Prolog
Keuchend und völlig durchgefroren robbte sie sich mit allerletzter Kraft an den weißen Sandstrand. Lisa wusste nicht wie viele Stunden sie auf dem offenen Meer getrieben hatte, sicher war jedoch, dass sie noch nie so glücklich über Sand in ihrem Gesicht war, wie in diesem Moment.
Ihre Hände waren aufgerissen und blutig. Sie hatte alle Lebenskraft aufwenden müssen, um sich nach mehreren glücklosen Versuchen endlich auf einen Überrest des Flugzeuges hieven zu können. Die Metallsplitter und die
scharfen Kanten hatten sich tief in ihre Hände gegraben und machten es ihr kaum möglich sich hoch zuziehen, geschweige denn sich bei dem Wellengang festzuhalten. Lisa konnte nicht sagen wie sie es geschafft hatte, aber sie hatte noch nie so stark um ihr Leben gebangt wie in den letzten Stunden. Vor ihrem inneren Auge spielte sich eine Szene aus „Titanic“ ab. Sie sah wie der junge Mann in den Tiefen des Meeres versank. Lisa drehte sich stöhnend auf den Rücken, schloss die Augen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Zum Glück ist es mit mir nicht so weit gekommen, dachte sie und schlief ein.
23.September 2011
Lisa sprang voller Elan durch ihre Wohnung. Sie hatte diesen Urlaub schon von langer Hand geplant und sämtliche Vorbereitungen waren getroffen. Heute Abend würde sie mit ihren besten Freundinnen in ihrer Lieblingskneipe *Knuddel* etwas Trinken gehen und ihren Abschied feiern. Sechs Monate Inselhopping in der Karibik, was für ein Traum! Beginnen würde ihre Reise auf Kuba, dann weiter nach Jamaica und schlussendlich würde sie einfach schauen wo es ihr gefällt. Im tiefsten Inneren ihres Herzens hatte sie vielleicht sogar vor ganz dort zu bleiben. Im kalten
trüben Deutschland mit seinen mürrisch dreinschauenden Menschen hielt sie schon lange nichts mehr. Erzählt hat sie dies jedoch niemanden, denn sie wusste was ihre Eltern und Freunde dazu sagen würden, „Kind, da hast du doch keine Perspektiven!“ oder „Und was ist mit uns? Bedeuten wir dir gar nichts?“. Natürlich bedeuteten ihr ihre Familie und Freunde etwas, aber sollte sie deshalb nicht glücklich werden dürfen? Momentan sah es zumindest so aus, als könne ihr das Leben in Deutschland nicht mehr viel bieten. Mr. Right ließ schon seit geraumer Zeit auf sich warten, in ihrem Beruf fühlte sie sich auch nicht mehr wohl und erledigte ihn
ausschließlich um ihre Miete bezahlen zu können. Ihre Freundinnen hatten alle schon eine Familie gegründet und bekamen gefühlsmäßig ein Kind nach dem Anderen. Nur Lisa hatte irgendwie das Gefühl als würde sie seit Jahren auf der Stelle treten. Umso mehr schien es an der Zeit zu sein aus diesem eingefahrenen Leben auszubrechen.
Sie kramte die letzten Kleidungsstücke aus dem Schrank, faltete sie, rollte sie zu einer Wurst zusammen und legte sie in ihre Reisetasche. Unglaublich wie viel Platz man damit sparen konnte. Leider änderte sich nur nichts an dem zulässigen Gesamtgewicht, was sie vermutlich schon maßlos überschritten
hatte, aber immer wenn sie sich in ihrer Wohnung umsah, fand sie noch etwas was unbedingt mit musste.
Langsam musste sie sich allerdings beeilen, immerhin war es bereits 19:30 Uhr. Sonja und Marleena waren bestimmt schon auf dem Weg zu ihr. Sie hatten sich bei Lisa zum „vorglühen“ verabredet. Wenn sie jedoch so weiter machte, konnten sie direkt in die Kneipe gehen, um noch etwas Zeit dort zu verbringen bevor sie schließt. Lisa freute sich schon auf Ulli den Wirt, ein großer und breit gewachsener Mann, dem man im Dunkeln nicht begegnen wollte. Aber jeder der Ulli kannte, wusste, dass er vom Typ „Teddybär“ war und der
beste Zuhörer den man sich wünschen konnte. Er hatte Lisa immer beigestanden und auch für eine Umarmung war er sich nie zu schade. Und dann war da noch Hilde, die gute Seele des Hauses und Ullis betagte Mutter. Sie sah Lisa immer an, wenn es ihr nicht gut ging und stellte ihr dann, beim „zufällig“ durch die Kneipe gehen, eine Schale Schokopudding hin. Hildes Schokopudding würde Lisa wohl am meisten auf ihrer Reise vermissen. Sie wusste nämlich wie man ihn besonders cremig hinbekam und vor allen Dingen konnte sie ihn kochen, ohne dass sich darauf eine Haut bildete.
Lisa ließ alles stehen und liegen und
sprang unter die Dusche. In Windeseile seifte sie sich ein, wusch ihre Haare und trocknete sich in Rekordzeit ab. Gerade als sie angezogen war, klingelte es auch schon an der Haustür. Mit großem Gequietsche und Gekicher vielen ihr die beiden Mädels in die Arme und da Lisa nur Socken an hatte, konnte sie ihr Gleichgewicht nicht halten und fiel mit ihnen rücklings in den Flur. Lachend und stöhnend vor Schmerzen blieben sie einen Moment lang liegen, bevor sie sich gegenseitig versuchten wieder aufzurichten. Sie gingen ins Wohnzimmer, wo Lisa schon Knabbereien und Getränke bereit gestellt hatte. Nach zwei Gläsern Sekt begaben
sie sich jedoch in die Kneipe, da sie mal wieder viel zu viel geredet hatten und die Zeit völlig in Vergessenheit geraten war.
Je feuchtfröhlicher der Abend wurde, desto melancholischer wurde die Stimmung der jungen Frauen. Sonja begann immer wieder Geschichten aus der Schulzeit zu erzählen und nicht selten begannen sie vor Lachen zu weinen. Marleena gab die lustigsten Erlebnisse und Ereignisse mit ihren ersten Freunden zum Besten und erinnerte sich noch ausgesprochen deutlich an das Aussehen und die Namen der Jungs. Lisa hingegen sagte kaum etwas. Sie genoss es einfach mit ihren
Freunden zusammen zu sein, aus vollem Herzen zu lachen bis sie Rückenschmerzen bekam und alle immer wieder in die Arme nehmen zu können. Scheiße, was würde sie die Leute vermissen!
24. September 2011
„Licht aus!“, drang es murmelnd und mit rauer Stimme aus Lisa´s Kehle. „Autsch!“, war das nächste was zu hören war. Vorsichtig zog sie sich die Bettdecke über den Kopf und rollte sich in Embryonalstellung zusammen. Nie wieder würde sie so viel Alkohol trinken, dachte sie bei sich und begann zu lachen, was sie jedoch sofort wieder bereute, da ihr Gehirn die Vibrationen nutzte um gegen ihre Schädeldecke zu prallen. „Aua…“, seufzte sie und legte die Hand behutsam an ihre Stirn.
Als das Telefon klingelte zuckte sie zusammen und schaffte es gerade noch
rechtzeitig sich aus dem Bettdeckengewirr zu befreien. „Hey, wo bleibst du denn? Dein Flugzeug geht in drei Stunden und du wolltest schon seit zehn Minuten bei uns sein!“, ertönte es aus dem Hörer. „Ohhh nein!! Ist es schon so spät? Ich hab den Wecker nicht gehört und hab noch geschlafen!“. Mit einem Schlag war Lisa hellwach. „Mama, wir treffen uns in einer dreiviertel Stunde am Flughafen! Bussi“, sagte sie, drückte ihre Mutter weg und rief sich ein Taxi. In Windeseile lief sie ins Badezimmer und erschrak bei dem was sie im Spiegel sah. Zum Abschminken war sie wohl nicht mehr in der Lage gewesen als sie nach Hause gekommen
ist. Eigentlich hatte sie eine letzte ausgiebige Dusche geplant gehabt, aber auch dafür war wohl keine Zeit mehr. Sie machte eine schnelle Katzenwäsche, richtete ihre Haare so gut diese es zuließen, schlüpfte in ihre Klamotten, die sie zum Glück schon raus gelegt hatte, schnappte ihre Taschen und das Flugticket und verließ ihre Wohnung. Das Taxi fuhr gerade vor, als sie durch die Haustür polterte. Völlig außer Atem gab sie dem Taxifahrer ihre Sachen, setzte sich hinein und schnaufte einmal ordentlich durch. So hatte sie sich den letzten Morgen in ihrer Wohnung nicht vorgestellt….Â
Etwa dreißig Minuten später fuhr das Taxi am Flughafen vor. Schon von weitem erkannte sie ihre Familie, die zu ihrer Schande große bunte Luftballons in den Händen hielten. Als der Wind einen von den Ballons drehte sah sie mit Schrecken, dass darauf in weißer Schrift „Alles Gute Lisa“ stand. Sich verstecken war jetzt wohl nicht mehr möglich und das konnte sie ihnen auch nicht antun.
Der Abschied fiel Lisa doch schwerer als sie gedacht hatte. Sie saß bereits im Flugzeug und musste immer noch an ihre Mutter denken, die ihr weinend in den Armen gelegen hatte und sogar ihr Vater hatte Tränen in den Augen, was sie noch nie zuvor gesehen hatte, da er eigentlich
ein sehr abgeklärter und kühl wirkender Mensch ist. Auch ihr Bruder Jonas hatte den langen Weg auf sich genommen und war mit seiner Freundin die 120km zum Flughafen gefahren und da konnte Lisa dann auch nicht mehr an sich halten und brach in Tränen aus. Jetzt kuschelte sie sich, so gut es in der zweiten Klasse möglich war, mit einer Decke  in den Sitz und genoss das kribbelige Gefühl in der Magengegend als das Flugzeug abhob. Sie hatte sich schon total auf das sommerliche Wetter eingestellt, eine kurze Hose und ein Top angezogen und ganz vergessen, dass die Klimaanlagen im Flugzeug immer so verdammt kalt waren. Doch jetzt war ihr wohlig warm
und kaum dass sie die richtige Höhe erreicht hatten, schlief sie auch schon ein.
25. September 2014
Prustend und nach Luft schnappend riss Lisa die Augen auf. Als sie sich einigermaßen wieder beruhigt hatte, hielt sie sich die Hand über die Augenbrauen, um gegen die Sonne schauen zu können und sah in ein männliches Gesicht. Erschrocken fuhr sie zusammen und sah sich hilfesuchend um. Was zur Hölle??? „Hallo! Schön, dass du auch mal aufwachst. Ich bin Karl. Tut mir leid, dass ich dich mit dem Wasser übergossen habe, aber ich wollte mal sehen, ob du noch lebst und da wollte ich dich nicht anpacken, denn vor Leichen gruselt es mich und ich weiß ja
auch nicht, ob du nicht krank bist und ich mich dann bei dir angesteckt hätte und überhaupt ist das ja eh schon eine komische Situation und wahrscheinlich warst du auch in dem Flugzeug und wir sind die beiden einzigen Überlebenden…“. „Stopp!!!!“, unterbrach ihn Lisa, „redest du immer so viel? Was ist denn eigentlich passiert? Wo sind wir?“. Karl sah dies als Aufforderung und setzte sich im Schneidersitz dicht neben sie. „Oh, ja, entschuldige bitte! Dann noch einmal von vorne. Also wie gesagt, ich bin Karl und war Passagier in dem Flug nach Kuba, wie du wohl auch und wie du dich vielleicht noch erinnerst, gab es eine
Durchsage des Piloten, dass es technische Probleme gibt und wir die Ruhe bewahren sollen. Naja und kurze Zeit später ging es auch schon abwärts…“. Das Einzige an das sich Lisa erinnern konnte war das hysterische Schreien ihrer Sitznachbarin und dass sich diese mit ihren Fingernägeln in ihre Oberschenkel zu bohren versuchte. Lisa sah unwillkürlich auf  die Stelle und erkannte blau-lila Verfärbungen unterhalb des Randes ihrer Shorts. Danach war alles weg, bis sie sich im Wasser wiederfand und um ihr Leben kämpfte. „Hast du eine Ahnung wo wir sind?“, fragte sie leise. „Keinen Schimmer“, murmelte Karl kleinlaut.
Da die Dämmerung bereits einsetzte beschlossen Karl und Lisa sich ein Obdach für die Nacht zu suchen. Im Gegensatz zu den Filmen, die man so im Fernsehen sah, lag am Strand nicht zufällig ein Messer oder ähnliches herum, was ihnen nützlich sein könnte. Genau genommen lag dort überhaupt nichts Brauchbares. Sie gingen weiter den Strand hinauf in Richtung der Pflanzen und Palmen. Der heiße Sand brannte sich unter ihre Füße, so dass sie mehr hüpften als gingen und ihr Tempo auch immer schneller wurde.
Lisa hatte es sich immer total romantisch vorgestellt auf einer einsamen Insel zu stranden, doch die Realität hatte sie
schnell vom Gegenteil überzeugt. Abgesehen davon, dass Karl nicht wirklich handwerklich geschickt war und sie die Arbeit, ein Dach aus Palmenblättern zu knoten, übernehmen musste, schien auch sonst die Vor- und Darstellung aus „die blaue Lagune“ sehr unrealistisch zu werden. Stichwort einsame Insel, dachte Lisa, „Du sag mal, Karl? Bist du eigentlich mal den Strand abgegangen und hast geschaut, ob wir wirklich alleine sind?“. „Na klar, so hab ich dich doch gefunden! Ich bin bis zu dem Hügel da vorne und dem Felsvorsprung dahinten gelaufen. Es war nichts zu sehen oder zu hören.“, sagte er und zeigte dabei in die jeweilige
Richtung. Lisa war sehr schlecht darin Entfernungen einzuschätzen, aber vermutlich lagen zwischen den genannten Punkten zwei Kilometer, was wohl ausreichen sollte, um menschliches Leben ausschließen zu können. Aber darüber würde sie sich morgen Gedanken machen, jetzt ist es erst einmal wichtiger einen sicheren Unterschlupf für die Nacht zu bauen.
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26. September 2014
Wie sich herausstellte, war die Dämmerung bereits die Nacht. Es wurde nicht einen kleinen Ton dunkler, was Lisa den letzten Nerv raubte, denn sie konnte bei Helligkeit absolut nicht schlafen. Schon als kleines Mädchen ist sie nachts aus ihrem Bett gekrabbelt und hat das Nachtlicht aus der Steckdose gerissen oder ihren großen Teddybären davor gestellt. Ihre Mutter hatte irgendwann aufgehört immer wieder in ihr Zimmer zugehen und das Licht wieder einzustecken. Neben der Helligkeit brachte sie allerdings auch gerade Karl um den Schlaf. Er
schnarchte in einer Lautstärke, dass sich Lisa überhaupt keine Sorgen mehr um wilde Tiere machte, denn die würden sich bestimmt nicht an ihn heran trauen. Zwischendurch setzte sein Atem aus und dann grunzte er als würde er über einen Berg Fleisch herfallen und ihn gierig verspeisen.
Langsam ging die Sonne auf und Lisa konnte beobachten wie sich der Himmel in ein warmes orange verwandelte und das Meer zu brennen schien. Wunderschön!, dachte sie und Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie hatte gehofft sich den ersten Sonnenaufgang in einer Bar am Strand ansehen zu können und nicht mit einem Wildfremden unter
einem Palmendach zu liegen. Immerhin mussten sie nicht frieren, denn die Nacht war immer noch wohlig warm. Lisa strich die Tränen von ihren Wangen und betrachtete weiter den Sonnenaufgang.
Unwillkürlich begann ihr Magen zu knurren und sie legte ihre Hand beruhigend auf den Bauch. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie seit dem Abschiedsabend nichts mehr gegessen hatte. Der Morgen war viel zu hektisch und als Kleinigkeiten im Flugzeug gereicht wurden, hatte sie bereits geschlafen. Vorsichtig stand Lisa auf und schaute sich suchend um. Vielleicht sollte sie sich mal in die Büsche wagen und nach Essbaren Ausschau halten, eine
Kokosnuss käme allerdings nur im äußersten Notfall in Betracht. Sie musste bei den Kokosstücken auf den Raffaello immer schon spucken. Damals hatte sie gedacht, dass es weiße Schokolade gewesen wäre und sich eine ganze Kugel in den Mund gestopft, was sie sofort bereut hatte.Â
Als sie ein paar Schritte gegangen war, sehnte sie ihre Flip Flops herbei, der Boden war ziemlich uneben und ständig bohrte sich eine zerbrochene Muschel in ihre Fußsohlen, oder sie blieb mit einem Zeh an den Wurzeln der Büsche hängen, die sich knapp unter dem weißen Sand versteckt hielten. Hätte sie nur besser in Biologie und Heimatkunde aufgepasst.
Ihre damalige Lehrerin Frau vom Felde hatte immer wieder betont: „Kinder! Ihr müsst wissen, was die Natur euch alles bietet. Es mögen euch solche Zeiten erspart bleiben, aber es schadet nicht zu erkennen, welche Beeren essbar sind und welche giftig!“. Lisa hatte es für hohles Geschwätz gehalten und sich lieber auf die Jungs der Klasse konzentriert, was sich nun zu rächen schien. Sie schaute sich um, fand jedoch nichts was sie sich bereitwillig in den Mund stecken würde. Bei DMAX hatte sie mal einen Typen gesehen, der auf einer Wurzel herum kaute, aber auch das schien momentan keine gute Option zu sein. Lautstark meldete sich ihr Magen zurück.
Vielleicht sollte sie sich etwas weiter in das Dickicht wagen… na, gut… was blieb ihr anderes übrig? Vorsichtig schob sie mit ihren Unterarmen die Blätter zur Seite und bahnte sich so einen Weg weiter in das dunkle Grün. Ohne jegliche Vorwarnung sprang ihr eine Spinne ins Gesicht und krabbelte in einem irrsinnigen Tempo ihren Kopf hinauf und am Nacken wieder herunter. „AAAAAAAHHH… IIIIIIHHHHH!!!!!!“schrie Lisa aus Leibeskräften und schlug wild mit den Armen um sich, zog an ihrem Top, sprang hin und her und versuchte sich mit einer Hand auf den Rücken zu schlagen, wo sie die Spinne zum letzten
Mal gespürt hatte. „Verdammte Scheiße!“, sich schüttelnd und mit voller Aufmerksamkeit ging Lisa langsam den kleinen Pfad entlang.
Als sie hinter einer großen Palme rechts abbog und ein paar Meter weiter ging, hörte sie leise Wasser rauschen. Mit sofortiger Wirkung bekam sie einen völlig ausgetrockneten Mund und hoffte inständig, dass das Wasser trinkbar sein wird. Als sie sich durch tiefe und ziemlich unnachgiebige Pflanzen gekämpft hatte, versagte ihr kurz der Atem. Lisa schaute mit großen Augen und offenem Mund auf einen Wasserfall, der gemalt nicht schöner hätte aussehen können und mit lautem Tosen in einem
See mündete. Das kann doch nicht wahr sein! Ich träume doch?! Hier muss doch irgendwo ein Kamerateam versteckt sein und die wollen mich komplett verarschen!, dachte sie und ging langsam auf den See zu, der in wunderschönen türkisen Farben funkelte. Am Ufer angekommen bückte sie sich, bildete mit den Handinnenflächen eine Schale und schöpfte Wasser aus dem See, welches angenehm warm war und glasklar. Vorsichtig führte sie ihre Hände an den Mund und nahm einen Schluck, woraufhin sie stark würgen musste, denn salzig war gar kein Ausdruck für den Geschmack der sich in ihrem Mund ausbreitete. Spuckend und angewidert
stand sie auf und schaute sich hilfesuchend nach irgendetwas um, wodurch sie den Geschmack wieder los werden konnte, fand jedoch nichts. Wenn sie schon nicht ihren Hunger und Durst stillen konnte, könnte sie sich ja wenigstens einmal ordentlich waschen. Nicht nur ihr Körper und ihre Haare, auch ihre Shorts und ihr Top waren überseht mit Flecken und Sandklumpen, so dass sie in kompletter Montur in den See sprang. Nachdem sie sich, so gut es ihr möglich war, abgeschrubbt hatte, drehte sie sich auf den Rücken, wurde von dem Wasser getragen und schloss zufrieden die Augen.
„Lisa?!...Liisaa?!....Liiiiissssaaaa?!“,
hörte sie Karl laut rufen. Viel zu schnell drehte sie sich um und geriet dabei aus dem Gleichgewicht. Prustend tauchte sie wieder auf und rief: „Ich bin hier!“, „Wooo denn?“ schallte es zurück, „Hier drüben beim Wasserfall!!“ brüllte sie mit voller Kraft, da ihr jetzt erst auffiel wie laut das Wasser hinter ihr war und wie nah sie dem Wasserfall bereits gekommen war. Als sie in die Richtung schwamm, in der sie Karl vermutete, spürte sie plötzlich etwas Weiches an ihrem rechten Fuß. Da es sich zunächst noch angenehm anfühlte, dachte Lisa sich noch nichts dabei und kraulte weiter dem Ufer entgegen. Je näher sie dem jedoch kam, desto mehr schien sich
etwas um ihre Beine zu wickeln. Irgendetwas flaumiges, was allerdings auch sehr kräftig zu sein schien. Lisa strampelte mit ihren Beinen und versuchte sich so zu befreien, was ihr aber nicht gelang. Sie wurde immer langsamer, bekam vor Anstrengung kaum noch Luft und hatte Angst es nicht mehr ans Ufer zu schaffen, da sie sich mit einem Mal richtig erschöpft fühlte und kaum noch ihre Beine bewegen konnte. Was auch immer sich um ihre Beine geschlungen hatte, es ließ sich nicht davon abhalten sie weiter fest zuhalten und auch langsam in die Tiefe zu ziehen. Unter normalen Umständen hätte Lisa geschrien, wie wild gestrampelt und
weiß Gott sonst noch alles versucht um bis an das rettende Ufer zu gelangen, aber sie hatte weder die Kraft noch den Willen dazu. Sie genoss die Ruhe und ihr Körper fühlte sich noch nie so wohlig warm und entspannt an wie in diesem Moment. Auch als ihr Kopf langsam unter Wasser gezogen wurde, hatte sie nicht das Bedürfnis sich aus dieser Lage zu befreien. Lisa schloss ihre Augen, holte einmal tief Luft und verschwand in dem See. Das Wasser war glasklar und es spiegelten sich viele wunderschöne Korallen und Muscheln in ganz unterschiedlichen Fassetten wieder. Sie hörte leise Musik und Gesang, schaute sich um, allerdings ohne in Panik zu
geraten und fühlte sich wie eine Meerjungfrau. Ganz weit entfernt meinte sie ihren Namen gehört zu haben, ignorierte dies aber, bis sie einen stechenden Schmerz an ihren Oberarmen bemerkte und erschrocken aufschaute. Sie erkannte Karl, der sie bei den Armen gepackt hatte und versuchte sie nach oben zu ziehen. Mit einem Mal war Lisa wieder hellwach, bekam Atemnot und schlug mit Armen und Beinen wild um sich, so das Karl alle Mühe hatte sie festzuhalten und weiter nach oben zuziehen. Es bildeten sich schwarze und hellblitzende Punkte vor ihren Augen und dann war alles dunkel.
Das Nächste was Lisa spürte waren Bartstoppel die sich tief in ihre Lippen bohrten und ein kräftiger Stoß in ihrer Lunge, der verursachte, dass ihr speiübel wurde und sie einen ordentlichen Schwall Wasser erbrach. Hustend und nach Luft schnappend öffnete sie ihre Augen, sah in Karls besorgtes Gesicht und stieß ihn beim aufrichten mit ihrem rechten Arm zur Seite. „Was war denn los? Warum bist du nicht ans Ufer geschwommen?“, prasselten die Fragen von Karl auf sie ein, „Geht´s dir gut?“. Lisa schüttelte sich, schaute zum See und langsam fiel ihr alles wieder ein. Sie sah auf ihre Knöchel, welche eine rote Umrandung aufwiesen, also hatte sie
sich das zumindest nicht eingebildet. „Keine Ahnung, ich konnte nicht. Irgendetwas hat mich an den Beinen festgehalten und nach unten gezogen.“, keuchte sie. „Da war nichts!“, meinte er, doch sein Blick fiel zufällig auf ihre Knöchel. „Oh mein Gott, bist du verletzt? Hast du Schmerzen?“. „Mir fehlt nichts.“. Karl half ihr aufzustehen und sah sie immer noch ganz besorgt an. „Lass uns wieder zurück gehen, ich will hier weg!“, sagte sie und machte vorsichtig ein paar Schritte, knickte dann jedoch weg und hielt sich für den Rest des Weges an Karl fest.
Bei ihrer notdürftigen Unterkunft angekommen legte sich Lisa vor
Erschöpfung auf die Palmenblätter. Sie schaute noch einmal kurz in Richtung Meer und schlief dann unmittelbar ein. Nassgeschwitzt und schreiend schreckte sie aus ihrem Schlaf hoch. Sie hatte das Gefühl zu verbrennen, sprang auf, lief Richtung Meer und tauchte in das lauwarme Nass. Sie keuchte wohlwollend auf und genoss die leichte Abkühlung. Während sie in dem Wasser planschte bemerkte sie, dass ihre Haut feuerrot und zum zerreißen angespannt war. Sie schaute auf die Stelle, an der sie eben noch gelegen hatte und stellte fest, dass diese von der Sonne ertränkt wurde. „So eine Scheiße!“ fluchte sie und schlug mit der rechten Hand auf das Wasser. Nicht
nur, dass sie gestrandet ist, nein, jetzt hatte sie auch noch den Sonnenbrand ihres Lebens! Warum hat Karl nicht auf sie aufgepasst? Und wo ist der Spinner überhaupt?
Lisa sah suchend den Strand hinauf und hinab, konnte ihn aber nirgends entdecken. Sie begab sich aus dem Wasser und lief schnell über den heißen Sand zurück in den schützenden Schatten der Palmen.
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29. September 2014
Drei Tage sind seitdem vergangen und von Karl fehlte weiterhin jede Spur. Lisa hatte sich angewöhnt mindestens viermal täglich den Strand zwischen den Felsen abzuschreiten und auch bis zu dem See hatte sie sich wieder getraut, aber nie war auch nur eine Spur von jemand anderem zu erkennen. Auch die extra von ihr in die Wege gelegten Äste waren stets unberührt. Was konnte ihm nur geschehen sein? Hatte er vielleicht ein Dorf gefunden? Aber warum sollte er dann nicht wieder zurück kommen und sie retten? Fragen über Fragen, die Lisa keine Ruhe ließen. Aus ihrer Not heraus
und auch aus Langeweile hatte sie Geäst zusammengeräumt und damit ein großes SOS in den Sand gelegt.
In ihren Gedanken hatte sie sich mehrere Szenarien zurecht gelegt, was mit ihr geschehen könnte:
1. Es würde ein Schiff kommen und sie retten.
2. Ein Flugzeug würde ihr SOS sehen und sie retten.
3. Karl würde zurück kommen und sie retten.
oder
4. Sie würde einsam und verlassen auf dieser Insel dahin vegetieren und von irgendwelchen Tieren gefressen werden.
Letzteres stand zu diesem Zeitpunkt
jedoch zu keiner Diskussion. Lisa war davon überzeugt in nächster Zeit diese gottverdammte Insel verlassen zu können. In ihrer Verzweiflung hatte sie damit begonnen es sich so schön wie nur möglich zu machen. Es gab täglich drei Mahlzeiten, welche stets aus den süßlich schmeckenden Beeren bestanden, die sie gefunden hatte. Zunächst hatte sie sich nicht getraut sie zu probieren, aber sie hatte eine Beere versehentlich zerquetscht und konnte beobachten, wie ein Käfer davon aß, so dass sie sich einigermaßen sicher sein konnte daran nicht zu sterben. In der Sekunde wäre es ihr auch egal gewesen, denn ihr Magen knurrte und rebellierte an diesem Tag
bereits seit mehreren Stunden. Ebenso hatte sie sich einen schöneren Schlafplatz hergerichtet und ein kleines „Badezimmer“, abseits des Lagers, wo sie ihre Notdurft verrichtete.
Ihre Haut pellte sich bereits zum zweiten Mal, wurde allerdings auch immer brauner und schmerzte nicht mehr so arg. Häufig schlief sie erst am Tag, da sie Angst hatte in der Dämmerung von einem Tier angegriffen werden zu können. Sie versuchte dann die Schnarchgeräusche von Karl nach zumachen und fühlte sich dadurch sicherer. Eigentlich ging es Lisa ganz gut, wenn die Einsamkeit nicht wäre…
30. September 2014
In der letzten Nacht hatte es geregnet wie aus Kübeln. Hinzu kam noch ein Gewitter mit einer Intensität wie Lisa es noch nie erlebt hatte. An diesem Morgen war für sie klar, dass sie nicht einen Augenblick länger auf dieser Insel bleiben wird!
Zunächst hatte sie versucht sich aus getrockneten Palmenstängeln und anderen Gewächs ein Boot zubauen, musste jedoch schnell erkennen, dass dieses Vorhaben nur kläglich scheitern konnte. Lisas Verzweifelung wuchs immer mehr und langsam geriet sie wirklich in Panik. Vor Wut rannten ihr
heiße Tränen die Wangen herunter, welche sie immer wieder vehement mit dem Handballen wegwischte.Â
Lisa sah den Strand entlang und rannte los. Ihr Herz schlug wie wild, als sie die Felsen erreichte. Noch nie zuvor hatte sie einen Versuch gemacht die Brocken zu erklimmen. Die ersten Steine waren sehr glatt und von nassen Algen überzogen, so dass sie immer wieder abrutschte und sich die Knie aufschlug. Ihre Beine schmerzten fürchterlich, aber Lisa ließ sich nicht abhalten. Mit aller Kraft schaffte sie es die Meter hohen Felsbrocken hinauf und sah… nichts. Insgeheim hatte sie gehofft, dass sich dahinter eine Hotelanlage befand, mit
einer Strandbar und schon bei dem Gedanken an einem fruchtigen Cocktail lief ihr das Wasser im Munde zusammen.
Aber alles was sie erblickte, war weißer Strand und sonst nichts.
Absolut gar nichts.
Heute
Lisa saß in einem wunderschönen Hotelzimmer mit Blick auf das Meer und starrte auf einen Koffer, der vor ihr auf dem Glastisch stand. Noch nie hatte sie so viele Geldscheine auf einmal gesehen. 20.000 € und die sollten wirklich ihr gehören! Bis heute konnte sie nicht erklären was vor wenigen Tagen geschehen war…
Sie befand sich auf den Felsen und starrte in die Leere, streckte nach wenigen Minuten ihre Arme zur Seite und schrie mit Leibeskräften: „ICH GEBE AUF!“. Dabei drehte sie sich in alle Himmelsrichtungen und rief die
Worte immer wieder so laut sie konnte.
Kaum das Lisa wieder still stand, schoss aus dem Dickicht, nicht weit von den Felsen entfernt, ein Jeep. Sie erkannte Karl, gewaschen und rasiert. Ein weiterer Mann saß hinten auf dem Rücksitz und hielt eine Steadicam in den Händen. Der Fahrer war ein dunkelhäutiger Mann mit Dreadlocks und steuerte genau auf sie zu. Lisa blieb wie versteinert auf den Felsen stehen.
Sie hörte wie Karl etwas rief: „Hey Lisa!“ „…sei mir nicht böse…“, „…alles nur für´s Fernsehen…“. Die Worte prallten regelrecht an Lisa ab und sie fühlte sich wie eine versteinerte aber dennoch leere Hülle. Regungslos stand
sie da und schaute den Männern entgegen, die mittlerweile aus dem Jeep ausgestiegen waren und die Felsen erklommen. Erst als der Typ mit den Dreadlocks Lisas Arm fasste, zuckte sie erschrocken zusammen und kam wieder etwas zur Besinnung. In jeder anderen Situation hätte sie vermutlich geschrien, geschimpft und wäre eventuell davon gelaufen, aber sie konnte überhaupt nicht verstehen was gerade passierte. Das Einzige was sich regte, war eine einzelne Träne, die ihre linke Wange herunterlief.
Lisa wurde von den Männern die Felsen hinunter geleitet und behutsam in den Jeep gesetzt. Während der ganzen Fahrt
sagte sie kein Wort. Sie fuhren eine Ewigkeit durch unwegsames Gelände und gelangten irgendwann auf eine betonierte Straße. Lisa konnte ihren Augen kaum trauen, als sie plötzlich am Horizont die Umrisse mehrerer Häuser erblickte.
Karl saß neben ihr und nahm besorgt ihre Hand. „Lisa, es tut mir leid, das musst du mir glauben! Wir hatten das wirklich nicht geplant. Lukas, Nik und ich wollten eigentlich nur ein YouTube-Film über die verlassenen Strände Kubas drehen, doch dann hab ich dich gefunden und alles hat sich irgendwie verselbstständigt. Wir haben von dem Flugzeugabsturz gelesen und die überlebenden Passagiere haben berichtet
was während des Fluges geschehen ist. Natürlich wollten wir dich sofort in ein Krankenhaus bringen, doch unser Produzent hat damit gedroht, unser Projekt zu streichen. Er hat von uns verlangt dich zu filmen. Also habe ich mich dir gegenüber einfach als Passagier ausgegeben. Und du wirst es kaum glauben, der Film hat schon 3 Millionen Klicks erreicht! Nachdem es dir jedoch so schlecht ging, als ich dich aus dem See befreite, hatten wir beschlossen das Ganze zu beenden. Wir mussten nur auf eine passende Gelegenheit warten, wie wir allen Beteiligten gerecht werden konnten. Es tut mir wirklich leid!!“.
Lisa zog ihre Hand weg. Unter normalen
Umständen hätte sie ihnen gesagt, was sie doch für Idioten sind und dass sie es noch bitter bereuen werden, jedoch fehlte ihr dazu die Kraft. Sie fühlte sich wie in einem schlechten Film und hoffte nur endlich daraus aufzuwachen.
 Â
KaraList Die Geschichte ist flüssig geschrieben und liest sich gut. Der Schreibstil gefällt mir! Die Protagonistin erscheint mir jedoch nicht sehr glaubwürdig, wenn man bedenkt, welcher Katastrophe sie entkommen ist. Das Ende ... überraschend, aber passt in die heutige Zeit, leider. Gern gelesen, liebe Anni! LG Kara |
Memory Habe jetzt heute Abend diese Geschichte gelesen und muss sagen, dass sie mich ein wenig verwirrt hat. Ich finde sie interessant und mag deinen Schreibstil, habe aber das Gefühl, dass wir Leser ein bisschen kurz kommen. Die Idee hätte Potential für einen ganzen Roman. Spaß gemacht hat sie aber auf jeden Fall. Lieben Gruß Sabine |
AnniSorglos Danke dir! Für einen Roman reicht meine Ausdauer wohl nicht aus und ich mag es nicht, etwas unfertig liegen zu lassen... Daran sollte ich vielleicht arbeiten. :) |
AnniSorglos Dankeschön, Fremde oder Fremder! :) |
Sophia ...das war ja ein abruptes Ende, liebe Anni...mit so einem Schluss habe ich nicht gerechnet...ein wahrer Albtraum...den andere für ihre Zwecke ausnutzen...mano man...aber sehr gut geschrieben, finde ich ...habe ich gerne gelesen! Lieben Gruß und ein schönes und frohes Wochenende wünsche ich Dir Sonja Sophia |