Kapitel 83 Gefangennahme
Lucien blickte auf die die fünf Gebäude, die sich am Waldrand entlang erstreckten. Drei der Bauten waren nicht mehr, als offene Scheunen, mit zwei Seitenwänden unter denen Fackeln für unstetes Licht sorgten. Obwohl es längst dunkel war, drang nach wie vor der Klang von Sägen und Hämmern zu dem Agenten.
Die Wegbeschreibung hatte gestimmt. Und offenbar wurde dort unten bereits eifrig gearbeitet.
Dutzende Wagen, denen ähnlich, die sie abgefangen hatte, standen aufgereiht
neben einer stabilen Blockhütte, die jedoch dunkel war. Vermutlich die Unterkünfte für die Handwerker. Der fünfte Bau schließlich war ein niedriges Steinhaus, das sich zwischen den Hallen und der Blockhütte befand. Hier waren die Fenster trotz der späten Stunde noch hell erleuchtet und im Lichtschein, der durch eine offen stehende Tür fiel, konnte Lucien mehrere Gestalten in grauer Uniform erkennen. Natürlich gab es eine Garnison… Und nicht grade klein, dachte der Agent. Jetzt, wo er sie einmal erspäht hatte, konnte er immer mehr Gestalten im Halbschatten ausmachen. Sie standen bei den Scheunen, den Blockhäusern oder
zwischen den Bäumen des Waldrands. Mindestens fünfzig. Und das waren nur die, die momentan Wachdienst hatten…
Noch ein Grund, , sich die Schmiede erst einmal alleine anzusehen. Es hatte zwar etwas Überzeugungsarbeit gebraucht, bis man ihm erlaubt hatte, alleine loszugehen, aber wenn ihn jemand begleitete, würde das nur das Risiko erhöhen, entdeckt zu werden. Er war für genau so etwas ausgebildet worden. Die anderen nicht.
Kellvian, Syle und der Rest warteten eine halbe Wegstunde entfernt. Weit genug, um nicht zufällig von einer Patrouille entdeckt zu werden, aber nahe genug, um im Notfall schnell wieder
dort sein zu können.
Lucien war sich nach wie vor unsicher, was er von den Geschehnissen am Mittag halten sollte. Sicher, es war Feige, jemanden derartig in den Rücken zu schießen, wie es die vier getan hatten, aber so etwas kam eben vor. Wie Kellvian darauf reagiert hatte jedoch…
Der Agent hatte nicht genau beobachten können, was vor sich ging, aber der kurze Blick, den er auf das Gesicht des Kaisers erhascht hatte, war auch genug gewesen. Er war kurz davor gewesen, die vier Schützen umzubringen. Es war… beängstigend. Und genauso beängstigend war, wie schnell sich der Mann wieder gefangen
hatte.
,, Verrückte Zauberer, eben.“ , murmelte Lucien, während er weiter die Waffenschmiede beobachtete. Noch hielt er sich weit genug im Schatten der Bäume, das keiner der Wachposten ihn entdecken würde. Schon jetzt war Lucien klar, dass der Ort viel zu gut bewacht war, als das sie einen Angriff wagen könnten. Kellvian hatte vielleicht zweihundert Mann bei sich, die übrigen Gejarn verteilten sich über die ganze Provinz. Niemand hatte damit gerechnet, dass sie die Gelegenheit bekommen würden, Andre einen wirklich empfindlichen Schlag zuzufügen. Sie würden sich erst sammeln
müssen.
Lucien bewegte sich wie einer der Schatten, in denen er sich verbarg. Den Blick immer wieder zu Boden gerichtet, um nicht ausversehen auf einen trockenen Ast zu treten, schlich er langsam näher. Seine Kleidung hatte er mit mehreren Riemen gesichert und den dunklen Umhang den er trug, unter seinen Gürtel geklemmt. So konnte ihn nicht einmal das flattern des Stoffs im Wind verraten und er käme noch jederzeit an seine Ausrüstung: Die Armbrust und mehrere Wurfmesser.
Vor ihm ragte plötzlich ein grau-schwarzer Schatten auf. Ein Gewehr ruhte neben den Füßen der
Gestalt.
Lucien zwang sich ruhig zu atmen. Er hätte den Posten im Dunkeln beinahe übersehen. Zum Glück galt das gleiche für den Mann, der mit dem Rücken zu ihm stand. Gegen das schwache Licht, das von den Scheunen über die Wise herüberdrang, konnte er nur die Silhouette seines Gegenübers ausmachen. Dann jedoch bewegte er sich plötzlich.
Lucien erfuhr nie, ob der Posten sich wirklich umdrehen oder nur weitergehen wollte. So oder so, der kaiserliche Agent war schneller. Mit einer Bewegung hatte er eines der Messer aus seinem Gürtel gerissen und stieß es dem Mann in den Hals.
Der Schrei des Postens ging in einem gurgelnden Laut unter. Lucien fing den sterbenden Körper auf, bevor er auf den Boden aufschlagen konnte und zerrte ihn mit sich ein Stück zurück ins Unterholz. Wenn jemand den Toten entdeckte, würde sofort Alarm gegeben werden. Und bis dahin war er besser längst wieder zurück bei Kellvian und den anderen.
,,Tut mir echt leid, aber heute ist einfach ein mieser Tag.“ , murmelte der kaiserliche Agent, während er rasch etwas Laub und Äste über den Leichnam häufte. Solange es Dunkel blieb, würde die Tarnung wohl
ausreichen.
Einen Moment zögerte Lucien noch, dann trat er aus dem Schutz der Bäume heraus. Nach wie vor geduckt, überlegte er, wie er weitergehen konnte. Die Scheunen und Gebäude befanden sich auf der anderen Seite der Wiese. Wenn er sich näher umsehen wollte, müsste er sie überqueren. Die Wachen am Waldrand würden ihn nicht entdecken. Die waren wohl mehr darauf konzentriert, dass sich niemand der Waffenschmiede näherte, nicht, wer längst hier war. Die Handwerker konnten ja schlecht die ganze Nacht in den Hallen bleiben. Mehr Sorgen machten ihm da schon die Soldaten, die er bei den Gebäuden
entdeckt hatte. Er würde schnell sein … und sich ein wenig auf sein Glück verlassen müssen.
Es war seltsam, das überhaupt noch so viel Betrieb herrschte. Das man Wachen aufstellte, konnte er verstehen, aber Andre schien beinahe darauf aus zu sein, jedem Mitzuteilen, was hier vor sich ging. Tagsüber mochte ein Reisender, der zufällig in die Nähe kam, die Geräusche von Sägen , dem stetigen Klopfen der Hämmer und der vereinzelten Rufe ja noch ignorieren, aber Nachts ? Vielleicht fühlte der Herr Silberstedts sich so weit in dem von ihm kontrollierten Land auch bloß
sicher.
Nun, er würde wohl feststellen müssen, wie Unrecht er damit hatte.
Noch einmal atmete Lucien tief durch, dann rannte er los. Seine Schritte wurden vom Taunassen Gras geschluckt, das sich sofort wieder aufrichtete, wenn er den Fuß weiterzog. So würden auch seine Spuren nicht mehr zu sehen sein. Das Blut rauschte ihn in den Ohren und jeden Moment rechnete er damit, dass ihn jemand entdecken würde. Aber alles blieb ruhig und schließlich verschwand er in der Lücke zwischen einer der Scheunen und dem Steinbau, in dem er die Garnison vermutete. Eigentlich hätte er schon zu den anderen
zurückkehren können. Er wusste alles, was er wissen musste. Aber wenn er noch einen Blick in die Konstruktionshallen werfen konnte und dabei vielleicht etwas Schaden anrichten, umso besser. Einen Augenblick lang blieb er noch Versteckt zwischen den zwei Gebäuden. Mittlerweile war der Mond aufgegangen und tauchte alles in silbriges Licht. Es war gefährlich, sich noch einmal vorzuwagen, aber die Neugier war letztendlich stärker. An die hölzerne Wand der Scheune geduckt, trat er um die Ecke und auf das große, offen stehende Tor zu. Die hohen Türen auf der Vorder-und Rückseite nahmen fast die gesamte Vorderseite ein und
erweckten aus der Ferne die Illusion, das Gebäude hätte nur zwei Wände.
Er konnte die Stimmen der Arbeiter in der Halle jetzt schon deutlich hören, war aber immer noch ein Stück vom Eingang entfernt. Die Waffen, die Andre hier herstellte, bestanden zum Großteil aus Holz, überlegte der Agent. Ein Feuer würde wohl gewaltigen Schaden anrichten. Und das unstete Licht, das aus der Halle heraus drang, ließ drauf schließen, dass sie mit Fackeln beleuchtet wurde. Und er hatte ein Stück Zunder und einen Feuerstein dabei. Wenn er einen Brand legte, würde jeder es für einen Unfall halten. Wäre ihm die Idee nur früher gekommen, er hätte sich
Öl oder vielleiht sogar Drachenfeuer besorgen können. Die Gejarn hatten von beidem nicht grade viel, aber ein paar Tropfen wären auch alles, was er bräuchte…
Nun musste es wohl so gehen. Viel das Feuerwerk eben etwas kleiner aus, dachte er, bevor er Stein und Zunder aus der Tasche zog.
Ein Schritt noch und er würde um die Tür herum sein und direkt im Scheunentor stehen. Es würde schnell gehen müssen. Unbemerkt rein, etwas anzünden und wieder verschwinden.
Bevor er jedoch dazu kam, drückte sich ihm plötzlich der kalte Lauf eines Gewehrs in den
Nacken.
,, Aufstehe und umdrehen. Und zwar langsam.“ , befahl eine Stimme.
Verdammt… Lucien zögerte nicht. Für den Augenblick, blieb ihm nur, zu tun was man von ihm verlangte.
,,Heute ist wirklich wieder einer dieser Tage…“ , murmelte er, als er sich zu seinem neuesten Problem umdrehte. Drei Männer, alle in den grauen Uniformen des Aristokratenbunds, die die Waffen auf ihn gerichtet hielten.
,, Waffen fallen lassen.“ , befahl der mittlere.
Lucien verdrehte die Augen in Richtung des Feuersteins in seiner Hand. ,, Vielleicht ist euch das entgangen, aber
das ist nur ein Stück Fels.“
Der Mann sah ihn irritiert an, dann wiederholte er nur: ,,Fallen lassen.“
Er ließ den Stein los, der irgendwo im Gras landete und außer Sichtweite verschwand.
,, Durchsucht ihn.“ , wies der Mann seine zwei Begleiter an, die auch sofort damit begannen, Lucien Armbrust und Messer abzunehmen. Ein Köcher Bolzen folgte, sowie sein Mantel, in den der Anführer der kleinen Truppe die gefundenen Waffen sorgsam einschlug.
,, Ich glaube wirklich, ihr habt jetzt alles.“ , bemerkte Lucien nur. Einen Moment überlegte er, ob er es wagen sollte, einfach loszurennen. Aber… an
den drei kam er nicht vorbei und die Wiese bot keine Deckung. Mal davon abgesehen, das die Wachen unter den Bäumen sofort alarmiert währen, wenn ein Schuss fiel. Es wäre Selbstmord.
,, Wer seit ihr und was hattet ihr vor ?“ , wollte derweil sein Gegenüber wissen.
,, Also, das ist eine wirklich verrückte Geschichte… Seht ihr, eigentlich wollte ich erst nur einen Spaziergang machen, aber dann…“
,,Wollt ihr mich verarschen ?“ , unterbrach ihn einer der Soldaten.
,, Ganz ruhig. Offenbar ist unser Freund hier nicht nur ein Saboteur sondern auch noch ein Spaßvogel. Ihr wisst ja, die mag der Heerführer besonders. Ich denke
wirklich, Erland wird sich sehr dafür interessieren, das wir einen kaiserlichen Spion Gefangen haben. Und sich selber darum kümmern wollen.“
Erland war hier? Das war definitiv keine gute Nachricht, dachte Lucien, während man ihm einen Stoß in den Rücken versetzte. Zwei Bewacher hinter sich und den Soldaten, der bisher schon mit ihm gesprochen hatte vor sich, gab es für ihn kaum die Aussicht, einfach entkommen zu können. Er glaubte bereits zu wissen, wohin man ihn bringen würde. Das Garnisonsgebäude war nach wie vor hell erleuchtet und war nicht zu übersehen. Bestimmt gab es irgendwo Zellen. Wenn man ihn irgendwo einsperrte, kam er
schon heraus.
,, Ihr könnt Erland gerne einen Gruß von mir ausrichten, ich freu mich schon, dass wir uns mal wieder sehen. Wir sind alte Bekannte.“
Die Reaktion seiner Bewacher war ein Schlag mit dem Gewehrlauf in die Seite ,, Spart euch das. Wir bringen euch direkt zu ihm. Und noch ein gut gemeinter Rat, einfach weil ich später nicht die Sauerei aufwischen will : Provoziert ihn nicht noch mehr. Der Kommandant ist recht aufbrausend geworden, seit er von Andre hergeschickt wurde. Und ihr wärt in dem Fall die einzige Ablenkung, die er hat, während wir
warten.“
,,Seit Wochen tun wir nichts anderes.“ , beschwerte sich ein zweiter Soldat ungehalten.
,,Ich habe aber auch wieder ein Glück.“ , brummte Lucien, während er über die Worte der Männer nachdachte. Götter, dachte er bei sich, waren die so dumm oder rechneten sie wirklich damit, dass er das Gespräch mit Erland ohnehin nicht Überlebte? Und worauf genau warteten sie bitte? Darauf, dass die Waffen fertig wurden? Er wünschte wirklich, er hätte einen Blick in die Hallen werfen können. Dann wüsste er, wie viel Zeit ihnen überhaupt noch blieb. Andre könnte noch Monate
brauchen, um eine ganze Armee mit Spiegelwaffen zu versorgen oder ein paar Tage…
So oder so, er musste eine Möglichkeit finden, zu entkommen. Wenn man ihn nur kurz alleine lassen würde, wäre das genug. Das Schloss, das er nicht aufbekam, musste erst noch erfunden werden.
Bevor er sich jedoch weiter darüber Gedanken machen konnte, hatten sie ihr Ziel auch schon erreicht. Die Tür des grauen Steinbaus wurde aufgezogen und er unsanft hineinbugsiert. Er erhaschte einen Blick auf wenig einladende, enge Räume, die von einem Gang abzweigten, vermutlich die Unterkünfte der Soldaten,
dann ging es auch schon eine Treppe hinab , an deren Ende eine schwere Tür aus Eisenstreben wartete. Im nächsten Moment wurde auch dieses aufgezogen und Lucien hindurchgedrängt.