Kurzgeschichte
Der Geschmack der Freiheit

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"Der Geschmack der Freiheit"
Veröffentlicht am 08. November 2008, 8 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Der Geschmack der Freiheit

Der Geschmack der Freiheit

 I.

Der Spielplatz seiner Kindheit war verlassen. Zwischen den Sträuchern hinter den Schaukeln lungerte nun niemand mehr. Früher bekam man hier Gras, geklaute Zigaretten oder ein Messer an die Kehle, wenn man nicht aufpasste.

 Es lagen immer noch ein paar leere Flaschen auf dem Boden herum und Carlo kickte eine von ihnen in den Sandkasten, wo sie teilnahmslos liegenblieb. Ein unschönes Überbleibsel aus einer nutzlosen Zeit, so wie alles andere um ihn herum. Alles war grau und wirkte wie vom Leben vergessen.

 Ein altes Schaukelpferd blickte apathisch ins Nichts und schien Carlo dabei auszulachen, doch das Lachen war tot. Er verließ den Spielplatz mit einer Gänsehaut  und zitterte leicht, als er sich draußen erstmal eine Zigarette drehte. Er wünschte sich, er könnte alles um ihn herum zusammen mit dem Tabak hineindrehen und wegrauchen. Er würde jeden Zug genießen und den Rauch in Kringeln nach draußen pusten.

 Ein Wagen fuhr an ihm vorbei, etwas schneller als Schrittgeschwindigkeit. Er kannte den Fahrer und der erhob auch die Hand zum Gruß, doch Carlo grüßte ihn nicht zurück. Der Wagen wurde noch langsamer, der Fahrer schien ihn zu beobachten, dann gab er etwas Gas und fuhr aus seinem Blickfeld. Carlo setzte seinen Spaziergang fort und ging Richtung Waldrand.
 II.

Im Wald konnte er endlich wieder richtig durchatmen. Eigentlich hatte er nur kurz vor die Tür gehen wollen, um seine stechenden Kopfschmerzen zu vertreiben, da war ihm aufgefallen, dass er seit Ewigkeiten nicht mehr zu Fuß im Ort unterwegs gewesen war. Es war etwas völlig anderes, als mit dem Auto durchzufahren. Es war noch deprimierender, noch realer und ungeschminkter.

 Immerhin die Kopfschmerzen hatten sich weitestgehend zurückgezogen, waren aber noch lange nicht verschwunden. Carlo spürte sie, wie eine wild tobende Bestie in einem Käfig aus Panzerglas unter seiner Schädeldecke. Sie würden wiederkommen, voll entfesselter Wut.

 Der Wald hatte sich seit seiner Kindheit nicht verändert. Hier hatte es immer schon gruselig ausgesehen. Wenn man genug Horrorfilme gesehen hatte, erwartete man jeden Moment über eine verweste und angefressene Leiche zu stolpern. Tatsächlich wurde irgendwo in diesem Wald, vor Jahren einmal, der geschändete Körper einer jungen Frau gefunden. Das war ewig her und es war das letzte Mal gewesen, dass im Ort irgendetwas von Bedeutung passiert war. Den Mörder hatte man nie gefasst, aber Carlo war sich sicher, dass es jemand war, mir dem er regelmäßig in Kontakt stand. Das war jedoch eine andere Geschichte…

 Es roch modrig, aber es war ein angenehmer Geruch. Ein Geruch seiner Kindheit. Viele Tage hatte er hier verbracht. Hütten gebaut, Bandenkriege ausgefochten und anderes dummes Zeug getrieben. Er konnte sich daran erinnern, wie er zusammen mit einem Freund, einen kleinen jungen quasi entführt und im Wald gequält hatte. Heute wäre er dafür ins Jugendgefängnis oder die Psychiatrie gekommen, aber damals waren es halt andere Zeiten gewesen.

 Carlo verließ den schmalen Schotterweg und ging direkt in den dunklen Wald hinein.
 III.

Er lief eine ganze Weile, ohne auf die Uhr zu sehen oder die Richtung zu wechseln. Irgendwann ließen die Nadelbäume nach und wurden durch Laubbäume ersetzt, der Bodenbewuchs nahm zu. Es wurde langsam dunkel, doch Carlo dachte nicht daran umzukehren. Er war viel zu froh, eine zeitlang Ruhe vor den bohrenden Schmerzen in seinem Kopf zu haben. Der Geruch seiner Kindheit hatte sie vorerst vertrieben.

 Plötzlich, als hätte die Zeit unbemerkt einen Sprung nach vorne gemacht, war es stockfinster. Carlo war fast zwei Stunden gewandert, ohne es zu merken. Er war nicht mehr in der Lage den Boden vor seinen Augen zu sehen. All die Jahre als arbeitslose Couchkartoffel machten sich jetzt bemerkbar. Er bekam Panik und spürte im selben Moment, wie sich seine Kopfschmerzen anschickten, sich aus ihrem Panzerglasgefängnis zu befreien. Ein kleiner Riss würde genügen und sie würden heraussickern und sein ganzes Denken überfluten. Er drehte sich um und rannte einfach los, ohne genau zu wissen in welche Richtung er lief. Am ersten Baum war Endstation. Er brach sich die Nase und sackte zu Boden. Er lag einfach da, ein elendes Häufchen Zivilisation, in einem dunklen, gleichgültigen Wald.

 Als er erwachte, schien es noch dunkler geworden zu sein. Nun hatte Carlo absolut keine Ahnung mehr, wo er war und wo er entlanggehen musste, um wieder nach Hause zu kommen. Er blieb erstmal liegen und trieb auf seinen Schmerzen wie auf der Oberfläche eines dickflüssigen, düsteren Sees. Um ihn herum erblühten die Geräusche der Nacht.


IV.

Er weinte. Seit Jahren hatte er nicht mehr geweint, vielleicht waren es auch schon Jahrzehnte, er wusste es nicht. In diesem Moment wusste er gar nichts mehr und wollte auch nichts mehr wissen. Noch nie hatte er sich so hilflos gefühlt, er wollte bloß noch sterben. Oder einschlafen und nie mehr aufwachen, was dem Sterben wohl ziemlich nahe kam.

 Ein lautes Knacken direkt neben ihm riss ihn aus seinem Selbstmitleid und seinen Schmerzen, und brachte sein Herz zum Rasen. Es hörte sich nicht nach einem Tier an, zumindest nicht nach einem, das in deutschen Wäldern beheimatet war. Es klang wie etwas wirklich Großes und potentiell Gefährliches.

 Carlo versuchte sich zu bewegen, doch sein Körper war steif und fühlte sich taub an. Das lag nur teilweise an der Kälte, die mittlerweile durch die Bäume wehte.

 Das Geräusch verstummte. Er wartete darauf, dass es wiederkam, doch es blieb still.

 Zitternd lag er auf dem Rücken und blickte in den Nachthimmel zwischen den Baumkronen, wo kein einziger Stern zu sehen war. Er versuchte noch einmal aufzustehen und hatte nicht das Gefühl, es körperlich nicht schaffen zu können. Es schien mehr, als wolle sich sein Verstand einfach weigern weiterzumachen. Er schloss die Augen.

 Als er sie wieder öffnete, kam es ihm taghell vor. Doch er hatte nicht geschlafen und es waren nicht einmal fünf Minuten vergangen. Einen Moment lang war Carlo noch verwirrter als zuvor, doch dann überschwemmte eine Welle unausgesprochener Erkenntnis sein gequältes Gehirn. Ab diesem Moment herrschte in seinem Kopf Klarheit, rein wie ein Kristall.

 Er streifte sich seine Kleidung ab. Erst den Pulli, dann die Hose, zuletzt die Unterwäsche. Mit ihr entledigte er sich auch seiner zivilisatorischen Angst, seiner Unzufriedenheit und aller falschen Versprechen, die das Leben ihm gemacht hatte. Nackt kniete er auf dem kühlen Waldboden und es fühlte sich gut an. Er blickte nach oben und jetzt konnte er die Sterne sehen. Mystische Lichtpunkte aus uralten Zeiten, deren Lichtwellen in alle Ewigkeit durch das unendliche All reisen würden. Niemals war ihm das Leben so einfach vorgekommen.

 Neben ihm ertönten wieder die Geräusche, die ihm zuvor solche Angst gemacht hatten. Durch das Gestrüpp erblickte er ein junges Wildschwein, das sich zu weit von seiner Rotte entfernt hatte und im Waldboden nach etwas Fressbarem suchte.

 Seit Jahren hatte Carlo keinen Sport mehr gemacht, bloß einigen Millionären im Fernsehen dabei zugesehen, wie sie es taten. Doch nun setzte er zu einem gewaltigen Sprung an. Geschmeidig wie ein Tiger und ebenso kraftvoll, landete er mit seinen Knien auf dem jungen Eber, drückte ihn mit den Ellbogen auf den Boden und schlug ihm die Zähne in die Kehle.

  Das Blut, das aus seinem borstigen Hals spritzte, schmeckte nach Freiheit.
 ENDE

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Nera200 Re: Re: hi -
Zitat: (Original von zellhaufen am 09.11.2008 - 12:23 Uhr) Danke für den netten Kommentar.
immer gerne doch
deine texte haben etwas ^^
Vor langer Zeit - Antworten
zellhaufen Re: hi - Danke für den netten Kommentar.
Vor langer Zeit - Antworten
Nera200 hi - hochinteressant geschrieben
hat mir wirklich sehr gut gefallen ^^
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