wollte nicht gleich anspringen und es ist noch nicht genügend Luft in der Hülle. Aber der Windventilator arbeitet bereits.“ „Was heißt das?“ „Mylord, die Hülle muss sich erst aufblähen, bevor wir den Brenner anschalten können,

ansonsten besteht die Gefahr, dass die Hülle Schaden nimmt“, klärte Johann auf. „Muss irgend etwas an unseren Plänen geändert werden?“, erkundigte sich seine Lordschaft. Diener Johann verneinte. Bis auf eine etwaige zeitliche Verzögerung würde dem Lord bei seinem Vorhaben nichts im Wege stehen. Snowdown nickte beifällig und wischte fahrig mit einer Hand durch die Luft. Das sollte heißen, dass der Auftritt von Diener Johann beendet war. Es konnte aber auch sein, dass Lord Snowdown lediglich die heiße Hand abkühlen wollte, denn das dünne Porzellan pflegt leider die Wärme des dampfenden Tees gut zu leiten. Und wenn der gute Johann nicht so eilfertig entschwunden wäre, hätte er sich hinter

vorgehaltener Hand darüber amüsieren können, wie Lord Snowdown sich seinen adeligen Mund an dem zu heißen Tee verbrannte. „Verflixt noch mal“, schimpfte dieser. „Reicht es denn nicht, dass dieser vermaledeite Ballon heiße Luft braucht? Muss der Tee denn auch noch heiß wie die Hölle sein?“ Ihro Gnaden war einigermaßen aufgebracht. Er gönnte sich einen strafenden Blick in Richtung des Automobils. Hoffentlich kommt der Holzklotz von Fahrer, der an der Kühlerhaube stand, rechtzeitig in Trab, dachte Snowdown. Er erhob sich mit Hilfe seines Gehstocks, dessen Griff einen silbernen Hundekopf darstellte. Die Gesichtszüge des Kopfes erinnerten sehr an den Lieblingsjagdhund des Lords, der neugierig aus dem Font des Rolls Royce heraus hechelte.

Der Lord stand kerzengerade, wie ein Fernsehturm und blickte in die Runde. Eine große, holprige Wildwiese, mit Maulwurfshügeln bespickt, zog sich bis zu einem Wäldchen über die flache Anhöhe. In der Mitte sah man mehrere Gestalten an Tauen ziehen. Im Hintergrund am Waldrand waren weitere Autos geparkt. Am beeindruckendsten war allerdings die überdimensional große Blase des Ballons, die auf ihrer einen Seite aber noch wie ein Kissen auf der Wiese ruhte. "Aha! Es scheint sich um Schlamperei zu handeln." Nun wollte er selbst nach dem Fortschritt der technischen Organisation sehen. Er begab sich gemessen Schrittes seiner hochpolierten Reitstiefel über den Wiesenacker, wo die große

Ballonhülle heiße Luft einatmete. Helfer fassten an den Hüllenrändern, um zu verhindern, dass der Ballon Feuer fing. In der Mitte, an Seilen befestigt, war ein überdimensionaler Bunsenbrenner zugange. Darunter war ein Korb befestigt, der ebenfalls noch seitlich auf der Erde lag. Diener Johann hüpfte aufgeregt hin und her. Offensichtlich hatte er Mühe alles zu koordinieren. Aber trotz alledem schien er die Aktionen unter Kontrolle zu haben. Leider muss man sagen, dass der Lord jetzt daran dachte sich persönlich einzumischen. „Wie lange soll das Ganze denn noch dauern“, maulte er. „Die Flamme gefälligst höher einstellen! So werden wir ja nie fertig.“ Johann glitt an seine Seite. „Dann verbrennt die Hülle.

Sie wird Feuer fangen!“ „Ach, Papperlapapp!“ Der Lord überlegte, dass es nur besser werden konnte, wenn er selbst das Ruder übernahm. Es blieb glücklicherweise nur bei diesem Gedankenspiel. Er würde sich in solche Niederungen nicht herablassen. Außerdem dachte der Lord gar nicht daran sich selbst die Finger schmutzig zu machen, besser gesagt, seine ledernen Handschuhe, die er sich übergestreift hatte. Schließlich gehörte es sich so, als Gentleman. Und wie hätte er auch ohne die Handschuhe seinen Stock mit dem Silberknauf handhaben können? Außerdem war niemand der Helfershelfer greifbar, den er hätte einspannen können. So blieb es bei einem grimmigen Grunzen.

Die vielen Helfer schienen wenigstens zu arbeiten und nicht nur faul herumzustehen. Mit einem verkniffenen Aufeinanderpressen der Lippen quittierte er seinen Unmut, aber er harrte stoisch der Dinge, die da auf ihn zukommen mochten. Zufrieden stellte er mit einem Blick über die Schulter fest, dass der Autolarifari sich in den Rolls begeben hatte und ihnen nachfahren würde, damit er die waghalsigen Luftschiffer am Landepunkt abpassen konnte. Johann unterließ es wohlweislich die Flamme höher drehen zu lassen, ansonsten wäre er natürlich an dem flammenden Inferno Schuld gewesen, das sich unweigerlich ereignet hätte. Dieses Unterlassen stellte aber auch der Lord mit Stirnrunzeln fest, daher schlug er sein persönliches Notizheftchen auf und notierte

diesen Ungehorsam sorgfältig. Nun begann sich endlich der riesige Berg von einem Ballon träge aufzurichten. Ein leichtes Lächeln umschmeichelte Showdowns Gesicht. Na also! Warum nicht gleich! Der Lord blickte nun prüfend gen Himmel. „Es scheint so, als ob das Wetter mitmachen würde“, meinte er aufgeräumt. „Gewiss“, beeilte sich Diener Johann zu versichern. Dabei war sich der Diener gar nicht so sicher, dass das Wetter halten würde. Kumuluswolken ballten sich am Horizont zusammen. Es war also mit stürmischen Winden in größerer Höhe zu rechnen. Schlimmstenfalls sogar mit einem Wetterumschwung. Aber Wurst, wie die Tatsachen auch aussahen, einem echten Lord

konnte man schlecht widersprechen. Diener Johann sprang in den Korb des Fesselballons, der nur noch von vier Haltetauen am Boden fixiert war. Die Untergebenen hatten buchstäblich sämtliche Hände voll damit zu tun, das Gefährt am Boden zu halten. „Kommen sie, Lord Snowdown!“ Wehmütig blickte seine Lordschaft auf das Klapptischchen am anderen Ende der Wiese zurück. „Jetzt müsste der Tee gut trinkbar sein“, dachte er. Er taxierte nochmals sorgfältig den Rasen zu seinen Füßen, so als ob er ihn zum letzten Mal in seinem Leben betreten würde. Bevor der Lord sich bequemte seinem Diener zu folgen, wollte er sich selbst über die Sicherheit des Flugapparates vergewissern. Er

hakte seinen Spazierstock in den Unterarm und aus seiner Manteltasche holte er ein gebundenes Buch hervor. Er hatte es stets greifbar für dieses Abenteuer, genauso wie das Notizbüchlein, in dem er Johanns Verfehlungen eintragen konnte. Gewissenhaft blätterte er es auf und studierte, dann hob er den Kopf. „Haben wir auch genügend Sand als Ballast dabei?“ Johann nickte etwas ungeduldig. Der Lord aber fuhr fort. „Ist die Temperatur der Luft in dem Ballon mindestens 70 Grad Celsius? Hier steht, sie müsse ungefähr 110 Grad C betragen!“ „Alles klar, Chef“, antwortete der unermüdliche Diener salopp, wobei er genau wusste, dass weder die eine, noch die andere Temperaturangabe stimmte. 90 Grad wäre

korrekt gewesen. Der Lord packte seinen wichtigen Buchschatz wieder ein. Er schien zufrieden. Der Verfasser dieses ominösen Schriftwerkes war allgemein unter den Ballonkapitänen als Bruchpilot bekannt. Mehrere Abstürze hatte er schon hinter sich gebracht, ohne dabei – wohlgemerkt – zu Tode zu kommen. Der Lord meinte dazu, dass dies die beste Lektüre sei, die sich denken ließe. Von dessen Erfahrungen könne man nur profitieren. Auf akademisches Gesäusel könne er verzichten, so drückte er sich profan aus. Ganz so positiv sahen es die eingefleischten Luftschiffer allerdings nicht. Nicht nur, dass sie kein gutes Haar an dem Verfasser ließen, sie hielten sein Geschreibsel für schlichtweg gemeingefährlich. In zwanzig

Meter Höhe den Brenner vorsichtshalber abzuwürgen, sei ein Unding. Man müsse sich nicht wundern, dass dieser Kerl daraufhin in einem See seine Fahrt beenden musste. Auch einige Kühe waren nicht sonderlich von diesem Verfasser begeistert. War er doch neulich auf einem Kuhrücken gestrandet und hatte unter den Rinderkollegen Entsetzen verbreitet. Auch war der Bauer von der Notschlachtung seiner besten Milchkuh nicht gerade übermäßig erfreut gewesen. Das Alles focht den Lord nicht an. Das Büchlein war seine Bibel und für diese Reise hundertprozentig unentbehrlich. Mit Hilfe einer Leiter, die mehrere Männer schwitzend zu justieren hatten, konnte er würdig das Gefährt besteigen und dann kletterte er in den Korb.

Johann wollte schon die Halteleinen lösen, als Snowdown ihn mit Missfallen nach einem Rundblick durch die Korbgondel strafend anvisierte. „Haben wir nicht etwas vergessen?“ Johann langte sich an die Stirn. Oh, je, der Kühlschrank! Den kleinen Kühlschrank hatte er bei der Inbetriebnahme des Luftgefährts völlig vergessen. „Moment, gleich!“ Der Diener sprang wieder heraus. Am Boden, unter den Leinen stand der Eisschrank noch, und obwohl Johann keineswegs schmächtig war, so musste er doch ächzen, als er das Batterie betriebene Monstrum über seinen Kopf in den Korb hievte. Der undankbare Kommentar des Lords

lautete lediglich:

„Na also, warum nicht gleich!“ Der Lord ließ es sich nun nicht nehmen gewissenhaft die Instrumente zu überprüfen. Die Armaturen schienen ihm nicht ganz klar zu sein, aber er erkannte zumindest den Höhenmesser. Glücklicher Weise stimmte die Anzeige mit der Luftfahrtsbibel überein, in der er den Wert überprüft hatte. „Null Meter vom Boden entfernt“. „Was für ein schlaues Buch“, murmelte Snowdown in sich hinein. Es war gottlob alles in Ordnung und der Lord wandte sich von der mysteriösen, uninteressanten Technik ab. Johann zog sich nun selbst wieder in den Korb hinein und die Halteleinen wurden losgelassen. Wie geplant erhob sich der Ballon lautlos in die Lüfte. Mit wohlgefälligem Kopfnicken registrierte

Snowdown, dass sich sein Diener nun ohne weitere Aufforderung um die Technik kümmerte. Nur der Brenner fauchte vor sich hin. Johann stand am Ventil und sah noch oben. Über ihnen türmte sich der Ballon auf, wie eine gewaltiger Erdtrabant. Nun endlich konnte Johann den Druckmesser der Propangasflasche überprüfen, dann sah er nach unten. Dort wurden die vielen Helfer immer kleiner und im weiten Blickfeld gab der steigende Ballon eine prächtige Aussicht über Wiesen und Felder frei. Der Lord aber kümmerte sich nicht darum. Ihm war wichtiger den Inhalt des Kühlschrankes zu inspizieren. Zufrieden schloss er die Tür wieder. „Gut gemacht, Johann“, lobte er. Es war, nebenbei bemerkt, das erste Lob, das Johann an diesem Tage zu hören bekam.

„Die Fleischpflanzerl und der Champagner sind da!“, bemerkte Snowdown glücklich. „Dann kann es ja losgehen!“ „Aber eure Lordschaft! Wir sind doch schon längst in der Luft!“ Seine Lordschaft liebte, wie bereits erwähnt, Widerspruch nicht sonderlich. „Papperlapapp!“ Rigoros warf er einen mahnenden Blick auf seinen Diener. Ein Blick in die Tiefe, dann hatte dieses vermaledeite Büchlein seinen erneuten Auftritt. Es wurde akribisch geblättert. Er hielt den angefeuchteten Daumen in die Luft, in den vermeintlichen Fahrtwind, und stellte fest: „Wir fliegen!“ Johann schielte zu seinem Herren hinüber. Fahrtwind! Finger hoch! So ein Unsinn! Sie

flogen ja mit dem Wind! Windstiller, als in einer Ballongondel konnte es gar nicht zugehen. Johann bekam nun Beklemmungen, zumal ihm nicht entgangen war, dass die Bauernhöfe ihre Fensterläden nun geschlossen hatten. Sollten seine schlimmsten Vermutungen eintreffen? Erste Warnsignale eines Gewitters? Womöglich mit Blitz und Hagel. Nichts ist so verheerend für einen Ballonschiffer, wie Blitzschlag und Hagel. Die unter ihnen vorbeiziehenden Gehöfte tanzten vorbei. Auf einer Weide sah man einen Reiter in gestrecktem Galopp vor sich hin preschen. Wahrscheinlich wollte er sich vor dem drohenden Unwetter in Sicherheit bringen. Nachdem sie nun flogen, wie die Fibel festgestellt hatte, hätte sich seine Lordschaft dem Fluggenuss hingeben können,

aber weit gefehlt. „Pass auf, Johann! Wir machen uns jetzt die Fleischpflanzerl heiß! Über dem Bunsenbrenner müssten sie eigentlich schnell gar sein.“ Wieder machte Johann den unverzeihlichen Fehler zu widersprechen. „Wenn wir den Bunsenbrenner länger heizen, dann steigen wir zu hoch! Ich muss die Gaszufuhr drosseln!“ „Papperlapapp!“ Snowdown hatte schon Höchstselbst den Kühlschrank geöffnet und ein Pflanzerl auf den mitgeführten Spazierstock gespießt. Johann konnte nur noch mit den Achseln zucken. Seine Lordschaft aber hielt den Spazierstock an dem versilberten Hundekopfgriff und sah befriedigt, wie sein Fleischpflanzerl in der fauchende

Flamme tanzte. „Wir wollen doch in dieser Höhe nicht des Hunger sterben, nicht wahr?“ Snowdown keckerte hüstelnd in sich hinein, während Johann immer besorgter dreinschaute. Er hatte bemerkt, dass Driftwinde bereits den Ballon erfasst hatten. Vorboten des Wetterumschwunges. Sie waren viel zu hoch gestiegen. Eine neue Luftfront hatte sich ihrer bemächtigt und begann den Ballon förmlich mit zu schleifen. Und das mit beängstigender Geschwindigkeit. Johann konnte nichts dagegen unternehmen, dass seine Gesichtszüge langsam entgleisten. „Was haben sie denn? Etwa ängstlich?“, fragte der Lord. Inzwischen begann sein Pflanzerl endgültig rußig

zu werden. Die Laune von Lord Snowdown war aber ungebrochen großartig. Johann machte sich so seine Gedanken. „Sah der Lord denn gar nicht die klare Landschaft unter sich? So ungewöhnlich klar, wie sie vor einem Sturm zu sein pflegt? Genoss er überhaupt die Erhabenheit des Fliegens? Der Lord aber schien nur Augen auf sein verkohlendes Stück Fleisch zu haben. Der Diener schüttelte fassungslos den Kopf. „Wir müssen den Brenner ausmachen“, flehte Johann. „Gott weiß, wo wir herunterkommen!“ „Halten sie mal!“ Der Lord übergab Johann den Spazierstock, an dessen Ende das Fleischstück vor sich hin kohlte. Das verbrannte Fleisch produzierte Rauchschwaden. Dann zog der Lord wieder sein schlaues Buch zu Rate und

hob irritiert den Kopf. „Es wird allmählich frostig“, meinte Snowdown vorwurfsvoll. „Ich hoffe, sie haben entsprechende Vorkehrungen getroffen! Decken, oder etwas ähnliches!“ „Ich habe eine Lammfelldecke an Bord“ „Und was haben sie für sich selbst? Ich sorge mich um ihre Gesundheit!“ „Nichts.“ Der Lord zückte großzügig ein Taschentuch aus seinem Gehrock und ließ es seinem Diener angedeihen. „Es wird schon gehen“, brummte Johann resigniert. Er zitterte am ganzen Leibe. Der Wind hatte weiter aufgefrischt, gleichzeitig wurde es empfindlich kalt, quasi ein Temperatursturz, und der Ballon stob ungehemmt vorwärts, wie nicht anders zu

erwarten war. „Wir haben schon über tausend Meter Höhe erreicht“, wagte Johann zu bemerken. „Dann sollten wir den Brenner unbedingt anlassen! Sonst erfrieren wir ja! Das ist so ähnlich, wie wohliges Kaminfeuer“, schnalzte Snowdown verschmitzt und freute sich über seinen humorigen Einfall. Johann konnte es kaum glauben, was er da gehört hatte. Sie waren weit vom geplanten Kurs abgekommen. Johann konnte es praktisch jede Sekunde an Hand seiner Landkarte verfolgen. Das Wetter schlug erbarmungslos um und der Gute kümmerte sich hauptsächlich um das verkohlte Fleisch und um dieses Scheißbuch. War denn der Lord bei Trost? Welch ein Wahnsinn!

Im Gegenteil“, flehte Johann, „wir könnten erfrieren, wenn wir noch weiter aufsteigen!“ „Mal sehen, was das Buch sagt“, meinte der Lord und gab sich der Studien hin. Er blätterte geschäftig. Inzwischen hatte der Ballon bedenklich schnelle Fahrt aufgenommen. Um genau zu sein, sauste er mit atemberaubender Geschwindigkeit, wie Johann auf der Armatur ablesen konnte. Er brauchte eigentlich nur nach unten schauen, dann wusste er sowieso, was die Stunde geschlagen hatte. Selbst aus dieser Höhe konnte man merken, dass der Ballon mehr als flott unterwegs war. Der Lord blätterte immer noch gleichgültig in seinem Buch, während Johann überlegte, wie er dieses Kleinod dichterischer Kunst erwürgen

konnte. Die Stirn hatte Snowdown in Falten gelegt und dazu murmelte er ab und an: „Interessant, interessant“. Dann fühlte sich seine Lordschaft doch bemüßigt über den Rand des Korbes nach unten zu schauen. Wo blieb denn dieser nichtsnutzige Kerl mit dem Rolls Royce? Hatte er nicht den klaren Auftrag gehabt ihnen zu folgen? Snowdown schüttelte den Kopf und sehnte die alten Zeiten herbei, in denen er den Gewissenlosen wenigstens mit der Peitsche zur Raison hätte bringen können. Johann beschloss nun endgültig den unseligen Verfasser dieses verblödeten Pamphlets zu erdolchen, sofern er diesen Alptraum überleben würde.

Er war überzeugt, dass mildernde Umstände

ihm sicher angerechnet werden würden. Dunkle Wolken zogen über den Ballon hinweg, also hatten die höher gelegenen Luftschichten fast Orkangeschwindigkeit erreicht, sonst hätten die Wolken sie nicht überholen können. Gleichzeitig wurde es richtig duster. „Könnten sie mal das Licht anmachen? Ich kann ja kaum noch lesen“, mahnte der Lord. Johann hatte derweil unbemerkt den Brenner abgeschaltet und den Stock mit dem verkohlen Fleischpflanzerl achtlos auf den Boden des Korbes geschmissen. „Bitte, bitte“, flüsterte der Diener. „Wollen wir nicht absteigen? So schnell, wie möglich!“ Dann wisperte er noch zum Schluss: „Wenn es nicht sowieso schon zu spät ist.“ Der Lord machte eine fahrige Handbewegung,

weil er in das Buch vertieft war und nicht gestört zu werden wünschte. „Ruhe“, befahl er. „Sie sehen doch, dass ich beschäftigt bin! Und lassen sie das leidige Gejammer. Schauen sie doch inzwischen nach dem Champagner.“ Snowdown widmete sich intensiv der nächsten Seite des teuflischen Machwerkes. Johann fasste sich an die Stirn, aus seinem Mund entschlüpfte ihm ein leises Schluchzen und er griff sich gepeinigt an die Korbbrüstung. Zum Glück merkte seine Lordschaft gar nicht, dass sie schon längst im Sinken begriffen waren. Johann befürchtete nicht zu Unrecht, dass es Ärger geben würde, wenn der adelige Popanz merkte, dass der Brenner seit geraumer Zeit abgeschaltet war. Plötzlich

breitete sich ein Aha Effekt auf dem Gesicht von Snowdown aus. „Das ist also die Lösung“, murmelte er vor sich hin, während er den schwärzlich, dunklen Himmel taxierte. Er klappte das Buch der Weisheit zu. Dann erblickte er seinen Stock mit dem rußigen Fleisch am Korbboden. Er grinste wölfisch, sah seinem Diener in die Augen und zog dann eine Pistole aus seinem Dufflecoat-Mantel hervor. Johann erstarrte, als er direkt in die Mündung blicken musste. Der Lord wollte ihn wegen eines lächerlichen, verbrannten Fleischpflanzerl hinrichten? Oder war es vielleicht wegen des Brenners?

Ja war er denn überhaupt noch ganz beieinander? Hatte die Jahrhunderte lange Inzucht des Adels in reinem, irrsinnigen,

diabolischen Wahnsinn geendet? Der Lord legte an und schoss ungerührt über den Brenner hinweg direkt in die Ballonhülle. „Hier steht, dass das der einzige Weg sei, wie wir möglichst schnell wieder herunter kommen“, tippte Lord Snowdown auf den Buchrücken. Pfeifend entschwand die warme Luft durch das Loch aus der Hülle. Die Öffnung riss dabei weiter ein. Es machte einen diabolischen Ratsch, als die Hülle knallend entlang der Faserung aufriss und das schneller, als es Johann lieb sein konnte. Das Loch wurde immer größer, die ausgefranste Kunststofffaser schlackerte. Sie sanken ab. Es funktionierte gemäß des Lords prächtig. Das Buch hatte also doch recht gehabt. Sie verloren rapide an Höhe. Um genau

zu sein: rasend an Höhe. Sie rauschten praktisch im freien Fall hinab. An Steuerung war natürlich nicht mehr zu denken. Der Absturz war unausweichlich. Johann riss noch verzweifelt an irgendwelchen Leinen, schüttete wie ein Berserker allen Sandballast von Bord, aber das Ende war schon vorprogrammiert. Sie würden auf dem Boden zerschellen. Johann gab schließlich auf, ließ sich auf den Boden des Korbes sinken und erwartete sein Ende. Es war nur gut, dass es schnell gehen würde. Ein Knall und sie waren zu Matsch geworden. Als sie unsanft in einem Baumwipfel landeten, wurden der Lord durch die Wucht zu Boden gerissen. Sie rappelten sich auf. Johann war völlig fertig. Die Hochstimmung von Lord Snowdown war

noch immer ungebrochen. Der Korb hatte sich wippend in einem Geäst verhangen und die Ballonhülle fiel über der Baumkrone zusammen, wobei sie ein Dach bildete. Schwitzend rieb sich Johann den Schweiß von der Stirn. Er konnte es irgendwie kaum glauben. Sie waren wirklich und wahrhaftig mit dem Leben davon gekommen und der Lord schien das gar nicht bemerkt zu haben. Welch unwahrscheinliches Dusel sie gehabt hatten. Anstatt ungebremst auf die Erde zu knallen, hatten sie ein paar Äste gerettet, die den Fall gedämmt hatten und sie nun in luftiger Höhe geborgen hielten. Ein unwahrscheinlicher Zufall, wie er unter Tausenden vielleicht einmal vorkommen mochte, hatte sie davor bewahrt zu zerschellen, zu sterben. Der Lord sah das natürlich weitaus anders.

„Nun sagen sie selbst! Was hätten sie ohne diesem Buch gemacht? Aufgeschmissen wären sie gewesen!“ Der Himmel öffnete seine Schleusen und es begann wie aus Eimern zu schütten. Ab und an fuhr ein Blitz durch das Firmament und grollender Donner bildete den musikalischen Hintergrund. Der Lord tätschelte liebevoll sein Büchlein über die Ballonfahrt und erklärte, dass er persönlich dem Verfasser einen Brief schreiben wolle. Der profunde Autor hätte es leider versäumt den Trick zu erwähnen, die Ballonhülle bei einem Unwetter als Dach zu benutzen. Nun, da sie so gemütlich unter der Ballonhülle in der Korbgondel weit über dem Boden hin und

her schwangen und dabei völlig trocken blieben, gefiel dem Lord gar nicht, dass Johann das verbrutzelte Fleischpflanzerl und seinen Stock fallen gelassen hatte. Auch der Rolls Royce hatte sich noch nicht eingefunden. Schlamperei! Das Fleischpflanzerl war aber doch die Höhe! Der Gipfel! „Das werde ich ihnen vom Lohn abziehen!“ Und er notierte es in seinem Notizheftchen. Während peitschender Regen über die Ballonhülle herfiel, verbeugte sich Johann resigniert. Er holte die Flasche aus dem Kühlschrank und bot noch ein Glas Champagner an.

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welpenweste
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Hoffentlich glückt es.
Ich bin Jahrgang 1958, in München geboren.
Seit meiner Kindheit schreibe ich, habe aber nie eine Profession daraus gemacht. Meine zarten Versuche mal eine meiner Geschichten bei einem Verlag zu veröffentlichen sind gescheitert.

Hier gibt es eine Auswahl von Kurzgeschichten aller Art. Sie sind in ihrer Kürze dem Internet und e-pub Medium angepasst.

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CHM3663 Köstlich! :-)
Ja, so ungefähr stellt man sich die lieben Adligen vor...:-)
Der arme Johann!
Wenn der nicht wäre, könnte ich mir sehr gut ein viel böseres Ende vorstellen...:-)
Danke und LG, Chrissie
Vor langer Zeit - Antworten
Bleistift 
-Lord Snowdown-
In der Tat, eine etwas merkwürdig
skurrile Geschichte vom Ballonfahren...

beste Grüße
Louis
Vor langer Zeit - Antworten
mohan1948 Sehr spannend geschrieben!
LG Hannelore
Vor langer Zeit - Antworten
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