wem gebührt die ehre?
Der kleine Leo hatte sich gerade an den Resten des Zebras satt gegessen, das seine Eltern für sich und die Jungen gejagt hatten. Anstatt wie die Erwachsenen unter einem Baum den Rest des Tages im Schatten zuzubringen, tappte er mit dickem Bauch zum Wasserloch in der Nähe. Er hatte Durst.
Dort entdeckte er sein Spiegelbild im Wasser und meinte: „He, Kleiner! Weißt du, dass ich der Sohn des mächtigsten Tieres bin, das hier lebt?“ Doch das Bild verschwand rasch.
„Du bist eben ein Feigling“, meinte der Kleine,
als er sich vom Wasser zurückzog. Das hatte die Hyäne gehört.
„Du solltest in deinem jugendlichen Alter viel vorsichtiger sein mit dem, was du sagst“, mischte sie sich ein.
In diesem Augenblick wurden auch andere Tiere aufmerksam, die sich gerade am Wasser befanden. Flugs streckte das Krokodil seinen Kopf aus dem Wasser und funkelte den kleinen Löwen mit seinen gelben Augen böse an.
“Wenn ich wollte, könnte ich dich mit einem Happs schnappen und verzehren. Du solltest mal sehen, wie ich das mit einer Gazelle
mache, wenn sie hier trinkt.“
„Du willst mir nur Angst machen“, erwiderte Leo. „Gegen meinen Vater hast auch du keine Chance.“
„Dass ich nicht lache, du kleiner Angeber.“ Und schon war der schönste Streit im Gange.
Gerade war eine Giraffe am Wasser angekommen und hatte den letzten Satz des Streitgespräches mit angehört. „Worüber streitet ihr euch eigentlich?“
„Wir wollen herausfinden, wer von uns der Beste ist und wem die meiste Ehre gebührt“, antwortete die Hyäne ungefragt. Die anderen
Anwesenden nickten beifällig. „Wenn es darum geht, gebührt mir die Ehre, denn ich sorge dafür, dass sich keine Krankheiten unter uns ausbreiten, weil ich alles verzehren kann, was von eurer Jagd übrig bleibt und was sonst keiner mag.“
Nun hatte der kleine Streit eine völlig neue Wendung bekommen. Es ging also darum, welchem Tier wegen seiner besonderen Fähigkeiten die größte Ehre gebührte.
Noch einmal mischte sich die Giraffe ein: „Durch meinen langen Hals sehe ich am weitesten von euch allen und meine Hufe sind so hart, dass ich es auch mit einem Löwen aufnehmen kann. Und außerdem bin
ich Vegetarier und keinem von euch nehme ich etwas zu Essen weg und ich muss auch niemanden töten.“ Das war die längste Rede, die sie je gehalten hatte.
Leo hatte den kleinen Kopf ein wenig eingezogen und nickte schüchtern, ehe er noch einmal einen neuen Anlauf nahm: „Aber mein Vater ist viel stärker als ihr alle …“
Von allen Seiten nur noch Gelächter, weil inzwischen Baoba, eine graue Riesin mit glänzend weißen Stoßzähnen, am Wasser eingetroffen war. Hinter ihr folgte der Rest der Herde.
„Worüber streitet ihr denn“, fragte sie nach
einem freundlichen Nicken. „Wir wollen herausfinden, welchem Tier wegen seiner Fähigkeiten die größte Ehre gebührt“, erklärte die Hyäne.
In diesem Augenblick streckte das Krokodil zum zweiten Mal seinen Kopf mit der langen, schmalen Schnauze aus dem Wasser. Langsam öffnete es die Kiefer, die mit einer unendlich anmutenden Zahl von spitzen und messerscharfen Zähnen bestückt waren.
„Wenn es darum geht, gebührt mir diese Ehre. Schließlich gehöre ich zu den Urtieren auf der Welt und habe sogar die Dinosaurier überlebt. Und das ist keine Hexerei, denn ich muss nur ein oder zwei Mal im Jahr etwas
zu Essen haben. Das soll mir erst einer nachmachen.“ Dann klappte es gemächlich seine Kiefer wieder zusammen und verschwand im trüben Wasser.
Einige der versammelten Tiere blickten andächtig auf den Wasserspiegel, als die große Baoba das Wort erneut ergriff: „Nun, auch ich muss nicht töten, weil ich nur Pflanzen esse. Meine Lebenszeit beträgt an die siebzig Jahre, ich habe alle Wege und Wasserlöcher in meinem langen Leben in meinem Kopf gespeichert und ich kann mich mit den tiefsten Lauten der Natur mit meinen Artgenossen am Ende der Steppe unterhalten. Bedenkt auch, dass ihr das nicht hören könnt. Deshalb bin ich überzeugt, dass
die Ehre allein mir gebührt.“ „Das übersteigt unseren Verstand“, murmelten einige. Baoba lächelte weise und zog sich zu ihrer Herde zurück.
Gnus und Zebras, die gerade hier vorbei ziehen wollten, blieben andächtig stehen und lauschten den Worten der alten Elefantenkuh.
Da wandte sich eines der jungen Zebras an den Langhals: „Ich will hier keine Intrigen schmieden, aber ich glaube, dass es das Beste ist, wenn ihr jemanden sucht, der das ganz neutral entscheiden kann.“
„Und wen würdest du dafür vorschlagen?“
„Wenn ihr bereit seid, zwei Tage mit mir zusammen in Richtung Sonnenaufgang zu ziehen, findet ihr eine Antwort auf eure Fragen.“
Die Gnus nickten beifällig und bestätigten so die Aussage des Zebras. Die Giraffe war kurz entschlossen und überzeugte die anderen Tiere, am folgenden Tag mit den Zebras und Gnus aufzubrechen. Auch Klein-Leo schloss sich an, obwohl ihm das Wegbleiben von seiner Familie sicherlich sehr schwer fallen würde. Und wie sollte er sein Fernbleiben letztlich erklären, wenn er wieder bei der Familie wäre? Aber er hatte den Vorsatz nun einmal gefasst und er wollte keine Memme sein.
Leo hatte in dieser Nacht schlecht geschlafen, denn bei dem Gedanken an so eine lange Reise ohne .seine Familie, ohne sein Rudel, fühlte er sich nicht mehr gut. Aber sie hatten sich entschieden und traten bei Sonnenaufgang ihre gemeinsame Wanderung an. Natürlich gab es auch Pausen, denn die Zebras, Gnus und Baoba mit ihrer Herde kannten sich gut aus. Langhals und die anderen Pflanzenesser hatten es gut, auch der Hyäne fehlte es an nichts. Es lagen genügend Speisereste anderer Jäger herum. Nur der kleine Leo begann allmählich zu quengeln. Er hatte ein bisschen Hunger. Gegen Ende des ersten Tages trafen sie auf ein riesiges Panzernashorn.
„Hallo, wo wollt ihr denn hin“, fragte es neugierig. Das Zebra, von welchem die Idee zu der Wanderung stammte, meinte: „Wir wollen wissen, wer von uns die Ehre verdient, der Beste zu sein. Dafür suchen wir einen Schiedsrichter.“
„Das ist doch ganz einfach. Ich bin der Beste. Schaut nur meine schöne Panzerung an. Die ist sehr stabil. Ich muss weder Dickicht noch Dornen fürchten, mein Nashorn ist die ideale Verteidigungswaffe und ich ernähre mich von Pflanzen.“
Da lachten die anderen und meinten: „Komm einfach mit und stelle dich auch zur Wahl.“ Und das Nashorn schloss sich ihnen an.
Als sie sich zur Ruhe begeben wollten, lenkte ein Aasgeier seinen Flug in ihre Richtung und landete hinter einem dichten Busch. Die Hyäne hatte ebenfalls Witterung aufgenommen und Leo beeilte sich, hinter ihr her zu laufen.
„Du siehst aber gruselig aus“, rief er beim Anblick des Geiers. „Mit diesem Aussehen könntest du nie der Beste von uns werden.“ Da reckte der Vogel seinen langen Hals, sah mitleidig auf den kleinen Löwen herunter und tadelte ihn: „Wenn du deine Mahlzeit beendet hast, ist dein Fell besudelt. Wenn ich satt bin, sind meine Federn immer noch sauber. Und ich sorge für Ordnung in der Steppe. Wenn
du noch etwas gegen deinen Hunger haben willst, dann halte den Mund.“
Kleinlaut würgte Leo dann die Brocken hinunter, welche ihm der Geier großzügig zuwarf. Wieder und wieder schüttelte er sich wegen des ungewohnt animalischen Geschmackes. Danach begaben sich alle zur Ruhe.
Am nächsten Morgen brachen sie sehr früh auf. Die Wanderung war einfacher geworden, denn es wuchs mehr Gras und die Erde wurde feuchter. Keines der Tiere musste Hunger oder Durst leiden. Gegen Abend erreichten sie eine menschliche Siedlung mit kleinen Hütten, welche aus Gras gebaut
waren. Das junge Zebra bat die Wanderer, sich zu einer Rast niederzulassen. Dann zog es alleine weiter. Vor der größten Hütte machte es Halt, scharrte einige Male mit den Vorderhufen und wieherte leise. Eine große Gestalt mit einem Mantel aus einem Zebrafell trat aus der Hütte. „Bruder, was führt dich zu mir?“
„Wir benötigen deine Hilfe. Meine Begleiter streiten darüber, welchem von ihnen die Ehre gebührt, der Beste zu sein. Du bist ein weiser Mann und ich glaube, dass du uns helfen kannst, das herauszufinden.“
„Sage deinen Freunden, dass heute um Mitternacht dafür die beste Zeit ist. Ich muss
noch Einiges vorbereiten. Kommt alle zu der besagten Zeit zu mir.“ Die beiden tuschelten noch eine Weile, ehe sich das junge Zebra bedankte und zu seinen Freunden zurückkehrte.
„Was ist los?“ – „Wo bist du gewesen?“ – „Wer ist das?“ So schwirrten die Fragen durch die Luft, als das Tier wieder bei den anderen eintraf.
Es berichtete: „Das ist der Herr der Zebras. Er wird auch Zebramann genannt. Sein Stamm verehrt uns schon sehr lange. Er wird um Mitternacht eine Zeremonie abhalten und danach sein Urteil fällen. Bis dorthin wollen wir uns noch ausruhen.“
In der Zwischenzeit legte der Zebramann seinen Fellmantel ab, knüpfte mit Hilfe einer Bastleine einen aus Gras geflochtenen Schal um die Hüften und bemalte seinen nackten Körper mit weißer Farbe im Zebramuster. Dann schlachtete er ein Huhn und legte es vor seine Hütte. Als Leo mit seinen Freunden um Mitternacht eintraf, war alles vorbereitet. Der Zebramann tanzte im Mondschein um das Huhn, murmelte geheimnisvolle Worte und malte scheinbar seltsame Zeichen in den Nachthimmel.
Dann sprach er: „Liebe Freunde, jeder von euch und von allen anderen Tieren auf und in der Erde, im Wald, in der Luft und im Wasser haben wundervolle Eigenschaften. So
würde jedem die Ehre gebühren. Deshalb macht euch keine Gedanken. Jeder hat den besten Platz im Leben bekommen. Neidet niemandem, was er hat oder was er ist, denn es gibt weder Bessere noch Schlechtere. Und einer dient dem anderen auf seine Weise. Das ist des Pudels Kern.“
Da erhob sich das Zebra und dankte im Namen der anwesenden Tiere für diese weise Entscheidung, welche alle tolerieren konnten. Nur der kleine Leo pflegte einen Katzenjammer, weil er das Huhn nicht zum Fraß erhalten hatte.
©Hei17-01-2015