Romane & Erzählungen
Save me

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"Save me "
Veröffentlicht am 27. März 2015, 432 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Über den Autor:

Bin Mitte 40, habe in Bonn Theologie studiert, arbeite aber jetzt was ganz anderes :-) Verheiratet ohne Kinder, habe aber trotzdem weniger Zeit zum Schreiben, als ich möchte. Trotzdem habe ich es geschafft, ein ganzes Buch zu schreiben, DIN A4 doppelseitig bedruckt immerhin 240 Seiten. Und jetzt habe ich den Schritt gewagt und es als reines E-Book auf Amazon veröffentlicht ( ...
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1. Kapitel

~ Klick ~ „Hier ist das erste deutsche Fernsehen mit der Tagesschau am Dienstag, dem 7. Januar 2014 BERLIN Nach dem Ende der Weihnachtspause wurden heute die Koalitionsgespräche zwischen den Christsozialen und den Sozialdemokraten wieder aufgenommen. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe und SPD-Vorsitzender Sigmar Gabriel äußerten sich zuversichtlich darüber, dass-” Vor Schreck über das plötzliche Dröhnen des Fernsehers neben mir fiel mir fast die kleine Ampulle Xylazin aus der Hand, aus der ich gerade eine Dosis Hellabrunner Mischung auf einen Betäubungspfeil abfüllen

wollte. „Raffi, um Himmels willen”, drehte ich mich schimpfend um, „bist du verrückt geworden?! Ich hab hier fast das teure Zeug verschüttet, Mann, du weißt, was das kostet!? Und warum machst du eigentlich während der Arbeit den Fernseher an?” Der Tierpfleger, Rafal Wisznewsko mit vollem Namen und von allen nur Raffi genannt, der mich nachher zu seinem Revier begleiten sollte, grinste über beide Backen. Der Kerl war sowieso eine echte Frohnatur und auch jetzt konnte ich ihm nicht böse sein, wie er mich so fröhlich anstrahlte und sagte „Aber ab heute sind doch wir dran! Da wollte ich unbedingt rein gucken!” Ich warf einen Blick auf die Uhr an der Wand, es war jetzt ein paar Minuten nach vier, in der ARD lief, wie ich unschwer mitbekommen hatte,

die Tagesschau. Was meinte er mit 'Wir sind ab heute dran' ? Dann fiel es mir auf einmal glühend heiß ein, es stimmte ja, die Folgen mit meinem geliebten Harnas waren vor den Winterferien zuende gegangen und nun – würde man neue Folgen aus dem Berliner Zoo und Tierpark ausstrahlen. Ich schlug mir kurz vor die Stirn. Na, da konnte ich den DVD-Recorder ja getrost auf diese Uhrzeit eingestellt lassen, Vom 'Waisenhaus für wilde Tiere' hatte ich aus Nostalgie-Gründen jede Folge aufgezeichnet. Und ich war mir ziemlich sicher, dass meine Männer zuhause 'meine' Szenen aus dem Zoo nur zu gerne sehen würden. Zumindest mein Bruder war eh schon hin und weg von meinen Erzählungen über die – manchmal recht nervigen – Dreharbeiten gewesen. Dreharbeiten, die vor fast anderthalb

Jahren stattgefunden hatten und die ich deswegen schon fast vergessen hatte. Jetzt ging es auch schon los, der Vorspann lief und ich ertappte mich dabei, ebenso gebannt auf den Bildschirm zu starren, wie Raffi. Da, da tauchte ich tatsächlich auf! Und sogar aufgenommen in dem Moment, in dem ich eines der Gepardenkinder betreute, das hatte ich mir gewünscht. Ebenso wie die korrekte Angabe meines 'Titels' Ph.D. in Vetenary med., Univ. Caym. Isl. Das war zwar fürchterlich lang und tauchte auch ansonsten in der Sendung nicht mehr so auf, war mir aber lieber so. Meine Qualität sprach so oder so für mich, da brauchte ich keine besonderen Titel. Da meine Alma Mater auf den Cayman Islands zu Großbritannien gehörte und ich so nach EU-Recht also eigentlich einen 'Dr.' tragen könnte, war das ein Punkt, der ab und zu für Unmut bei meinem

Mann sorgte. Immer mal wieder brachte er das Thema auf den Tisch, zuletzt bei eben jenen Vorbereitungen für die Sendung und grummelte, ich solle mich daran erinnern, wie wichtig – und ursprünglich unmöglich! - mir das Studium damals erschienen war und dass ich stolz auf meine Leistung sein konnte, nach all dem, was ich so durchgemacht hatte. Manchmal schimpfte er sogar, ich solle doch mein Licht nicht so unter den Scheffel stellen, bis es mir irgendwann reichte und ich ihn anraunzte, er solle doch selber erst mal seinen eigenen Doktor machen! Nur in Interviews immer den großen Inteleltuellen raushängen zu lassen, sei auch nicht abendfüllend … „Meine Cat, immer noch die alte Kratzbürste!”, kam dann meistens von Jens und ich konterte damit, dass er eine Nervensäge bis zum Schluss

sein würde. Dann wir fielen uns für gewöhnlich lachend in die Arme und besiegelten mit einem dicken Kuss, dass wir trotz meines noch immer manchmal aufbrausenden Temperaments bisher noch immer jeden Streit gut überstanden hatten. Daran hatte sich seit unserem Kennenlernen nichts geändert. Zum Glück war ich mit den Tieren der geduldigste Mensch der Welt! Vielleicht war das auch mein Geheimnis: Ich hatte in Jens mein perfektes Gegenüber gefunden, an dem ich sogar meine verschiedenen Gemütszustände abarbeiten konnte, weswegen ich bei der Arbeit gar nicht garstig sein musste?! * Nach Feierabend machte ich mich wie meistens zu Fuß auf den Heimweg, denn vom Zoo aus hatte ich es nicht weit. Jens hatte vor ein paar Jahren eine alte Stadt-Remise in der Nähe des Savignyplatzes erworben und für seine Zwecke

umgebaut; Studio und Büro unten und ein riesiger Maisonettebereich in den oberen Stockwerken. Dort hatten wir viel Platz, uns zu entfalten und den brauchten wir inzwischen auch! Zuerst aber machte ich einen kleinen Schlenker durch den Garten. Irgendwas heute hatte mich an meine kleinen, aber bedeutsamen Verluste erinnert, Jake, der Hund meiner Jugendzeit und Tinkerbell, Jens' entzückende kleine Pudeldame. Sie lagen nun einträchtig nebeneinander im Garten und noch immer schaute ich gerne bei ihren kleinen Gräbern vorbei. Kaum, dass ich mich im Dunkeln nieder gekniet und eine stumme Zwiesprache begonnen hatte, hörte ich aus einem der Zimmer über mir ein lautes Schimpfen, ein Krachen und heftiges Türenschlagen. Resigniert schloss ich die Augen und seufzte.

Wenn doch alles in meinem Leben so einträchtig nebeneinander existieren könnte … Insofern war es ja gut, dass wir so viel Platz hatten, aber trotzdem! Seufzend ging ich ums Haus herum zum Haupteingang und schloss die Tür auf. Von oben hörte ich schon wieder wildes Geschrei, dann rumpelte jemand die Treppe runter und rannte mich fast über den Haufen, bremste im letzten Moment. „Ah, n'Abend, Katy!” Ist es nicht erstaunlich, wie wandelbar mein Name ist? Vor allem, wenn da jemand großer Katy Perry-Fan ist ... „Hi! Was macht ihr hier eigentlich schon wieder für einen Terz”, fragte ich gleich zurück. „Ach, dein blöder Bruder hat sich mal wieder an meinen Band-Shirts vergriffen!” „Huhh!”, witzelte ich, „Zickenkrieg!” „Sehr witzig,

Mütterlein!” „Stan! So sollst du mich nicht nennen!” „Dann sag du nicht Zicke zu mir! Ich treff mich jetzt mit meinen Kumpels. Ach ja, eh ich es vergesse, hier ist sowas wie ein Eilbrief oder Telegramm für dich!” „Und das sagst du mir erst jetzt? Her damit!” Er schmiss es mir zu, schwang sich in seine Jacke und verschwand zur Tür hinaus. Kurz richtete ich die Augen zum Stoßgebet zum Himmel, hoffte, dass nicht - Doch klar, eine Minute später erschien Niels' Rastakopf oben am Treppenabsatz. „Ist der Arsch weg?” „Niels, zum letzten Mal, Stanley ist kein Arsch! Und du sollst ihn nicht so nennen!” „Wenn er sich aber doch so benimmt?!”, begehrte mein Bruder

auf. „Das ist Ansichtssache. Du sollst ja auch nicht an seinen Schrank gehen, das weißt du genau!” „Der soll sich nicht so haben mit seinen Klamotten … Das ist doch voll schwul!”, muffelte Niels. „Verdammt”, mir platzte der Kragen, „was soll das, du weißt ganz genau, dass 'schwul' kein Schimpfwort ist! Was würdest du sagen, wenn er an deine heiligen Gitarren ginge?!” „Boah, das … Das ist doch echt kein Vergleich ...”, brummelte mein Brüderchen, war aber schon fast wieder auf dem Boden der Tatsachen. „Na gut, Schwesterherz, du hast gewonnen, ich lass seinen Kleiderschrank in Ruhe.” „Ich danke dir dafür.” „Für diese Woche.” „Niels!” „Und ein Arsch ist der trotzdem!”,

beanspruchte Niels das letzte Wort für sich und zog seinen Kopf zurück. „Niiiielsss!!!” Die zuschlagende Tür sagte mir, dass weitere Worte erst mal sinnlos waren. Tja, DAS war halt unser großes Problem. Oder zum größten Teil meines, denn wenn Jens da war, hielten sie sich sehr zurück, mein Bruder Niels, der bei uns lebte, und Jens' Sohn Stanley, der ab und zu bei uns wohnte. Ja, es stimmte, Jens hatte einen erwachsenen Sohn! In der Zeit, als ich noch als schwangere Obdachlose bei ihm unter gekommen war, war das nie zum Thema geworden, warum auch, erst als Jens und ich uns wieder gefunden hatten, erfuhr ich von der Existenz meines 'Stiefsohns'. Der witzigerweise genauso alt war wie ich, denn er entstammte einer Liebelei von Jens bei seinem ersten Trip als Schüler nach

England. Aufgewachsen war der Junge bei seiner Mutter Linda, doch Jens hatte immer brav seine Alimente gezahlt und auch regelmäßigen Kontakt zu seinem Sohn gesucht. Die Erziehung hatte er jedoch Linda überlassen und die hatte echt gute Arbeit geleistet. Stan war jetzt wie ich über 30 und hatte das Hobby seines Vaters, das ihm anscheinend genetisch in die Wiege gelegt worden war, erfolgreich zum Beruf gemacht. Er kam als Auslandskorrespondent viel in der Welt herum, wohnte nur ab und zu auf Besuch bei uns, wenn er in Deutschland war – doch diese Tage hatten es leider immer in sich! Ich bin nie dahinter gekommen, warum, aber bei den Beiden war es Antipathie, ja beinahe Hass auf den ersten Blick gewesen. Vielleicht war es

auch eine Art Buhlen um Jens, um seine Anerkennung? Die Sehnsucht nach einer Vaterfigur, welche beiden ja irgendwie in sich trugen?! Stanley hatte seinen Vater zwar gekannt, aber der war nun mal nicht immer bei ihm gewesen. Und Niels, der Arme, war ja seit früher Kindheit ganz vaterlos, da mein Vater so früh gestorben war, und hatte noch dazu lange Zeit mit unserer lieblosen Mutter alleine im Haus eines skrupellosen Zuhälters gelebt … Kein Wunder also, dass die 'Jungs' (okay, Stan ist ein paar Monate älter als ich, aber ich komme irgendwie nicht umhin, ihn so zu nennen) danach lechzten und um seine Aufmerksamkeit konkurrierten. Und der Ältere war vielleicht sogar eifersüchtig auf den 'Fremden', der seit seinem sechzehnten Lebensjahr bei seinem Vater wohnte, denn dazu

war es für ihn bisher bis auf ein paar Besuche ab und zu nicht gekommen. Naja, die wahren Hintergründe würde wohl nur ein guter Psychologe erklären können und ich kannte mich nun mal besser mit Tieren aus als mit Menschen, vor denen ich immer noch manchmal Angst habe. Ehrlich, es war noch nie ein Problem für mich, zwei, was weiß ich, rivalisierende Stachelschweinmännchen aneinander zu gewöhnen, aber wenn Niels und Stan gleichzeitig zuhause waren, hatte ich die Hölle auf Erden. Jedenfalls normalerweise so lange, bis der Herr Rubel sich mal zuhause blicken ließ. Dann waren sie fast ein Herz und eine Seele! Jens war halt doch extrem viel unterwegs, damit kam ich klar, aber er glaubte mir auch nicht so recht, wenn ich von den männlichen Eskapaden hier berichtete. Dass die beiden Vögel nicht Arm

in Arm liefen, wenn sie Jens zur Begrüßung entgegen kamen, war echt alles! Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch, als es hinter mir auf der Treppe wieder rumpelte. Niels schoss auf mich zu und gab mir einen Kuss auf die Wange. „Tschüss Kitty, ich muss noch bei Vince vorbei schauen und ihm seine Noten zurück bringen, danach treff ich mich mit Julie.” „Viel Spaß”, rief ich erfreut. Das hieß ja, wir hatten heute Abend sturmfreie Bude! Leise singend kickte ich meine schweren Arbeitsschuhe in die Ecke und warf Mantel und Tasche hinterher, wetzte dann nach oben, um mich frisch zu machen. Kurz dachte ich daran, mich gleich in was 'leichtes' zu schmeißen, ließ es aber dann zugunsten einer normalen Jeans und einem engen T-Shirt bleiben, schließlich

wollten wir erst essen. Immer noch summend stöberte ich dann in der Küche nach etwas Essbarem. Tja, das war so der Punkt, in dem wir sozusagen eine echte Künstlerfamilie waren, es war nie viel Zeit zum Selberkochen, auch wenn sowohl Jens als auch ich das gut beherrschten. Zum Glück ließen wir drei Mal die Woche eine Putzfrau kommen, sonst wären wir wahrscheinlich schon lange im Staub erstickt … Ich entschied mich für eine vegetarische Pizza und rollte den Teig schon mal aus, sorgte für den Belag und schmiss den Backofen an, damit wir nachher das Blech einfach nur rein schieben und uns dann einen gemütlichen Abend zu Zweit machen konnten. Kaum, dass ich die letzten Vorbereitungen abgeschlossen hatte, klapperte es auch schon unten am Eingang und ich hüpfte ausgelassen die Treppe runter, wo

gerade Jens seinen Blondschopf zur Tür herein schob. „Hallo meine geliebte Nervensäge!”, rief ich schon vom letzten Treppenabsatz aus und sprang den Rest in einem Stück, „Schön dass du kommst, das Essen-” „Reicht hoffentlich auch noch für einen Gast”, vollendete Jens fröhlich meinen Satz und schwang die Tür weiter auf, damit ich die Gestalt, die nun hinter im ins Haus trat, besser sehen konnte. Abrupt stoppte ich meinen Anlauf und ließ meine Arme linkisch neben meinem Körper baumeln. „Oh, hallo Sabine ...” Jens kam auf mich zu, zog mich in seine Arme und küsste mich, während unser unverhoffter Gast sich aus seiner Jacke schälte. „Du hast Sabine mitgebracht?”, fragte ich

überflüssigerweise und Jens nickte munter. „Ja, sie war heute wegen des neuen Projekts im Büro und weil wir nicht fertig geworden sind, hab ich sie mit zu uns eingeladen. Ich hoffe, es macht dir nichts aus?!” „Nein, nein”, antwortete ich lahm und brachte ein Lächeln zustande. Gut, dass ich mir keine Dessous angezogen hatte vorhin! „Die Jungs sind heute Abend weg, das Essen wird also auf jeden Fall reichen”, informierte ich ihn. „Ah okay. Die Jungs sind gar nicht da?”, wiederholte er und dann konnte man richtig sehen, wie bei ihm der Groschen fiel. „Oh …!” °Ja, 'Oh!'°, wiederholte ich in Gedanken und war eigentlich ganz zufrieden mit seiner Reaktion. Dann begrüßte ich die dunkelhaarige Frau, die mich ihrerseits herzlich umarmte. Sie war in etwa in Jens' Alter und im Grunde war sie ja

okay und auch immer sehr freundlich mit mir, fast schon, als sei sie in mich vernarrt. Eigentlich war sie Rechtsanwaltsgehilfin, bis sie zur anderen Seite übergewechselt war und nun bei einer Abrechnungsfirma für Arztleistungen arbeitete. Aber uneigentlich hatte sie einen starken Drang zum Höheren, interessierte sich sehr für Kunst. Doch da sie leider über keinerlei eigenes Talent, dafür aber über ein kleines Erbe verfügte, engagierte sie sich in diversen Künstlergalerien, so auch bei LUMAS. Dort hatten sich Jens und sie kennen gelernt und Jens liebte es, mit ihr zu fachsimpeln. Er sagte immer, er genösse es, außer mir mal eine andere intelligente Frau zu treffen, die seien noch immer rar gesät. Doch meine Intelligenz ist eher praktisch veranlagt und für meinen Geschmack schwebte Sabine allzu oft in abgedrehten intellektuellen Sphären … Und natürlich war ich ab und zu eifersüchtig

darauf, wenn mein Mann Zeit mit ihr verbrachte! Enttäuschung und eben Eifersucht rumorten heftig in meinem Magen, während der Gast seine Jacke aufhängte. Wir gingen hoch in den Wohnbereich und Sabine pflanzte sich wie selbstverständlich ins Wohnzimmer, sah mich dann an. „Ich weiß, deinen Mann brauche ich gar nicht danach fragen, aber du hast doch sicher ein Glas Wein für mich?!” Was sollte das denn heißen? „Sicher”, gab ich zurück und fragte mich, ob ich eigentlich was von dem Xylazin zuhause hatte. „Rollen bringt's dir dann”, fügte ich laut hinzu und ging rasch in die Küche, um die Flasche zu öffnen. Und bevor meine Stimme überschnappen konnte. Kurz danach erschien Jens und ich drehte mich rasch zum Herd, damit er meine Tränen der Wut nicht

sah. „Kann ich dir was helfen?”, fragte er meinen Rücken, doch ich schüttelte den Kopf. „Nein. Bitte geh und kümmere dich um deinen Gast”, antwortete ich schroff, schroffer als beabsichtigt. Denn Jens hatte, man höre und staune, irgendwann mal gecheckt, dass ich hilflos eifersüchtig war, als ich mal wieder sehr gegen Sabine gestichelt hatte. Anfangs hatte er mich einfach ausgelacht, doch bevor ich wutentbrannt das Zimmer verlassen konnte, hatte er mich auf seinen Schoß gezogen. „Hör mal, Catherine, du glaubst doch nicht wirklich, dass DU Konkurrenz hast, hm? Nach all dem, was zwischen uns war, soll ich dich für eine andere Frau fallen lassen?! Wo es doch noch ganz andere Models gibt, die dauernd um mich herum

schwirren?!!” „Na herzlichen Dank”, hatte ich gestöhnt und „das baut mich erst recht auf! Mann, es ist halt, ich hab halt das Gefühl, du … du findest in ihr etwas, das du bei mir nicht hast ...”, gestammelt. Zärtlich hatte da seine Hand meinen Nacken gekrault und mit sanfter Stimme hatte er gesäuselt „Cat, in gewisser Weise ist es ja auch so. Sie ist mein Kunstkumpel, so wie du deine Anatomiekumpel hast. Die übrigens auch größtenteils männlich sind, hab ich da mal was zu gesagt?” „Ach komm, das ist doch nicht das Gleiche”, begehrte ich auf. „Tatsächlich nicht? Du bist um einiges jünger als ich, muss da nicht ich Angst haben, dass du dir was in deinem Alter suchst?” „Jens, spinnst du? Du solltest doch wissen, ich liebe dich über alles, du hast es nicht nötig,

sowas zu denken-” „Siehst du, und so geht’s mir auch. DU bist meine Frau, also keine Gefahr!” Das hatten wir mit langen Küssen besiegelt und unwillkürlich musste ich gerade an diese Szene denken. Eigentlich musste Jens davon ausgehen, dass ich inzwischen vernünftig geworden war, deswegen fürchtete ich eine Standpauke. Statt dessen sagte er plötzlich: „Oh, hallo Kitty!” „Was?”, entfuhr es mir und ich hörte ihn lachen. „Naja, Kitty ist deine Kratzbürsteninkarnation und mit der rede ich doch grade, oder?” „Du Quatschkopp”, murrte ich und konzentrierte mich auf den Salat. Grade, als ich den Essig dazu geben wollte,

legten sich zwei Arme von hinten um mich und ich spürte einen feuchten Kuss an meinem Hals. „Iihk, Jens, nicht doch … wir haben einen Gast!”, protestierte ich – vor allem, weil es das war, was ich ja eigentlich heute gewollt hatte ... Er drückte mich nun fester. „Der sitzt im Wohnzimmer und kriegt nichts mit ….” „Aber sie wartet auf ihren Wein! Willst du ein schlechter Gastgeber sein?!”, meckerte ich und er murmelte „Catherine, bitte ...”, rieb dabei seine Nase an meinem Hals. Das ließ mich schon wieder weich werden, wie immer vor allem die Art, wie er meinen Namen aussprach. „Tut mir leid, wenn ich ein wenig zickig bin, aber-” „Cat”, schmeichelte er leise weiter, „ich weiß, du hattest nicht mit ihr gerechnet. Es ist bloß, der Termin kommt näher und da es noch einiges

zu planen gibt, wäre ich ansonsten noch viel später heim gekommen, dachte mir halt, dass ihr auf mich wartet. Dass du allein bist, konnte ich ja nicht ahnen ….” Mit einem Seufzer lehnte ich mich leicht nach hinten an ihn. Da war er wieder, so ein typischer Jens-Moment, im Grunde hatte er ja mitgedacht und schaffte es auch, mit einschmeichelnder Stimme allen Groll in mir endgültig in Nichts aufzulösen. Er hatte ja nicht wissen können, dass dieser Abend spontan 'unser' Abend hatte werden sollen und im Großen und Ganzen konnten Abende mit Sabine auch sehr nett sein. „Hey, es ist okay.” „Wirklich?” Jetzt drehte ich mich in seinen Armen um und sah ihn an. „Wirklich-wirklich! Und jetzt bring Sabine ihr Glas Wein und fangt mit eurer Besprechung an. Das Essen dauert noch ein paar

Minuten.” „Gut, aber zuerst ...” Damit senkte Jens seine Lippen zu einem Kuss auf meine, der auch den letzten Rest Eifersucht aus meinen Adern spülte und für einem Moment heiße Lava dort hinterließ … „Catherine, ich liebe dich”, hauchte er, als er mich losließ und seine Augen versprachen 'Bald, Cat, bald …!', dann schnappte er sich gehorsam den Wein und verschwand im Esszimmer. Mit leicht wackligen Knien wandte ich mich wieder der Küche zu, gönnte mir auch erst mal einen Schluck Wein, bevor ich weiter machte. Insgesamt wurde der Abend dann auch noch recht nett. Da es um eine konkrete neue Ausstellung zu Jens' letzter Reise ging, fielen

auch nicht so viele künstlerische Fachausdrücke und ich konnte an der Unterhaltung gut teilnehmen. Mein Gähnen war deswegen auch kein Versuch, den Gast loszuwerden, sondern Ausdruck eines normalen Arbeitstages, der naturgemäß ziemlich lang war. Sabine hatte dann auch ein Einsehen, die wichtigsten Details waren geklärt und sie verabschiedete sich gut gelaunt. Während Jens sie nach unten zur Haustür geleitete, räumte ich schnell alles in die Spülmaschine und sorgte für Ordnung. Das war wohl noch ein Relikt aus meiner Zeit, als ich als Obdachlose diverse Küchenjobs hatte, da musste immer alles blitzblank aussehen. Die Tür hinter mir schwang auf. „Ach hier bist du, ich hätte es mir denken können”, schmunzelte Jens. „Jetzt lass aber gut sein, morgen kommt eh die

Putze.” „Du liebe Zeit, wie redest du denn von deinem Personal?”, schimpfte ich und stellte die letzten Utensilien in den Schrank. „'Tschuldigung, die Zugehfrau. Jetzt komm aber!” „Moment”, brachte ich noch heraus, doch da hatte Jens mich schon geschnappt und über seine Schulter geworfen. „Hey!” „Nix, da 'hey', du kommst jetzt mit. Ich kann an nix anderes denken, seit du mir heute gesagt hast, dass die Jungs nicht da sind!”, sagte er mit heiserer Stimme und trug mich die Treppe hoch. Der Ordnung halber zappelte ich ein bisschen und quiekte, als er mich auf unser großes Ehebett schmiss, aber als er dann über mich kam, ergab ich mich rasch seiner Leidenschaft! Und bereute es nicht, denn es war wie immer

wunderschön mit ihm. Kein Vergleich mit den Jüngelchen, mit denen ich mich während meines Studiums eingelassen hatte – etwas, was ich ja auch nur deswegen konnte, weil Jens damals dieses große 'Opfer' gebracht hatte, mit mir probeweise zu schlafen obwohl er mich angeblich nicht liebte … Tja … Waren es diese Gedanken oder der Rest Endorphine in meinem Körper, jedenfalls schaffte ich es erst mal nicht, einzuschlafen, während Jens schon friedlich neben mir schlummerte. Ein Glas warme Milch soll da ja Wunder wirken, deswegen zog ich meinen Morgenmantel über und steuerte wieder die Küche an. Dabei bemerkte ich einen Schatten in der Diele, der gleich darauf „Hi Katy”, sagte. „Hi Stan, schon wieder zurück?” „Ja, die Guys müssen alle morgen arbeiten oder sich um ihre Kinder kümmern. Ich bin langsam ein Relikt, fürchte ich … unverheiratet, keine

Kinder, nicht mal eine Freundin ...” Im aufflammenden Flurlicht sah er in diesem Moment so traurig aus, dass ich ihn einfach in den Arm nehmen musste. „Jetzt sei nicht so traurig deswegen, du bist nun mal viel unterwegs.” Ich löste die Umarmung, drückte ihn ein Stück weg und sah zu ihm hoch, da er ähnlich hochgewachsen war wie sein Vater. „Irgendwann läuft dir schon die Richtige über den Weg.” Stan seufzte und ich spürte die leichte Alkoholfahne, typisch nach einem Kneipenbesuch und wohl auch der Grund dafür, dass er grad so melancholisch drauf war. „Ja, aber was, wenn sie dann nicht frei ist?”, murmelte er und sah mit glasigen Augen auf mich hinunter. „Dann ist sie nicht 'die Richtige', oder?” „Findest du?”, brummelte er und wischte sich

über die Augen. „Na, vielleicht hast du recht”, entschied er dann, bevor ich weiter nachfragen konnte. Anscheinend hatte er sein Herz inzwischen doch schon mal verschenkt, offenbar an eine liierte Dame. „Ich geh jetzt ins Bett. 'Nacht, Catherine.” „'Nacht”, erwiderte ich, etwas verwundert über die korrekte Aussprache meines Namens. Stan schlurfte die Treppe weiter hoch und ich sah, dass unten das Licht noch brannte, sparte mir aber das Schimpfen. Statt dessen ging ich rasch selber runter, dabei bemerkte ich peinlich berührt, dass mein kleiner Berg aus Mantel und Tasche noch immer in der Ecke lag und beschloss, das Chaos schnell zu beseitigen. Dabei fiel mir auch die Post in die Hände und ich schnappte nach Luft. Das Telegramm! Aufgeregt riss ich den Umschlag auf und mir fiel

ein Telegramm entgegen. Das war ja heute so üblich, dass die wie ein Brief daher kamen, weil E-Mail und SMS es an Bedeutung abgelöst hatten und sie meist nur noch als Glückwunschkarten dienten. Dieses aber nicht! „ROLLEN!“, schrie ich aufgeregt und holte dann tief Luft, innerlich grinsend über mich selbst, dass mir das immer noch ab und zu raus rutschte. „Jens!“ Ich wetzte die Treppe hoch, wo Stan den Kopf aus der Tür steckte. „What’s wrong? Warum brüllst du so rum, alles in Ordnung?“ „Ja ja, geh wieder schlafen“, rief ich im Vorbeirennen und musste verstohlen grinsen. Er hatte sich schon den Pulli über den Kopf gezogen und sah nun mit den verstrubbelten Haaren seinem Vater ähnlicher denn je, bzw. seiner jungen Ausgabe, die ich damals kennen gelernt hatte. Das Original bestand ja in letzter

Zeit immer öfter darauf, die Haare nach hinten zu gelen. Ich konnte ja verstehen, dass Jens sich an manchen Tagen nicht danach fühlte, aber so richtig gefallen wollte es mir nicht. Das tat meiner Liebe zu ihm natürlich keinen Abbruch, aber ich freute mich immer, wenn er sich mir zuliebe so stylte, wie ich ihn kennen gelernt hatte. So wie jetzt, aber eher unfreiwillig, denn auch er saß, als ich immer noch rufend eine Etage höher in unser Schlafzimmer stürmte, nun mit verwuschelten Haaren erschrocken auf dem Bett, hatte nach unserem Liebesakt bereits selig geschlummert. „Cat, was ist passiert“, fragte er verschlafen und schlug die Bettdecke von seinem nackten Körper. „Nein, bleib drin, ich komme zu dir“, hielt ich ihn auf. „Keine Panik, es ist nichts akutes!“

„Was? Was ist nicht akut, lässt dich aber hier das ganze Haus aufwecken?“, schmunzelte Jens und legte den Arm zum Wärmen um meine Schulter, zog gleichzeitig die Bettdecke über mich. Ich hatte tatsächlich eine Gänsehaut, wie ich selber grade merkte, aber nicht von der winterlichen Kälte, oh nein, es war ein Schüttelfrost der Aufregung. Aufregung über die Nachricht, die ich gerade überflogen hatte. „Hier“, sprudelte ich hervor, „das ist das Telegramm, das mir einer der Jungs heute Nachmittag in die Hand gedrückt hat, aber das hatte ich zur Seite gelegt und vergessen, weil die beiden Streithähne sich wieder gezofft haben-“  -hier zuckte Jens' Augenbraue mal wieder deutlich zweifelnd in die Höhe, was nicht gerade zu meiner Beruhigung beitrug- , „na ja, jedenfalls hab ich den Brief grade erst

wieder gefunden und deswegen bin ich so aufgeregt, stell dir vor-“ „Shht“, machte mein Mann da, „ich stell mir jetzt erst mal vor, dass du dich ein bisschen beruhigst, meine Kleine!“ Da stellten sich mir natürlich gleich wieder sämtliche Nackenhaare auf! Den Altersunterschied zwischen uns thematisierten wir normalerweise nie, weil er eigentlich kein Thema zwischen uns war. Eigentlich … Denn manchmal brach bei Jens noch dieser Beschützerinstinkt von früher durch und er benahm sich dann wieder so overprotective, dass es mich jedes Mal genau wie früher rasend machte! Wenn ich zum Beispiel auf der Autobahn in meinem schönen Ford Mustang mal die Kuh fliegen ließ, hieß es gleich immer 'Katharina, fahr nicht so schnell!' Dabei brauche ich diesen Ausgleich, bei all der Gemütsruhe und Geduld, die ich in meinem

Beruf immer ausstrahlen muss. Wer schon einmal darauf gelauert hat, dass ein Luchs seinen Hintern eine Minute lang so aus seiner Deckung sehen lässt, dass man ihm einen Betäubungspfeil in die Flanke pusten kann, der weiß, wovon ich rede! Dafür braucht man einen Ausgleich!! Für diesmal beschloss ich aber, es zu ignorieren. „Jens, sie brauchen mich! Das Telegramm ist von Jo, Marieta geht es sehr schlecht ...” „Jo? Marieta? Cat, ich komm nicht ganz mit!”, bremste mein Schatz mich ein und ich musste ihm sogar Recht geben, meine Stimme überschlug sich beinahe. Also holte ich tief Luft. „Jens, das Telegramm ist aus Afrika, von der Harnas Wildlife Foundation. Du erinnerst dich doch, die Farm, wo du mich wieder gefunden hast

…?” Diesmal war es an ihm, zu erschauern. „Wie könnte ich das vergessen … Was ist denn los?” „Jens, die Hölle ist los. Und sie bitten mich dringend, so schnell wie möglich zu ihnen zu kommen!” Für einen Moment schwieg Jens und obwohl ich gerade dabei war, die schlechten Nachrichten zu verdauen, trafen mich seine nächsten Worte noch viel härter, wie ein Schwinger in den Magen: „Aber das kommt überhaupt nicht in Frage!!”

2. Kapitel

„Marieta ...” Für einen Moment kämpfte ich mit den Tränen, hatte die schlechte Nachricht selbstverständlich noch nicht verdaut. „Marieta, sie … Sag mal, was hast du gerade gesagt?!?” „Dass du ganz sicher nicht einfach so nach Afrika abhauen wirst, das hab ich gesagt.” „Ähm, ich glaub ich hab mich verhört! Was soll das denn bitte heißen? 'Nicht so einfach nach Afrika abhauen' – und das vom Reiseweltmeister, der locker mal sechs Monate allein unterwegs ist!”, platzte ich laut heraus. Ja, diese Reiseleidenschaft, das war ein Punkt, in dem ich schon arg viel Verständnis für meinen Mann aufbringen musste … Hat ja keiner was dagegen, wenn der Partner auch mal alleine verreist, aber bekannterweise war Rollen

D. Rubel immer extrem lange unterwegs, ich hatte schon mal vorgeschlagen, dass er sich in 'Wanda Aus' umbenennen sollte … Naja, im Großen und Ganzen kam ich damit klar, es gab in meinem Job immer genug zu tun, um diese Zeit rum zu kriegen. Oder die Zeit, die er mit Pfanni und Vince auf Tour war. Oder die Zeit, wenn er solo unterwegs war …. Und jetzt saß er hier neben mir und wollte mir ernsthaft verbieten, ein paar Wochen an den schönsten Ort der Welt zu fahren, wenn ich dort gebraucht wurde?!!? Erbost sprang ich aus dem Bett und zwang mich zur Ruhe, sog ein paar Mal tief die Luft ein, bis mir fast schwindelig wurde. „Jens, ich … Also jetzt noch mal langsam: Jo, du kennst sie, sie ist Schalks Ehefrau und damit Marietas

Schwiegertochter, also, sie schreibt hier ...” Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme etwas kippte, „ ... dass Marieta … sie hatte einen Schlaganfall! Und Jo kommt mit allem zusammen alleine nicht klar und Schalk hat es ja nicht so mit Menschen ...” „Hast du doch auch nicht, Kitty, was wollen die denn eigentlich von dir?” Gut, die Frage war berechtigt, denn Jens kannte sich im Gefüge rund um Harnas natürlich nicht ganz so gut aus wie ich. Marieta van der Merwe war die Gründerin und große Mutter der Foundation und war mir, vielleicht gerade wegen ihrer etwas burschikosen Art, in meiner Zeit dort eine gute Freundin geworden und umgekehrt. Nervös rieb ich mir über die Stirn. „Es ist kompliziert, die ganzen Volontäre, die ja auch mit ihren Spenden das ganze am Laufen halten, zu koordinieren, sie so auf die Tiere aufzuteilen,

dass es passt … Das ist eigentlich in der Hauptsache von Marieta organisiert worden, ihre Küche ist die Schaltzentrale”, erklärte ich und musste in Erinnerung daran grinsen. Denn dieser Ort war gleichzeitig häufig Kinderstube, wo bereits kleine Leoparden mit Mini-Äffchen zusammen gespielt hatten, was für ein entsprechendes Chaos sorgte … „Huhu, Catherine”, wedelte mir Jens mit der Hand vorm Gesicht rum, „bist du noch da? Komm, das ist doch trotzdem kein Grund, dass du dich da jetzt auf den weiten Weg runter machst!” Ich schreckte aus der Erinnerung hoch. Er war auch aufgestanden und hielt mir fürsorglich meinen Morgenmantel hin. „Was soll ich damit?” „Anziehen natürlich, es ist Januar und es ist kalt!” „Ein Grund mehr, nach Afrika zu fahren”,

knurrte ich leise und dann, „danke, mir ist nicht kalt!” „So, wir wollen also wieder bocken”, schmunzelte Jens süffisant und da platzte mir der Kragen. „Hör auf, mich immer wie ein kleines Kind zu behandeln!”, schrie ich. Und erntete den Satz, den ich nie beim ihm vermutet hätte „Dann hör auf, dich wie eines zu benehmen!” „Waahhh!” Mit einem lauten Brüller drehte ich mich um und lief lieber aus dem Schlafzimmer, bevor ich mich auf Jens stürzen würde, und rannte die Treppe runter. Eine Tür klappte auf und diesmal war es mein Bruder, der dort heraus schaute. „Kitty, um Gottes Willen, was ist los, warum macht ihr hier

so einen Radau?!” „Niels, seit wann bist du denn schon wieder da?” „Ich-” „Ach egal, geh wieder rein, das geht dich nichts an!”, kürzte ich die Unterhaltung ab und sah natürlich, dass er den Ton nicht so toll fand. Na prima, jetzt hatte ich wahrscheinlich gleich den nächsten Krach am Hals, denn mein Brüderchen konnte genau so in die Luft gehen wie ich. Und wirklich holte er bereits tief Luft, da ertönte hinter mir eine Stimme, seine Stimme, die ich normalerweise so liebte: „Deine Schwester hat recht, bitte Niels, geh wieder schlafen!” Prompt klappte Niels' Mund wieder zu und er zeigte ein geradezu seliges Lächeln. „Ist gut, Jens, wenn du das sagst”, murmelte er und zog sich in sein Zimmer

zurück. Eigentlich hatte der große Blonde mich ja gerettet, aber meines Bruders hündische Ergebenheit machte mich im Moment rasend! Hinter mir hörte ich ein weiteres Geräusch, fuhr herum und schoss mit den Augen giftige Pfeile in Richtung Stan, der auch kurzzeitig seine Nase in den Flur gesteckt hatte, sie nun aber ruckartig zurück zog. Wenigstens einer, den ich mit meinem Blick im Griff hatte! Heftig vor mich hin schimpfend ging ich weiter in die Küche, schnappte mir die Weinflasche und goss mir den Rest ein. Grimmig vor mich hin starrend nippte ich an der schon viel zu warmen Flüssigkeit, die mir gar nicht richtig schmeckte. Allein Jens' skeptischer Seitenblick, als er sich nun in aller Gemütsruhe daran machte, Tee zuzubereiten, brachte mich dazu, noch einmal zu trinken. Bäh!

Widerwillig, weil es einer Niederlage nahekam, schüttete ich den Rest in den Ausguss und hockte mich an die Insel in der Küchenmitte. Herrgott, wie ich jetzt Tinkerbell vermisste … Mit ihrem freundlichen und klugen Wesen wäre sie von einem zum anderen getänzelt und hätte die Stimmung im Nu gehoben! So aber wartete ich stumm darauf, dass Jens im Licht der Notbeleuchtung mit seiner Teezeremonie fertig war und mir meinen Lieblingsbecher zuschob. Mit seiner eigenen Tasse setzte er sich mir gegenüber. „Cat ...” „Jens, bitte, ich versteh überhaupt nichts mehr. Was spricht dagegen, dass ich eine Zeitlang unten aushelfe?!” Seine Hand legte sich warm auf meine. „Schatz, funkel mich nicht so an! Hast du denn schon vergessen, dass wir in einer Woche unsere

gemeinsame Reise antreten wollen?!” „Oh ...” Ja, stimmte ja, unsere Tour durch Südamerika, die erste gemeinsame nach langer Zeit mal wieder, auf die ich mich ja eigentlich tierisch freute. Dafür war auch schon alles eingeleitet, hier brauchte uns im Moment keiner: Stanley würde eh bald wieder aufbrechen, Niels war letztendlich auch schon volljährig und Vince würde ein Auge auf ihn haben, außerdem verstand er sich sehr gut mit Julias Kindern, die ungefähr in seinem Alter waren. Auch im Zoo war alles geregelt, meine Vertretung war eingearbeitet, jetzt im Winter war eh nicht so viel zu tun. Und das war, so schoss es mir durch den Kopf, doch erst recht ein Segen! Ein Zeichen vielleicht sogar?! Ich hatte Zeit und Gelegenheit, meinen alten Freunden zu helfen, die mich darum baten,

besser konnte es doch gar nicht laufen! Ich drehte meine Hand um und umfasste aufgeregt Jens' Finger. „Aber das ist ja um so besser! Du liebe Güte, ich könnte schon in ein paar Tagen starten, der Zoo weiß eh Bescheid, und du könntest sogar mitkommen nach Namibia!” Mein Mann kniff die Augen zusammen, um die sich nun, nach seinem 50. Geburtstag, schon so einige niedliche Lachfältchen tummelten. „Da war ich doch schon. Möchtest du wirklich unsere so schön geplante Reise aufs Spiel setzen? Wir beide, allein auf Abenteuertour quer durch den Amazonas? Heiße Nächte unter freiem Himmel?!”, lockte er und ich schüttelte leicht fassungslos den Kopf. „Jens, verstehst du denn nicht, das ist schon fast keine Frage des Wollens mehr. Ich fühle mich den van der Merwes verpflichtet, die

hatten es eh schon hart genug, nachdem Nick nicht mehr da war ...” Ohne es zu wollen, wurde ich schon wieder lauter. Seine Reaktion war entsprechend. „Ach komm, die werden doch von allen Seiten unterstützt! Dieser Hype um ihre Farm schwemmt ihnen doch ein Haufen Geld in die Kasse und dich haben sie damals auch nur eingestellt, weil du als Anfängerin so billig warst. Da werden sie sich doch einen anständigen Geschäftsführer engagieren können, der ihnen den Laden schmeißt, oder?” Langsam an meinem – oder an seinem – Verstand zweifelnd starrte ich ihn an. „Ähm, Jens, Schatz, du verstehst es wirklich nicht, oder?” Seine Gesichtszüge waren seltsam hart. „Nein, Catherine”, brummte er und zum ersten Mal klang seine Betonung nicht mehr so verlockend

wie sonst immer, „ich kann wirklich nicht verstehen, wie du ein paar Fremde unserer Ehe vorziehen kannst!” Fast konnte ich nicht glauben, was ich da hörte und spürte, wie ich langsam den Tränen nahe war, etwas, dass mich immer ganz wütend macht, denn es ist für mich ein Zeichen der Schwäche. Wahrscheinlich Quatsch, aber damals im Verließ war es das, was mich aufrecht hielt, nicht vor ihren Augen zu heulen … Dementsprechend zitterte meine Stimme auch, als ich sagte: „Jens, du machst mich wahnsinnig! Bitte, auch wenn du sie nicht so gut kennst, es sind meine Freunde und sie brauchen mich!” Für mich war die Sache sonnenklar. Ein Auswärtiger, und mochte er sein BWL-Studium noch so gut abgeschlossen haben, würde nie das

nötige Know-How und das besondere Gespür für die vernetzen Strukturen auf Harnas aufbringen. Und schließlich war ich Tierärztin mit inzwischen reichlich Erfahrung … Jo hatte sich die Sache sicher nicht einfach gemacht, ich kannte sie, wenn sie mich rief, musste es ernst sein. Das alles versuchte ich Jens erklären, doch er sah mich traurig an. „Cat, meine Süße, ich hatte mich aber so auf diese Zeit mit dir gefreut!” Ungeduldig zuckte ich mit den Schultern. „Dann verschieben wir das halt ein paar Monate, was soll's?” „Und wenn ich keine paar Monate mehr habe?!”, sagte er plötzlich laut und ich japste: „Jens! Bist du krank?” „Nein, aber alt!” Das kam so spontan und wirkte auf mich so grotesk, dass ich erst mal ins Lachen verfiel.

Dann sah ich sein Gesicht und stoppte. „Oh, du meinst das ernst, oder?” Jetzt machte er einen Riesenseufzer. „Weißt du, seit diesem Scheiß-Geburtstag letztes Jahr denke ich immer daran, wie jung du doch noch bist ... und ich so alt ... Verdammt, du bist jünger als mein Sohn!“ „Na und? Ich bin auch jünger als die Hälfte der Menschen in dieser Stadt! Und gleichzeitig älter als die andere Hälfte, so what?! Wo ist das Problem?!??“ „Ich ... Ich hab Angst.“ „Angst? Du?! Wovor?“ „Davor, dass du ... oh Mann!“ Er rieb sich mit beiden Händen über sein Gesicht, ließ sie einen Moment dort liegen. Als er sie wieder fort zog, sah er plötzlich im fahlen Mondlicht wirklich älter aus, aber ich wusste, das war nur eine Illusion. Rasch sprang

ich auf, lief um den Tisch herum und schnappte mir eben diese Hände. Da Jens immer noch saß, waren wir in diesem Moment endlich mal auf Augenhöhe, zumindest körperlich. „Hör, mal, du großer Spinner, was machst du dir da eigentlich für krude Gedanken? Ich hätte nie geglaubt, dass ausgerechnet DU so abhängig von einem schnöden Datum sein könntest! 50plus, na und?“ Mit einem müden Lächeln meinte er, das würden alle unter 40 sagen. Zuerst wollte ich lachen, dann sah ich ihn an. „Sag mal, das macht dir wirklich Sorgen, oder?“ Ein zaghaftes Nicken war die Antwort und ich verdrehte die Augen zur Küchendecke, drängte mich dann auf Jens' Schoß. „So kenn ich dich ja gar nicht“, murmelte ich und legte die Arme um seinen Hals. „Was ist denn plötzlich los, hab ich irgendwas gesagt oder getan, das dich

annehmen lässt, was weiß ich, dass der Altersunterschied zwischen uns ein Problem darstellen würde?!?“ Für einen Augenblick presste Jens sein Gesicht gegen meine Brust, seufzte dann. „Ach Cat, das ist  schwer zu beschreiben. Aber glaub mir, ab 40, 45 merkt man die Jahre auf einmal, die man auf dem Buckel hat, selbst wenn man eigentlich gesund ist. Ich hab das selber früher nie glauben wollen und meine Mutter ausgelacht, oder andere Bekannte, die über ihre Zipperlein klagten. He, ich fang langsam an, Verständnis für die Tribünensitzer zu haben!“ Angesichts dieses schockierenden Geständnisses überschwemmte mich eine kleine Welle der Liebe, voller Mitgefühl beim Anblick seines in komischer Verzweiflung verzogenen Gesichts. Er fuhr fort: „Und ich habe auch das Gefühl, dass unser Alltag, der ja eigentlich

gar kein Alltag ist, uns immer weiter auseinander treibt. Ich gebe ja zu, ich bin ein wenig unstet … Tour mit den Jungs, Solo-Tour, meine Reisen, die Fotobände … Und du bist den ganzen Tag im Zoo eingespannt oder machst Fortbildungen. … Und da gibt es, ich hab's ja selbst gesehen, immer einen Haufen knackiger junger Veterinäre …” „Ja, unsere Gang-Bang-Partys in der Futterküche sind legendär ...”, murmelte ich grinsend und Jens knurrte unwillig. Wieder lehnte er seine Wange an meine Haut. „Weißt du denn nicht mehr, wie schwer wir uns schon allein diesen Termin erkämpft haben? Ich will endlich einmal wieder Zeit mit dir”, er nickte plötzlich mit dem Kinn unbestimmt in Richtung der übrigen Schlafzimmer, „mit dir allein verbringen. Dir beweisen, wie sehr ich dich liebe, damit

...” „... damit ich nicht auf den erstbesten Jüngeren springe?”, vollendete ich seinen Satz ungläubig. „Ähm, vielleicht nicht so krass, aber so ungefähr, ja ...” Ich stöhnte. „Jens, das ist … auf welpenhafte Art und Weise süß, aber im Grunde total lächerlich. Lächerlich und total unfair mir gegenüber!” „Unfair?” „Ja, unfair”, jammerte ich. „Du tust ja gerade so, als würde ich auf den nächstbesten hübschen Kerl lauern, um dich so schnell wie möglich zu verlassen! Hab ich dir jemals Anlass dazu gegeben?!” „Nein, aber-” „HAB ich dir jemals Anlass dazu gegeben?!!”, wiederholte ich meine Frage wesentlich schärfer. Jens' Midlifecrisis in allen

Ehren, aber war es nicht gemein, dass er mir so etwas zuzutrauen schien?! „Nein, Cat, das hast du nicht”, gab er zu. „Siehst du … Jens, mein geliebter großer blonder Schutzengel, ich liebe dich über alles und könnte dich nie verlassen! Also Schluss damit.” Ich nahm sein Gesicht in beide Hände und sah ihm tief in die Augen, verlor mich in ihnen. Sicher eine Minute verharrten wir so, bis ich leise „Okay?”, flüsterte, worauf er vorsichtig nickte, weil ich ihn immer noch festhielt. Dafür bekam er einen Kuss, doch plötzlich knarrte hinter uns etwas, die Diele am Eingang der Küche, die zu fixieren noch niemand Zeit gefunden hatte. Dann hörte man ein zischendes Flüstern, so etwas wie „Pass doch auf!” - „Pass doch du

auf!” Seufzend löste ich meine Lippen von seinen und sagte, ohne mich umzudrehen: „Was wollt ihr denn ihr hier?” „Well, ihr Zwei habt euch gestritten und das war ziemlich laut ...” „Jo, und außerdem kennt man das von euch gar nicht … Jedenfalls nicht in dieser, uhm, Dauer.” Da hatte mein Brüderchen wohl recht. Ein Wutgroschen konnte ich noch immer sein, aber das waren nur kurze Ausbrüche. „Und da dachtet ihr, ihr schaut mal nach, bevor wir uns die Köpfe einschlagen?!”, fragte nun Jens amüsiert und ich dachte mir, was macht er sich eigentlich für Sorgen um 'UNS', den exakt den gleichen Satz hatte ich schon auf den Lippen gehabt. In seltener Einigkeit sahen sich die beiden

jungen Männer an und nickten. „Na ja, so ungefähr ...” Jens würde mir sicher von nun an überhaupt nie mehr glauben wie heftig die zwei sich zoffen konnten! Müde ließ ich meinen Kopf in Jens' Halsbeuge sinken. „Hm, Männer, ihr könnt euch abregen, es ist alles wieder gut. Ist es doch, oder, Catherine?” Da war es wieder, diese Timbre, welches mich immer noch vom Kopf bis zu den Zehenspitzen vibrieren ließ … Ich nickte stumm, da stand Jens auch schon auf und hob mich in seine Arme. Nur zu gerne schmiegte ich mich an ihn, während er meinte, wir sollten jetzt alle wieder ins Bett gehen, die Nacht sei eh bald rum. Gehorsam löschten die Jungs die Lichter hinter uns und Jens trug mich hoch in unser Bett. Nun wirklich hundemüde kuschelte ich mich an meinen Mann. Knapp zwanzig Jahre

Altersunterschied, pfff, das mag für Normalsterbliche ein Problem sein, aber doch nicht für ihn! * Am nächsten Morgen wachte ich trotz der kurzen Nacht voller Tatendrang auf, küsste meinen Schatz, ließ den Herren Künstler aber dann noch weiter schlafen. Von den Jungs war ebenfalls noch nichts zu sehen, ich frühstückte rasch eine Kleinigkeit allein und rannte dann beinahe den ganzen Weg zur Arbeit. Die schlechten Nachrichten aus Namibia waren zwar über Nacht nicht besser geworden, aber die Tatsache, dass Jens und ich uns geeinigt hatten und ich in Kürze dort zum Helfen antreten konnte, beflügelte mich ungemein. Aktiv sein, selber etwas organisieren, das war

mein Ding. Schon damals auf der Straße habe ich immer versucht, kein Opfer zu sein und möglichst wenig dem Schicksal zu überlassen. Na gut, in einem Punkt hatte das Schicksal allerdings zugeschlagen und mir einen blonden Schutzengel zugewiesen … Was heißt Schicksal, in Wirklichkeit war es einer von Tonis Schergen gewesen, der mich damals ins Wasser geschubst hatte! Beim Gedanken an meinen einstigen Peiniger lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Man soll ja sowas eigentlich nicht denken …. aber in diesem Fall war ich froh, dass er gegen Ende seiner Haftzeit im Knast gestorben war … Wer weiß, ob ich ansonsten sicher gewesen wäre? Und nach dem Umzug nach Berlin war die Gefahr, meinem leiblichen Kind über den Weg zu laufen, ebenfalls extrem gemindert. Noch

immer spürte ich kein Bedauern über die Adoption, wünschte dem 'kleinen' Mädchen, das inzwischen wahrscheinlich schon auf die weiterführende Schule ging, im Leben nur das Beste. Und vor allem, dass es von dem Scheiß vor seiner Geburt nie etwas erfahren würde! Im Zoo musste ich ja gar nicht groß Bescheid geben, es änderte sich eigentlich nur das Reiseziel, und die Zeit, die wir für unseren Urlaub eingeplant hatten, sollte wohl auch reichen, um das Wichtigste in Harnas zu regeln und die Weichen zu stellen. Allerdings nahm ich mir heute über Mittag ein paar Stunden frei, um vom Computer zuhause aus unsere Reise zu organisieren. Das Stornieren der ursprünglichen Buchungen musste Jens selber übernehmen, darüber hatte ich keinen Überblick. Also organisierte ich alles, Flug nach Windhoek,

ein Mietauto, natürlich einen Jeep, außerdem informierte ich die Farm per Mail, irgendjemand käme ja vielleicht doch mal dazu, das zu lesen; gleichzeitig schickte ich ebenfalls ein Telegramm. Gerade als ich wieder gehen wollte, klingelte das Telefon, als ich dran ging war es Jens, der aber etwas überrascht wirkte. „Cat, du bist zuhause? Ist was nicht in Ordnung?!?” „Nein nein, alles OK”, lachte ich, ich hab nur-” „Puh, dann ist ja gut, eigentlich wollte ich dir auf den AB quatschen, hast du dein Handy nicht an?”, rasselte er hektisch runter und ich realisierte erst da, dass ich das in meinem Büro hatte liegen lassen. „Jedenfalls, Schatz, ich werd heute erst sehr spät nach Hause kommen, stell dir vor, die Galerie will mir vorschreiben, welche Bilder wo hängen ...” Ich lachte einmal kurz auf. Klar, das konnte sich

seine Künstlerseele natürlich überhaupt nicht gefallen lassen. Das konnten sie vielleicht mit einem Anfänger machen, aber doch nicht mit ihm, seiner Meinung nach, und ich finde, da hatte er Recht! „Gut, dann weiß ich Bescheid. Zeig's ihnen, mein Großer!” „Danke! Ich wusste, du hast dafür Verständnis!”, seufzte er erleichtert und hatte auch schon wieder aufgelegt. Es war wirklich sehr spät in der Nacht, als ich spürte, dass sich jemand aufs Bett setzte und richtete mich auf. „Sht Süße, schlaf weiter”, flüsterte Jens, „ich geh nur noch schnell duschen.” „Nein lass das”, murmelte ich verschlafen, „ich riech dich doch gern so”, und streckte die Hände nach ihm aus. Mit einem kleinen Brummen nahm er mich in seine Arme, in die ich mich selig kuschelte.

Nach ein paar Minuten stand er zwar doch noch kurz auf, um sich wenigstens die Zähne zu putzen, kam dann aber gehorsam sofort wieder ins Bett. Dementsprechend war ich am nächsten Morgen wieder als erste auf, diesmal traf ich wenigstens Stan in der Küche. Als ich ihn sah, kam mir eine Idee. Er würde ja auch bald abreisen, aber leider war Jens so schrecklich beschäftigt. Deswegen schlug ich ihm vor, seinen Vater doch einfach zu fragen, ob er ihn heute mit in die Galerie begleiten durfte. Ich hoffte, Jens würde sich über das Interesse seines Sohnes freuen und ihn nicht als Balast empfinden … Na, darüber konnten mir die Beiden ja dann beim Abendessen berichten.


Dachte ich.

3. Kapitel

Denn diesmal wurde es bei mir spät. Oder früh, je nachdem ... Aber eigentlich war es ein Grund zur Freude, ganz klar, denn ich hatte schon gedacht, das Ganze würde erst in meiner Abwesenheit passieren. So aber entschloss sich unsere Giraffendame Koobi nach 17 Monaten Tragezeit nun doch schon in dieser Woche, ihr Kalb zu bekommen! Sogar der Reviertierpfleger des Giraffenhauses und alter Hase Thomas Messinger war aufgeregt, als er die ersten Anzeichen meldete und mich holen ließ. Koobi, für die es die erste Geburt werden sollte, lief extrem unruhig in ihrem Stall herum, ließ sich aber durch die Trennstäbe vorsichtig untersuchen. Vielleicht taten ihr die sanften Berührungen gut, denn die Kontraktionen konnte man fast mit bloßem Auge

sehen! Doch trotzdem ließ sich die Gute dann als typische Erstgebärende sehr viel Zeit und es dauerte noch etliche Stunden, bis die Austreibungsphase begann. Die ganze Zeit über war jemand von uns anwesend, auch Dr. Jarofke, der für meinen Urlaub aus seinem Ruhestand reaktiviert worden war und meinen Vertreter, Dr. Mühlen, unterstützen würde. Letzterer würde sogar wie schon Dr. Jarofke aufs Gelände ziehen, in die Dienstwohnung zwischen Robben- und Zebragehege. Das zu tun hatte ich bei meiner Einstellung verweigert, ich wohnte nah genug, um auch Nachts im Notfall schnell genug da zu sein. Zum Glück dachte auch jemand aus dem Team an uns und versorgte uns mit belegten Brötchen, heißem Kaffee und Tee. Jens hatte

natürlich Verständnis gehabt, als ich ihn kurz telefonisch informierte, er wusste, wie sehr mich jede Geburt dieser seltenen Tiere freute. Schließlich ist die gerade bei den Giraffen immer eine doppelt aufregende Angelegenheit, weil das Kalb als erstes mal rund zwei Meter abwärts auf den Boden plumpst, wenn es geboren wird. Das einzige, was man da tun kann, ist, eine möglichst dicke Schicht Stroh auf den Boden zu bringen; die darf aber wieder nicht zu hoch sein, dass sich die Mutter nicht mehr bewegen könnte … Da kann der Zoo wirklich stolz auf seine Leute sein, denn die hatten die nötige Erfahrung, um das genau richtig zu machen. Und es ist wirklich so ziemlich das einzige, was wir vor Ort tun können, denn bei der Geburt an sich helfen oder eingreifen wie bei einem Pferd oder einer Kuh konnte man hier nicht. Nur beobachten und für den absoluten Notfall das

Nötige parat haben …. Aber Koobi hatte Glück, genauso wie ihr Kalb: Um 3:43 Uhr plumpste ein gesundes kleines Giraffenmädchen ins Stroh und wurde sofort von seiner Mutter abgeleckt, worauf es sich auch bald regte. Schon 40 Minuten später übte es sich das erste Mal im Aufstehen, was bei jetzt schon so elend langen Haxen gar nicht so einfach war! Aber was sollte die Kleine machen, der Hunger und die Instinkte trieben sie hoch und im fünften Anlauf schaffte sie es, schwankend stehen zu bleiben und dann sogar zur Mama hin zu staksen. Wir mussten uns echt zurück halten, nicht laut zu jubeln! Als das Baby zum ersten Mal trank, gönnten auch wir uns reihum einen Schnaps und stießen auf die erfolgreiche Geburt an. „So, jetzt lassen wir die Zwei sich erst mal in Ruhe kennen lernen, die Grunduntersuchungen

können wir morgen machen”, bestimmte ich und sah auch den Veteranen unter uns Tierärzten zustimmend nicken. Obwohl er ja etliche Jahre mehr an Erfahrung auf dem Buckel hatte, war er immer wenn er aushalf so zurückhaltend, meine momentane Führungsposition zu respektieren. Er war es auch, der mich rasch nach Hause fuhr, seine Ritterlichkeit verhinderte dann doch, dass er eine Frau um diese Uhrzeit alleine durch die Straßen gehen ließ. Diesmal zog es mich unter die Dusche, so toll riecht Giraffenstall nun auch nicht, dann kroch ich todmüde zu Jens ins Bett. Der brummte nur und machte Platz, damit ich mich an ihn kuscheln konnte, dann war ich auch schon weg. Und wachte erst auf, als mich Sonnenstrahlen an der Nase kitzelten, was im Winter nun mal erst spät der Fall war, aber klar, ich hatte mir

den Wecker absichtlich nicht gestellt. Und natürlich war der Platz neben mir schon leer, dafür fand ich einen Zettel von Jens, auf den er mit seiner gestochenen Handschrift geschrieben hatte: – Guten Morgen, meine fleißige kleine Geburtshelferin. Dein Baby ist schon in den Morgennachrichten im Radio, herzlichen Glückwunsch! Leider werde heute schon wieder ich am Abend nicht da sein, aber wenigstens hab ich mich mit der Galerie einigen können. Danke für deine Idee, Stanley mitzunehmen, unserem geballten Charme konnte die alte Schachtel nicht widerstehen :-) Aber jetzt müssen Sabine und ich uns natürlich arg beeilen, alles für morgen

Abend für die Vernissage vorzubereiten, bitte vergiss den Termin nicht! Ist ja gleichzeitig unser Abschiedsabend hier in Deutschland. Geliebtes Kätzchen, du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich freue, demnächst mal mehr Zeit mit dir zu verbringen! In Liebe Dein 'Retter' Jens – Ein bisschen musste ich schmunzeln, als ich seine Zeilen lass, so schrecklich viel Zeit würde ich anfangs nicht für ihn haben, aber er ahnte sicher, dass die Nächte ganz ihm gehören

würden. * Natürlich wurde es am letzten Tag im Zoo noch einmal so richtig hektisch, ich hatte ständig das Gefühl, bei der Übergabe an Dr. Mühlen was vergessen zu haben und ich gebe zu, manche Schützlinge ließ ich nicht gern allein. Doch es gab im Moment andere dort in Afrika, die meine Hilfe dringender brauchten, das half mir, mich zu verabschieden, außerdem war ich ja nicht für ewig weg. Eine Dusche verhalf mir zu neuer Energie und ich machte mich, während die Jungs ungeduldig mit den Hufen scharrten, extra schön für diesen Abend, schminkte mich sorgfältig und schlüpfte

ins kleine Schwarze, das elegant meinen Körper umspielte und eine interessante Rückenansicht frei gab. Damit drehte ich mich einmal stolz vor Niels und Stanley, die auch brav applaudierten. „Katy, du siehst toll aus!”, lobte mich mein Stiefsohn und mein lieber Bruder fügte an: „Stimmt, Kitty, ist doch ein Wunder, was Make-Up kann, vorhin als du kamst hab ich noch gedacht, au weia! Aber jetzt schaust du nicht mehr so müde aus.” Ach ja, Geschwisterliebe, mein Brüderchen war ja mal wieder überaus charmant! „Na herzlichen Dank”, murrte ich. Aber in einem hatte er ja Recht, müde war ich nach dieser Woche schon. „Es gibt ja noch Leute, die arbeiten müssen, sorry, dass ich da mal müde ausschaue! Aber morgen kann ich ja ab Frankfurt im Flieger

pennen.” Stan grinste und bot mir galant seinen Arm. „Hör nicht auf den Kleinen”, sagte er, was ihm wieder mal ein wütendes Schnaufen einbrachte, „du siehst immer toll aus. Und wenn du morgen erst mal 14 Stunden geschlafen hast, kannst du ja nicht anders, als fantastisch ausschauen!” Lachend hakte ich mich ein. „So ist es recht. Aber ganz so ein Dauerschlaf wird’s dann doch nicht, ich kenn die Strecke ja, der Flieger braucht bis Windhoek nur knappe 10 Stunden.” Seine Augenbraue zuckte in einer nur zu bekannten Art und Weise nach oben und er fragte „Windhoek? Wieso Windhoek?!?” Mein Stiefsohn, der ja eigentlich sogar etwas älter war als ich, guckte immer noch fragend und ich runzelte kurz die Stirn. „Ja klar,

Windhoek!” Dann fiel mir ein, dass die letzten Tage für uns beide, Jens und mich, doch extrem anstrengend und hektisch gewesen waren und dass die Jungs anscheinend noch nicht über die Änderung unserer Pläne informiert waren. Was ja auch nicht so schlimm war, denn de facto würde sich dadurch für sie gar nichts ändern. Deswegen fuhr ich fort, während wir die Treppe runter gingen: „Habt ihr wahrscheinlich nicht mitgekriegt, aber ich muss überraschend nach Namibia, auf meiner alten Wirkungsstätte gibt’s Probleme, da muss ich helfen.” „Ja aber”, warf nun Niels ein, „ihr wolltet doch nach Südamerika?” „Niels”, antwortete ich geduldig, „das versuche ich ja gerade zu erklären, das Reiseziel hat sich halt geändert!” „Echt?” Stan schien sehr überrascht. „Echt!”, gab ich zurück und verdrehte die

Augen. „Komisch”, meinte Niels und murmelte „ich könnt schwören, dass ich die Tickets für Buenos Aires gestern noch auf Jens' Schreibtisch gesehen hab ...” In diesem Moment hupte das Taxi und ich scheuchte meine Begleiter vorwärts. „Ja, ich weiß, aber vielleicht braucht man das heute beim Stornieren nicht mehr, sie zurückgeben”, grübelte ich halblaut vor mich hin. Oder er hatte keine Zeit zum Zurückgeben gehabt, na, das würde knapp werden, denn eigentlich sollte es morgen ganz früh mit dem ersten Flug nach Frankfurt los gehen, Schlafen war tatsächlich für diese Nacht keine Option, weil wir noch Packen mussten! Egal. „Aber jetzt macht hinne!”, scheuchte ich die Männer zum wartenden Taxi, dessen Tür mir Stan dann

aufhielt. Bei der Ankunft erinnerte sich auch mein Bruder an seine guten Manieren und hielt mir die Tür auf, an seinem Arm betrat ich dann auch die Galerie. Noch war nicht viel los, um so eifriger stürzten sich die vereinzelt anwesenden Fotografen auf uns, so dass ich froh war, mich zurecht gemacht zu haben. Es handelte sich hauptsächlich um ein paar Journalisten aus dem Bereich der Fotokunst, da Rollen D. Rubel ja inzwischen mit dieser dritten Ausstellung ein gewisses Renommee erworben hatte, dazu natürlich welche aus der Musikbranche und die üblichen lokalen Boulevardreporter. Es war inzwischen eine Art offenes Geheimnis, dass Rollen D. Rubel verheiratet war, das sah man allein schon am Ehering, den er offen trug. Und auch, wenn wir zusammen 'erwischt'

wurden, verhielten wir uns ganz normal, das war ein guter Tipp seines Bandkollegen Pfanni gewesen. Der hatte in einem Interview mal sinngemäß gesagt, dass er es überhaupt nicht einsehe, wegen dieser ständig um ihn herum kreisenden Hyänen auf ein normales Verhalten zu verzichten geschweige denn, sich einen spontanen Kuss zu verkneifen, wenn ihm einfach danach war! Gut, knutschen würden wir vor der Kamera sicher nicht, aber man hatte uns schon händchenhaltend abgelichtet. Jedoch verweigerte Jens einfach standhaft jeden Kommentar dazu in Interviews, so dass sich die Reporter meistens voller Begeisterung auf mich stürzten, wenn wir mal zusammen in Erscheinung traten. Das machte mich immer noch nervös und ich war froh, heute nicht allein hier lang zu

marschieren, fühlte mich in dem Blitzgewitter schrecklich unwohl. Natürlich kannten sie inzwischen auch meinen Namen und wahrscheinlich würde am nächsten Tag vor allem den Altersunterschied thematisiert werden. War Jens deswegen auf so dumme Gedanken gekommen, die ihn seit seinem Geburtstag umtrieben …? Aber die würde ich ihm schon austreiben in den nächsten Tagen und Wochen! Vielleicht wegen dieser Aussichten glühte ich auf den Fotos von der Eröffnung regelrecht von Innen heraus, als ich am Arm meines Bruders über den roten Teppich schritt. Wie eigentlich immer zu diesen Gelegenheiten war Jens fast schon trotzig lässig gekleidet, eine Bundfaltenhose zum schwarzen Hemd war sein einziges Zugeständnis an die Feierlichkeit.

Er wusste, dass ich seinen Hintern in dieser Hose liebte und hatte sie vielleicht deswegen gewählt, mein Herz machte einen kleinen Hüpfer, als ich ihn dort umrahmt von den üblichen Verehrerinnen stehen sah. Und auch Jens' Augen leuchteten auf, als er mich sah und sich von der Gruppe löste. Er begrüßte mich mit einem Küsschen auf die Wange, flüsterte mir dabei ins Ohr „Du siehst hinreißend aus!”, was ich mit einem kleinen Kieksen wie ein nervöser Teenager quittierte. „Du solltest erst mal den Rücken sehen”, raunte ich zurück und instinktiv legte er die Hand darauf, spürte prompt nur nackte Haut und keuchte einmal leise. Dann flüsterte er etwas und ich verstand soviel wie „Hoffentlich gibt es gute Hotels am Flughafen, länger werde ich es nicht aushalten, egal wie viele Pesos es kostet!” „Dollar”, korrigierte ich automatisch und er

zuckte mit den Schultern, da wurden wir auch schon wieder unterbrochen, von Sabine, die mich herzlich begrüßte. Sie strahlte vor Stolz über das Aufsehen, welches diese Vernissage verursachte. Mit dieser Ausstellung war Rollen D. Rubel endgültig im Olymp der bildenden Kunst angekommen und an deren Zustandekommen war sie maßgeblich beteiligt. Deswegen erwiderte ich ihre Umarmung genau so herzlich und nickte lachend, als sie dem Kellner winkte und meinte, wenigstens ich würde ja sicher stellvertretend für meinen Mann mit einem Glas Sekt mit mir anstoßen. Auch meine Begleiter wurden versorgt, dann wurde Jens schon wieder mit Beschlag belegt. Er zog überraschend meine Hand zu einem Handkuss heran und wisperte „Schaut euch ein bisschen um, ich hab nachher noch eine

Überraschung für dich!” Wir zogen uns ein Stück zurück, wanderten durch die Ausstellung, zu der uns Stan einiges erzählen konnte, er war ja zum Teil dabei gewesen, als Jens sie positioniert hatte. Ich dagegen konnte zum einen oder anderen Foto etwas über seine Entstehungsgeschichte erzählen oder warum er es ausgewählt hatte, vieles davon hatte er mit mir geteilt. Witzig waren immer die kleinen technischen Schildchen, die ganz genau Auskunft darüber gaben, mit welcher Kamera, welchem Objektiv, welcher Blende, welcher Belichtungszeit etc. etc. das Foto aufgenommen worden war, das hätte für mich auch chinesisch sein können! Aber den meisten Fotografen würde es sicherlich auch bei der anatomischen Beschreibung eines Gibbonarmes so

gehen. Plötzlich hörten wir das Klingen eines Löffels an einem Sektglas und eilten zu der kleinen Bühne zurück, denn nun begann der offizielle Teil. Es war diesmal wesentlich feierlicher als beim ersten Mal und es wartete auch ein üppiges Buffet auf die Gäste. Zu Wort kamen zunächst jemand von LUMAS, dann die Galeristin und zuletzt durfte der Künstler selber etwas sagen. Mit einem strahlenden Lächeln begrüßte er die Anwesenden, die heute übrigens nur auf Einladung hier waren, ein generelle Öffnung hätte sämtliche Kapazitäten überlastet! „Ich freue mich sehr, hier mit Ihnen einiges von dem, was mir auf meinen Reisen begegnet ist und was mich bewegte teilen zu können. Ja, man kann sagen, ich bin überaus privilegiert.

Denn ich bin in der glücklichen Lage, meinen zwei, nein, inzwischen drei Lieblings-Hobbys nachgehen, Musik machen, Reisen und dabei fotografieren. Unglaublich, dass ich für eines davon auch noch Geld bekomme!” Das Publikum lachte, denn die meisten wussten ja, was er meinte. Sämtliche Einnahmen bzw. die Reinerlöse seiner Bilder und Bücher spendete er an diverse Organisationen. Dass darunter seit vielen Jahren auch das Abendroth-Haus in Hamburg dabei war, wusste nur ich. Jens fuhr fort „Aber insgesamt verdanke ich meine Zufriedenheit auch der Tatsache, dass ich immer den Rücken frei habe. Und das verdanke ich jemandem, der immer an mich geglaubt hat und den bzw. die ich euch heute endlich einmal offiziell vorstellen möchte ...” Ein Raunen ging durch die Menge. „... damit all

diese Gerüchte und dummen Fragen endlich einmal ein Ende haben. Darf ich vorstellen-” Meine Augen suchten Sabine, wahrscheinlich würde er nun ihr die gebührende Anerkennung zollen und ich freute mich für sie. Plötzlich stupste mich Niels in den Rücken. „Na los!” „Was?” „Er meint dich, du Tüffel!”, schmunzelte er und erst jetzt registrierte ich, dass Jens seine Ansage mit „-meine Frau!”, beendet hatte. „A-Aber”, stammelte ich, während Jens eine Hand ausstreckte und wiederholte „Komm her Schatz, zeig dich!” Vor mir bildete sich eine kleine Gasse und ich hatte gar keine andere Wahl, als auf die kleine Bühne zu zu staksen, wo mich Jens in Empfang nahm und mich kurz umarmte, bevor wir uns dem Blitzlichtgewitter stellten. „Jens, du bist verrückt!”, zischte ich leise, aber

er drückte mich mit der Hand, die er um meine Schulter gelegt hatte und sah mich an. Mit einem wundervollen Lächeln, das eindeutig nur für mich und nicht für die Fotografen bestimmt war. Mein Herz klopfte bis zum Hals und allmählich überwog die Freude der Nervosität über diese verrückte Geste. „Verrückt, ja, nach dir! Du hast es verdient und eigentlich wissen doch eh schon alle Bescheid.” Er gab mir ein kleines Küsschen, nein, nicht auf die Wange, sondern auf den Mund, und beinahe hätte ich ihn gefragt, ob er nicht vielleicht doch an einem Sektglas genippt hätte! „Danke”, wisperte ich zurück, „aber du bist ja richtig überdreht!” „Warum auch nicht, ich hab dich, diese Ausstellung und ich dachte mir, das ist der ideale Zeitpunkt, weil wir ja morgen weg fahren, da kriegen wir den Pressesturm nicht so mit. Wenn wir in ein paar Wochen aus

Südamerika zurück kommen, interessiert sich kein Schwein mehr für uns.” Ich stemmte mich ein Stückchen von ihm weg und sah zu ihm hoch. „Ich hör immer nur Peso und Südamerika, hast du ganz vergessen, dass wir morgen erst mal nach Afrika fliegen?!” Sein Gesicht versteinerte. „Afrika? Ich dachte, diese Verrücktheit wäre vom Tisch und wir hätten uns geeinigt?” „Ja, natürlich; auf Namibia, Harnas, was denn sonst?!”, keuchte ich entsetzt. Jens' Lippen kräuselten sich, während er mich ungläubig anstarrte. Ich hasse noch heute die Fotos, die diesen und die nächsten Momente festhielten. „Jetzt sag bloß du hast geglaubt, wir würden morgen nach Windhoek

starten?” „Ja natürlich, was denn sonst?”, wiederholte ich fassungslos. Eine Literatin war nun mal nicht an mir verloren gegangen. „Wir hatten doch-” Ja, was eigentlich? Maßlos verwirrt rief ich mir jene Nacht ins Gedächtnis. Jens hatte mir seine grundlosen Ängste wegen unserer Geburtsjahrgänge gestanden und ich hatte ihm klar gemacht, dass das für mich keine Rolle spielte und ich sicher nicht deswegen nach Harnas abhauen wollte statt den sorglosen Urlaub mit ihm zu machen. Und danach war für mich klar gewesen, dass wir unsere Pläne änderten, auch wenn wir in den ganzen Tagen kaum ein weiteres Wort miteinander gewechselt hatten. Ein großer Irrtum, wie es

schien! Immer noch unter den Blitzen der zahlreichen Fotos sahen wir uns an und auch in Jens' Blick entdeckte ich eine ähnliche Verzweiflung, wie ich sie gerade fühlte. „Wir hatten uns doch geeinigt”, flüsterte ich leise. „Ja, auf unseren Urlaub!”, gab mein Mann zurück und ich warf den Kopf hoch. „Nein!” „HEY!”, hörten wir einen extrem lauten Ruf, „SCHAUT MAL ZU UNS, IHR TURTELTÄUBCHEN!”, das kam aus den Reihen der Reporter. Reflexartig wandten wir uns der Masse zu und setzten ein Lächeln auf. „Jens, ich”, krächzte ich, „ich hab schon alles arrangiert, Jo und Nick wissen Bescheid ...” „Sht”, machte Jens und küsste mich lächelnd noch einmal auf die Wange, „darüber sprechen

wir dann später.” Für einen Moment war ich erleichtert, doch er fügte plötzlich an „Ich bin sicher, sie werden Verständnis haben ...” „Wofür?”, wisperte ich. „Na, wenn du morgen früh absagst-”, erwiderte er selbstgefällig und ich hatte das Gefühl, als würde etwas in mir zerbrechen. Ich stieß mich ab, zischte leise, nur für ihn hörbar „Vergiss es! Nur über meine Leiche!” Laut sagte ich „So, ich denke, das reicht nun, die Leute haben Hunger. Das Buffet ist eröffnet!” Dann flüchtete ich regelrecht von der kleinen Plattform, die Leute würden es mir eh als Schüchternheit auslegen. Direkt hinter mir schob sich die Menschenmenge wieder zusammen und ich hörte, wie Jens mit Fragen

bestürmt wurde, zum Teil über seine Arbeit, zum Teil über sein überraschendes 'Outing'; selbst schuld! Ich floh in den hinteren Bereich der Galerie, wollte einfach nur allein sein, schnappte mir unterwegs ein weiteres Glas von einem der herum gereichten Tabletts. Neben den Toiletten war ein kleiner Hinterausgang, durch den ich in den kleinen Garten rauschte und tief Luft holte. Am liebsten hätte ich laut geschrien, um all die wahnwitzigen Gefühle in mir raus zu lassen, registrierte jedoch im letzten Moment, dass ich nicht allein war. Einer der Kellner, der hier anscheinend grad Pause machte, starrte mich erschrocken an, die Hand mit der gerade angerauchte Zigarette auf halbem Weg zum Mund eingefroren. „Tschuldigung, darf ich mal?”, überrumpelte ich ihn, wartete seine Antwort nicht ab sondern

pflückte ihm den Suchtstengel ohne weitere Umschweife aus der Hand und nahm einen tiefen Zug. „Ähmm, Sie können die auch gern behalten”, stammelte er und ich brummte nur „Danke”, gönnte mir gleich den nächsten Zug. Das Ganze war dem Guten dann anscheinend doch zu seltsam und er verschwand wieder drinnen, ohne seine Packung noch einmal zu zücken. Nun war ich allein, mit dem leichten Schwindel, der sich prompt wegen der starken Zigarette einstellte. Mit einem tiefen Seufzer warf ich das Ding auf den Boden und zertrat die Glut mit meinen schönen Schuhen, gerade als neben mir die Tür aufging und Jens herauskam. Unwirsch drehte mich von ihm fort, um mich zu fassen, schauderte leicht in der Kälte der Nacht, aber nicht nur deswegen.

Was war das gerade eben gewesen, er wollte noch immer nicht, dass ich auf Harnas aushalf?! Ich spürte, wie er hinter mich trat und mir eine Jacke über die Schultern legte. Das erinnerte mich so an damals, als er mich hinter dem Lokal ebenfalls beim Rauchen erwischt hatte, dass es mir die Tränen in die Augen trieb. Ja, da war er ein Beschützer gewesen, ein Pfeiler im Strudel der Umstände, den ich zu jener Zeit dringend gebraucht hatte, auch wenn ich mich lange dagegen gewehrt hatte. Aber jetzt war ich doch schon groß, ich brauchte – und dachte die ganze Zeit, ich hätte ihn! – einen Partner, keinen Vormund!! Genervt schüttelte ich das sentimentale Gefühl ab, drehte mich wieder zu Jens um. Er stand

eindeutig zu nah bei mir, so würde es keine vernünftige Diskussion geben, deswegen rückte ich ein Stück von ihm ab. Ein trauriger Ausdruck lief über sein Gesicht und er setzte seinen Hundeblick auf. „Können wir reden?”, fragte er leise, freundlich … ja, eigentlich viel zu siegesgewiss. „Reden?”, fragte ich bissig, denn ich ahnte, worauf das hier hinaus laufen sollte. „Darüber, dass wir uns anscheinend grob missverstanden haben”, schmunzelte er, aber ich stieg nicht darauf ein, ergänzte nur „und dass du mich jetzt auf Kurs bringen wirst, was?” „Nun ja, Kitty, ich dachte-” „Nix da Kitty!”, brauste ich auf. Damit wollte er mich anscheinend wirklich klein halten! „Nenn mich bei meinem richtigen Namen, ich bin kein kleines Kätzchen

mehr!” „Den Eindruck habe ich auch”, knurrte er und verschränkte die Arme vor seiner Brust. „Okay, Cathy, Schatz, jetzt mal ernsthaft: Wir beide haben diesen Urlaub seit fast einem Jahr geplant und ich möchte dich daran erinnern, wie schwer es war, uns dabei zu koordinieren. Wir beide arbeiten seit Jahren fast ununterbrochen, wir sind vor 3 Jahren hierher umgezogen und haben noch immer unausgepackte Kartons im Keller. Es war unheimlich schwer, das zu planen und nun willst du das einfach so dran geben?” „Ich geb es ja nicht dran!”, begehrte ich auf. „Ich fühle mich nur dazu verpflichtet, es zu verschieben, um alten Freunden in der Not beizustehen.” „Aber wann anders wirst du wahrscheinlich nicht weg dürfen!” „Jetzt tu nicht so, als wäre ich der

Problemfaktor in dieser Planung gewesen!” „Na, es hat viel Zeit und Überredungskunst gekostet, dich vom Zoo für diese lange Zeit loszueisen, oder?” °Ganz ruhig!°, mahnte mich meine innere Stimme, aber ich konnte nicht anders, was er sagte, regte mich einfach auf. „MICH loszueisen? Ich glaub es hackt! Es ist nun mal für den Normalbürger nicht üblich, drei Monate am Stück Urlaub zu machen, da muss man schon mal Kompromisse eingehen. Darf ich dich daran erinnern, wie schwer es dir gefallen ist, deine letzte Reise zu verkürzen um die Eröffnung hier vorzuziehen?” „Na gut”, er warf einmal genervt den Kopf in die Höhe, das brachte mich noch mehr in Rage, ebenso wie die Art wie er nun langsam weiter sprach, geduldig wie mit einem kleinen Kind. „Aber jetzt sei auch mal vernünftig,

ja?” „Vernünftig?”, grollte ich, eigentlich müsste Jens den Sturm, der sich hier zusammenbraute, auch aufziehen sehen. „Jens, was bitte ist unvernünftig daran, wenn ich ein altes Versprechen einlösen will? Mir tut es auch leid, dass wir unsere Ferien verschieben müssen, aber verstehst du denn nicht, dass ich einfach dort hin MUSS?!? Ich hab alles schon gebucht für uns, ich dachte, du kümmerst dich um den Storno der anderen Reise ...” Meine Stimme versagte kläglich. Wie hatte ich mich nur so in ihm täuschen können? Warum verstand er mich nur nicht?!? „Und wir wären doch trotzdem zusammen, ein anderer Kontinent, ja, aber auch schön warm und Sommer ...” Schließlich liebte ich ihn, trotz der Wut, die so allmählich mein Denken

überlagerte. „Catherine, das wäre nicht das Gleiche. Du würdest den ganzen Tag arbeiten und ich würde mich die ganze Zeit langweilen, fest gebunden an ein- und denselben Ort.” „Ja, Mr. Unstet muss ja immer weiter ziehen, auf Reisen, auf Tour ...”, höhnte ich, stinksauer über seinen Egoismus. Ich spürte, wie ich am ganzen Körper zitterte, und das beileibe nicht wegen der Kälte! „Eine Tour ist nun mal notwendig, bei all dieser Downloaderei ist es das einzige, was noch Hand und Fuß hat”, verteidigte er sich. „Du schaffst es wirklich, dich noch als Opfer hin zu stellen”, rief ich wütend. „Dabei bist es doch du, wegen dem wir so ein enges Zeitfenster haben. Du kannst es ja gar nicht abwarten, im Herbst die Promo zu machen und dann mit deinen Weibern auf Tour zu gehen,

vorher machst du Promo … Wo ich dabei bleibe, ist dir dabei doch auch immer egal!” Jens kniff die Augen zusammen. „Meine Weiber … ? Du meinst-” Was sollte ich schon meinen, er hatte sich ja bewusst dafür entschieden, weiblichen Musikern eine Chance zu geben – und dabei hatte ich ihn sogar unterstützt! „Ja klar, Janet, Claudia, Babsi und wie sie alle heißen”, zählte ich trotzdem ätzend sein sogenanntes Noten-Harem auf. „Und weißt du was?” „Was?”, fragte er zurück, schnarrend, mit zusammen gekniffenen Augen. Oh oh, ich spürte, wie sich hier Dinge Bahn brachen, die offenbar schon lange in mir geschlummert hatten. Aber ich konnte es nicht stoppen, zu sehr schmerzte es mich in diesem Moment, dass der 'Angriff' auf seinen Harem ihn

mehr zu interessieren schien als meine Einsamkeit. „Junge, langsam glaube ich, du hast es wirklich nötig. Benimmst dich wie ein alter Sack in der Midlifecrisis, der sich mit lauter jungen Mädchen umgeben muss, um sich wie ein Mann zu fühlen! ...” Oh Gott, hatte ich das gerade wirklich gesagt?!?? Offenbar ja, denn mein sonst so wortgewandter Mann starrte mich mit offenem Mund an, bevor er ihn zuklappte und die Lippen aufeinander drückte. „Aha”, presste er hervor und sah mich böse an. „Oh Gott, Jens“, stammelte ich den Tränen nah, „das wollte ich nicht sagen, das hab ich nicht so gemeint ...“ Und doch war es mir heraus gerutscht. Warum musste er sich auch so komisch benehmen und über sein Alter klagen? Warum

musste er mich plötzlich wie sein Eigentum behandeln, über das er beliebig verfügen und dann wieder in die Ecke stellen konnte?!? Er antwortete nicht, blies nur dicke Atemwolken aus seiner Nase, was ihm das Aussehen eines wilden Stiers gab. Würde er gleich explodieren? Ja, sollte er ruhig, sollte er ruhig in die Luft gehen, mich übers Knie legen, mich dann unter Tränen um Verzeihung bitten und schließlich eingestehen, dass er falsch gelegen hatte und wir natürlich nach Namibia reisen würden ...! Und ich würde ihm verzeihen, mich entschuldigen und mich in seine Arme schmiegen ... Aber er schwieg noch immer. „Liebling ...  Jens, es tut mir leid, das musst du mir glauben“, setzte deswegen ich noch einmal an.

Er nickte in Zeitlupe, streckte einen Arm aus und legte seine Hand zärtlich an meine Wange. Dann lächelte er. „Okay, ist in Ordnung. Wir sind wohl, ähm, beide etwas überdreht.“ Diese Platitüde half mir nicht wirklich weiter. Aber mein Mann, doch eigentlich mein bester Freund, war anscheinend soweit einsichtig, dass nicht ich das alleinige Problem hier war. Vielleicht konnten wir ja doch noch mal in Ruhe– In diesem Moment sprang die Tür wieder auf und Sabine kam heraus gestürmt. „Ah, Rollen, hier bist du ja! Wir suchen dich schon überall, du wirst drinnen dringend gebraucht! Stell dir vor, Frederic Streicher ist hier und möchte mit dir sprechen!!“ Jens brummte ungehalten und ihr Blick fiel auf

mich. „Ach Catherine, Schätzchen, du bist auch hier, ach ihr zwei Turteltäubchen. Aber tut mir leid“, säuselte sie dann, „ich muss dir deinen Göttergatten für einen Moment entführen. Du hast ihn ja oft genug für dich allein!“ Damit hatte sie Jens schon am Arm gefasst und zerrte ihn hinter sich her, während ich verzweifelt krächzte „Na eben nicht!“ Ich hatte Jens so gut wie nie für mich allein und auch jetzt war wieder alles andere wichtiger als ich, ließ er sich doch bereitwillig mitschleifen. Aus dem Türrahmen heraus warf  er mir noch schnell ein hastiges „Wir reden später weiter“, zu, dann fiel die Tür auch schon hinter ihm ins Schloss. Sicher, wahrscheinlich war ich gerade unfair, kindisch, egoistisch; das hier war nun mal seine Vernissage und er wollte, musste sich eigentlich

sogar um die Gäste kümmern. Aber in erster Linie war ich verzweifelt, denn ich hatte seinen Blick gesehen ... Dieses ‚Wir reden später’ hieß eigentlich: ‚Du wirst schon machen, was ich will!’! In seinen Augen hatte ich es gesehen, nämlich, dass es, egal wann und wo wir miteinander sprechen würden, dabei bleiben würde: Jens würde nicht mit nach Harnas kommen.

4. Kapitel

Was anschließend passierte, konnte ich selber später nur mühsam rekonstruieren. Ich glaube, ich drehte mich auf dem Absatz um und rannte wie von Furien gehetzt in Richtung Straße. So richtig erinnern kann ich mich nur an eine Art glutroten Nebel vor meinen Augen, sowie an ein tiefgreifendes Gefühl der Verzweiflung. Genau weiß ich es nicht mehr, denn ich wurde erst wieder klarer, als der Schaffner im Nachtzug mich ansprach. „Wohin ich will?”, wiederholte ich, das hatte er mich anscheinend gefragt. „Nach Frankfurt, bitte”, flüsterte ich und er fragte entnervt „Was?” „Nach Frankfurt”, wiederholte ich fester, starrte ihn an oder besser durch ihn hindurch, während er mir die Fahrkarte ausstellte und meine Kreditkarte durch seinen Leser zog. Er

drückte mir das Ticket in die Hand und musterte mich noch einmal mit seltsamen Blick, räusperte sich dann. „Wenn was sein sollte, mein Dienstabteil ist zwei Wagons ins Fahrtrichtung”, verabschiedete er sich dann. „Ähm, ja danke”, antwortete ich und ließ mich erschöpft in das weiche Polster sinken. Ein kalter Luftzug ließ mich erschauern und ich merkte plötzlich, was ihn anscheinend so irritiert hatte: Ich trug immer noch das rückenfreie Abendkleid und hatte auch nur Jens' Jackett dabei. Ein sehr theatralischer Aufzug! Zu meinen Füßen stand eine kleine Reisetasche, die ich kurz inspizierte. Offenbar hatte ich in einer Kurzschlusshandlung wie von Sinnen schier wahllos ein paar Sachen in diese Tasche geschmissen, blind vor Tränen der Trauer und der Wut; hatte darauf verzichtet, mich

umzuziehen und war so wie ich war zum Bahnhof gefahren. So viel hatte ich wohl noch nachgedacht, dass es keinen Zweck hatte, erst morgen früh zum Flughafen zu fahren, weil Jens mich sicher abhalten würde … Was tat ich eigentlich hier? Ich musste hier raus, wieder zurück fahren, mit meinem Mann sprechen, ihm klar machen, dass … Schon wieder schossen mir die Tränen in die Augen, während ich sinnlos in meinem Gepäck wühlte. Viel hatte ich nicht in die kleine Reisetasche schmeißen müssen, in Marietas Küche liefen die zwei Waschmaschinen eh rund um die Uhr. Marieta … Der Kummer um sie drohte mich nun ebenfalls zu übermannen. SIE war für mich der Hauptgrund, runter zu fliegen, unabhängig von dem Gefühl, helfen zu

müssen. Marieta war für mich in meiner Zeit auf der Farm zu einer Ersatzmutter geworden. Das war sie zwar sowieso, die Mutter der Kompanie, aber unser Verhältnis war noch mal ein anderes, besonderes gewesen. Als ich damals anreiste, die Tasche noch dünner als heute – abgesehen von meinen kostbaren Lehrbüchern – war ich ja eigentlich erwachsen gewesen und als normale Angestellte gekommen. Aber mit ihrem ganz besonderen Gespür hatte Marieta gefühlt, wie zerrissen und allein ich eigentlich war. Von der eigenen Mutter so grausam im Stich und dem Teufel ausgeliefert worden zu sein, tja, das hinterlässt nun einmal Narben auf der Seele, auch wenn ich seit jeher gut darin war, trotz

allem zu funktionieren. Trotz der Tatsache zum Beispiel, dass die Liebe meines Lebens meine Gefühle nicht nur nicht erwiderte, sondern auch keinen Wert mehr auf meine Freundschaft legte, wie es damals schien! So hatte mich die Chefin unter ihre Fittiche genommen, behutsam, um meinen Stolz nicht zu verletzen, aber so einfühlsam, dass uns schon bald ein besonderer Draht verband. Marieta ist kein einfacher Mensch, oh nein, es gibt viele, die nicht mit ihr klar kommen, aber für mich war sie das Leuchtfeuer auf meinem Treiben im Ozean der wirren Gefühle, an ihr und durch sie bin ich GEwachsen und ERwachsen geworden. Der Gedanke, dass nun ihr Lebenswerk in Gefahr war, diese Angst trieb mich in erster Linie nach Afrika. Wenn ich doch nur die Chance hätte, Jens das klar zu machen! Aber auch er gehörte zu denjenigen, die mit der

eigenwilligen Chefin der Tierschutzfarm nie richtig warm geworden waren, wahrscheinlich waren sich beide zu ähnlich, keine Ahnung. Jedenfalls würde er das hier nie verstehen, dessen war ich mir nun sicher. Schweren Herzens beschloss ich, tatsächlich bis Frankfurt durch und dort zum Flughafen zu fahren, um wie geplant meinen Flieger nach Windhoek zu nehmen. Für einen Moment lehnte ich mich zurück, schreckte plötzlich hoch, als mein Handy zu singen begann, eines der wenigen Liebeslieder, die es von Rollen D. Rubel gab. Dieser verdammte Klingelton! Im Gegensatz zu seiner Aussage, er würde sein Privatleben nicht in seinen Liedern

thematisieren und mich schon gar nicht, hatte ich von Anfang an bei diesem Lied den Verdacht gehabt, dass es dabei irgendwie um mich und unsere Liebe ging. Unter süßer Folter hatte Jens das dann auch irgendwann zugegeben! Und natürlich hatte ich mich dadurch geschmeichelt und geliebt gefühlt! Deswegen war es auch mein Klingelton für seine Anrufe … Ich starrte das Handy unschlüssig an, selber schon unwirsch angeschaut von meinem Abteilungsnachbar. Wahrscheinlich war Jens stocksauer oder auch besorgt, weil er mich um diese Uhrzeit nicht wie erwartet zuhause vorgefunden hatte. Fast schon in Panik drückte ich ihn weg. Seufzend drückte ich meine Stirn gegen die kühle

Scheibe. Warum musste Jens auch so stur sein!?! Mein nächster Geistesblitz ließ mich kurz hysterisch auflachen; vielleicht waren seine Befürchtungen ja berechtigt und er litt tatsächlich schon an Altersstarrsinn?! Mein Ausbruch brachte mir wieder ein Stirnrunzeln meines Mitreisenden ein. Ich unterdrückte den Impuls, ihm die Zunge raus zu strecken und kehrte zu meinem Mann zurück, jedenfalls in Gedanken. Da ging mein Handy schon wieder los, ein anderes Lied, derselbe Sänger. Ich seufzte. Die andere Leitung, von Zuhause aus. Das Lied war zu alt, um auf mich gemünzt zu sein, aber es hatte doch von jeher so gut auf uns gepasst, dass es ebenfalls als Klingelton herhalten musste.

Zumindest gab Jens nicht gleich auf. War eigentlich für ihn immer noch jeden Tag Feiertag, wenn er mich sah? War unsere Ehe noch etwas wert oder war sie am Ende? Das würden wir klären müssen, wenn ich wieder zurück war. Entschlossen schaltete ich das Gerät aus. Ich würde ihn von Afrika aus anrufen und noch einmal versuchen, es zu erklären. Entweder er kam dann nach oder wir sahen uns wie so oft eine Weile lang nicht, das Risiko musste ich in Kauf nehmen. Das musste unsere Liebe aushalten! Aber warum fühlte mich dabei fast wie Scarlett O'Hara, die gerade flüsterte „Schatz, wir werden einen Weg finden. Morgen, nicht heute.

Verschieben wir's auf morgen.” ?! * Die nächsten Stunden brachte ich wie in Trance hinter mich, schaffte es irgendwie, ordnungsgemäß einzuchecken, mich umzuziehen und mein Gate zu finden. Im Flieger saß ich dann eingepfercht zwischen einen ziemlich dicken Geschäftsmann und einer geschwätzigen Möchtegernglobetrotterin, die endlos über all die Plätze schwadronierte, die sie angeblich schon gesehen hatte. Manche davon hatte ich selber schon besucht und fand daher einige, nun ja, Schwächen in ihrer Erzählung, aber mir war es im Moment so egal, ob sie log oder nicht … Wenigstens half mir ihr Redeschwall, irgendwann einfach weg zu

knacken. Es war ein sehr unruhiger Schlaf, in dem ich verrückte Sachen träumte und total verschwitzt aufwachte, mit verkrampftem Nacken und einer höchst pikierten Nachbarin, die mir mein Wegpennen anscheinend sehr übel nahm. Wie konnte ich auch nur! Sie zischte mich sauer an, als ich sie bat, kurz für mich aufzustehen, da mich ein dringendes Bedürfnis plagte. OK, es war sicher nicht so super höflich gewesen, mitten in ihren Lügengeschichten einzuschlafen, aber musste sie mich deswegen so anraunzen? Als ich zurück kam, bat gleichzeitig der Dicke darum, raus gelassen zu werden. Wie er mich passierte, hörte ich ihn raunen „Setzen Sie sich doch einfach auf meinen Platz” und zwinkerte mir zu. Das tat ich auch und zurück nahm er meinen Sitz ein, machte sich dort sehr zum Leidwesen unserer Gefährtin breit. Dankbar

nickte ich ihm zu und kuschelte mich mit meinem Kissen ans Fenster, um noch ein wenig zu schlummern. Meine Gedanken gingen in die Vergangenheit, zu eben jenem Ort, zu dem ich nun auf dem Weg war und an dem sich mein Schicksal erfüllt hatte – so dachte ich jedenfalls bisher immer. Aus purem Zufall hatte Jens mich damals dort wieder gefunden. Und mir gestanden, dass er mich liebte, mich auch schon bei unserem Abschied geliebt hatte. Nur mir zuliebe hatte er mich gehen lassen, damit ich mich entwickeln konnte, auch auf die Gefahr hin, mich für immer zu verlieren. Deswegen hatte ich es immer als einen Wink des Schicksals empfunden, dass wir uns dann doch noch wieder gefunden hatten und als Belohnung für unsere gegenseitigen Opfer bisher

sehr glücklich gewesen waren. Nur hatte ich im Moment überhaupt nicht mehr das Gefühl, ein gleichwertiger Partner zu sein! Warum ließ er mir den Freiraum, ein eigenständiger Mensch zu werden, opferte dafür beinahe sein Lebensglück, wenn er mir dann eine für mich lebenswichtige Entscheidung doch so übel nahm?! Endlich stieg ich dann total zerknautscht aus dem Flieger und beschloss, mich erst mal auf der Toilette frisch zu machen. Und Hunger hatte ich auch, deswegen zog ich mich, nachdem ich den Schlüssel meines Jeeps abgeholt hatte, in ein kleines Restaurant zurück. Dort zückte ich mit klopfendem Herzen mein Handy und schaltete es wieder an, in der Hoffnung, dass es sich hier in irgend ein Netz einklinkte. '14 Anrufe in Abwesenheit' sprang mir sofort entgegen, die waren wahrscheinlich nicht mal

alle von Jens oder er hatte es auch von anderen Apparaten aus versucht, in der Hoffnung, ich würde da eher dran gehen … Ich bin kein gläubiger Mensch, aber ich warf trotzdem einen flehenden Blick gen Himmel, als ich mit Blei in den Fingern Jens' Handy anwählte. Und wurde kurz darauf in meinem Unglauben bestätigt. „JA!“, meldete sich eine barsche Stimme, die definitiv nicht ihm gehörte, aber erst auf ein kurzes Nachdenken hin als die von Sabine und damit weiblich zu erkennen war. „Sabine, was ...“, stammelte ich verwirrt, meine eigentlich zurecht gelegten Worte durften nun nicht raus und ich wusste jetzt gar nicht, was ich sagen sollte. „DUUU!“, kam es von ihr zurück, „meldest du dich auch mal?!?“ „Ja, ähm, sieht so aus; warum hast du-“

„Verdammt, Catherine, was hast du dir eigentlich dabei gedacht, so einfach abzuhauen? Und gehst dann nicht mal ans Handy, also wirklich, Kleine, so geht das nicht!“ Mit einem tiefen Atemzug versuchte ich den aufkeimenden Ärger zu unterdrücken. ‚Kleine’ ließ ich mich eigentlich nur von meinem großen blonden Beschützer nennen, wo war der denn überhaupt?! „Nun ja, ich“, begann ich, doch Sabine fiel mir gleich wieder ins Wort. „Wo bist du denn eigentlich, du warst nicht zuhause, als wir heimkamen, du machst dir keine Vorstellung, wie aufgelöst Rollen war; schon die Ausstellung hast du mit deinem Theater fast geschmissen, so durch den Wind war er!“ Klar, das war natürlich das Einzige, was sie interessierte und mir reichte es. „Sabine?!“

„Ja?“ „HALT DIE KLAPPE!“   Ah, tat das gut! Meine Beziehung zur ihr war ja von jeher ambivalent, sie konnte ein guter Kamerad sein und sie hatte sich wirklich immer sehr für Jens und seine Kunst eingesetzt, dafür war ich ihr dankbar. Aber unsere Beziehungskiste ging nur uns was an und ich wunderte mich, mit welcher Leichtigkeit diese Frau aus der Alice-Schwarzer-Generation mir als Frau die Schuld in die Schuhe schob, als wäre ich eine kleine verwöhnte Zicke, die ihren Lolli nicht gekriegt hatte! „Was, wie redest du denn mit mir?!”, empörte sich die Gute. „Das wollte ich dich auch gerade fragen”, gab ich

zurück. „Ich denke, was gestern war, das geht nur meinen Mann und mich etwas an! Deswegen würde ich ihn gerne sprechen, hab ja eigentlich ihn angerufen! Also könntest du ihn mir bitte geben; wo ist er überhaupt?” „Tjaaa”, machte sie da gedehnt und ich hatte das Gefühl, dass sich da eine gewisse Genugtuung in ihre Stimme schlich. „Das wird leider nicht gehen, meine Liebe. Er hat mir sein Handy extra gegeben, als er abgereist ist.” „Abgereist?”, fragte ich atemlos und mein Herz schlug spontan schneller voller Hoffnung, Jens nun bald direkt zu treffen und mich mit ihm aussprechen zu können. Um so größer war die Fallhöhe, denn ihre nächsten Worte ließen mich leider erst recht am Boden zerstört zurück. „Ja, abgereist, nach Südamerika, wie

geplant.” BAMM! Das saß, das musste ich erst einmal verdauen. Jens war also einfach in den Flieger gestiegen, ohne eigentlich zu wissen, wo ich war. Hatte auf stur geschaltet, mein Verschwinden als Kampfansage gewertet und mit gleicher Münze zurück gezahlt, war es das? War ihm unsere Ehe in Wirklichkeit nicht mal mehr soviel wert, diesen Kampf auf faire Art und Weise auszufechten?! „Catherine?”, fragte Sabine am anderen Ende der Leitung, weil ich nun, ich weiß nicht wie lange, geschwiegen hatte.

„Ja, ich bin noch da”, krächzte ich, fühlte mich, als würden mich sämtliche Erdanziehungskräfte drei mal so stark wie sonst zu Boden ziehen. Mühsam räusperte ich mich. „Ahem, also, dann ist Jens also unterwegs nach Buenos Aires?” „Hm, na, sieht so aus, ich meine, da gab es wohl eine Änderung, er reist nach Bogotá, aber weg ist er, das steht fest. Hör mal, es tut mir wirklich leid”, fügte sie dann noch an und es klang sogar aufrichtig. „Er war .. er war, man kann sagen, nicht er selbst. Ich will dir keinen weiteren Vorwurf machen, aber du kannst dir ja wohl vorstellen, dass er ziemlich sauer über dein Verschwinden war, abgesehen davon, dass er sich tierische Sorgen gemacht hat.” „Ähm, weiß er, dass ich-” „Dass du unterwegs nach Afrika bist?” Sie holte tief Luft. „Ja, das wusste er. Er hat wo angerufen und weißt du, ein Rollen D. Rubel

bekommt so manche Information, die nicht mal der Geheimdienst bekommen würde. Deshalb wusste er, dass du tatsächlich in den Flieger nach Windhoek gestiegen bist.” In ihren Worten schwang die deutliche Kritik mit, dass ICH einen Rollen D. Rubel anscheinend nicht so sehr schätzte wie die Leute an den Auskunftsstellen. Aber für mich war er doch einfach mein bester Freund und der Mann, den ich liebte! Sein Star-Status war mir schon immer egal gewesen. Und ich bin sicher, dass es sich im Privaten auch genau so gehört! UND ich hatte auch immer das Gefühl gehabt, dass ihm genau das gut gefiel, dass er es gut gefunden hatte, dass ich ihm damals nicht automatisch verfallen war, sondern mich im Gegenteil ziemlich gegen seine Hilfe gesträubt hatte … Aber jetzt … Jetzt schien er jegliches

Verständnis für mich verloren zu haben. Oder? Ich verabschiedete mich ziemlich kurz angebunden von Sabine und legte auf. Ich musste nachdenken. Was bedeutete es, dass Jens so einfach unsere ursprünglich geplante Reise alleine angetreten hatte? Nun gut, streng genommen hatte ich ja quasi das Gleiche getan, aber ich hatte doch einen guten Grund! Den er einfach nicht wahr haben wollte. Oder? Ich nahm einen großen Schluck Kaffee und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Vielleicht bedeutete es ja auch gar nichts Schlimmes. Im besten Fall hatte Jens sich in dem gebuchten Flieger auf den Weg gemacht, um einfach die Zeit zu überbrücken, in der ich in Afrika zu tun hatte. Würde sich irgendwann

doch noch bei mir melden und die Sache mit uns klären. Und im schlechtesten Fall … gab es für ihn nichts mehr zu klären. Ich hatte fast das Gefühl, als würde mein Herz bluten, doch als Medizinerin wusste ich, das war natürlich Quatsch. Ohne mit Jens direkt gesprochen zu haben, blieben alle Überlegungen reine Spekulation und es sah so aus, als würde es erst mal länger nicht dazu kommen. Aber ich hatte nun mal eine Mission hier zu erfüllen. Also tat ich – nach langer Zeit einmal wieder – das, was mir über meine schwere Zeit damals hinweg geholfen hatte … Ich schloss all meine Gefühle, die Ängste und

die Liebe tief in einem kleinen Raum in meinem Herzen ein und versiegelte ihn gründlich! Nachdem ich diese Entscheidung getroffen hatte, saß ich noch eine Zeitlang stumm auf meinem Platz und spürte, wie mich eine große Ruhe überkam. Ja, das Verhalten meines Mannes war eine Riesenenttäuschung, doch ich musste zugeben, dass er meines wahrscheinlich ähnlich bewertet hatte – auch wenn ich mich auf eine Art Schockstarre berufen konnte, meiner Meinung nach, in der ich wie ein Roboter losgestapft war. Egal, nun galt es erst mal, meine Pflicht zu erfüllen und vor allem mal hier vom Fleck zu kommen. Sollte ich vorher noch mal zuhause anrufen? Ach nein, das konnte ich dann in Ruhe von

meinem Zimmer aus machen, beschloss ich. Ach hätte ich doch nur ... Es dunkelte, während ich die lange Strecke fuhr, aber ich hatte eh einen solchen Tunnelblick heute, es machte mir nichts aus und ich kam gut voran. Die vier Stunden über drehte ich den hiesigen Radiosender bis zum Anschlag auf und groovte mich so schon mal wieder langsam ein. In erster Linie lenkte es mich aber von meinen Sorgen ab, auch wenn ich immer hoffte, nicht zufällig eines der Band-Lieder zu hören (in diesem noch teilweise sehr deutsch geprägten Land durchaus möglich!). Und eines kann ich sagen, der Empfang und die Begrüßung … Also, ich will nicht sagen, dass es alles aufwog, aber die Herzlichkeit, ja Liebe und Dankbarkeit, die mir hier entgegen schlug, wärmte mein Herz von Grund auf. Und vielleicht drang auch ein bisschen von diesem

warmen Licht bis in den geheimen Raum dort, denn ich war mir plötzlich sicher, dass sich alles zum Guten wenden würde. Geradezu euphorisch hockte ich irgendwann in der Nacht in meinem Zimmer (zum Glück nicht das von damals) und zückte mein Telefon. Diesmal wählte ich die Nummer von Niels und wartete mit einem gewissen Magengrimmen darauf, dass er dran ging. Sicher würde auch er mir Vorwürfe machen. „Kitty, bist du das?“, sagte er gleich als erstes. Ich musste schmunzeln. Was, wenn nicht? „Ja Kleiner, ich bin es.“ „Ah Gottseidank, ich meine, was machst du eigentlich, bist du wirklich in Afrika?!“, sprudelte er heraus und ich seufzte. „Stimmt, Niels, ich bin in Namibia.“

„Also einfach mal wieder abgehauen“, stellte er fest und mir fiel ein, so richtig wusste er immer noch nicht, was damals war, als ich ihn als Kind plötzlich für so lange Zeit ohne Vorwarnung ‚verlassen’ hatte, da lag wohl immer noch eine tiefer gehende Verletzung vor. (Es wäre wahrscheinlich kein Problem für ihn gewesen, es heraus zu bekommen oder mich eventuell einmal direkt zu fragen, aber offenbar lag der Hang zum Verdrängen in der Familie ...) Ich schluckte den Vorwurf, für lange Erklärungen wusste ich nicht, ob dafür nun der richtige Zeitpunkt wäre. „Schatz, mein liebes Brüderchen, ich ... ich hatte meine Gründe!“ „Ja natürlich“, ätzte er. Das schien schwieriger zu werden, als ich dachte. „Hör mal, Niels, wenn dich Freunde um Hilfe bitten, dann bist du doch auch immer dabei,

oder?“ „Hm ja, meistens ...“ „Nicht meistens, sondern immer, das grenzt bei dir schon an ein Helfersyndrom, mein Lieber! Jedenfalls kennst du das zur Genüge und müsstest doch eigentlich wissen, warum man das macht. Also jetzt war es eben an mir, meinen Freunden hier unten zu helfen. Und ich kann nicht kapieren, warum Jens da so ein Theater macht und mich nicht versteht!“ „Na ja, er war echt durch den Wind, als wir nach Hause kamen und du nicht da warst; erst nach einer Weile haben wir festgestellt, dass deine Reisetasche und ein paar Klamotten fehlten.“ „Da war er sauer, was?“, fragte ich. „Hm, eher ... überrascht ... und traurig. Und Sorgen hat er sich gemacht. Sauer war er erst ...“  Hier brach Niels ab, aber ich konnte den Satz für ihn zuende führen.

„-als er hörte, dass ich im Flieger nach Windhoek sitze.“ Er holte tief Luft. „Ja, genau.“ Anscheinend doch typisch Mann. „Und deswegen ist er selber dann auch weg geflogen“, stellte ich fest, wusste gar nicht, was ich dazu hören wollte. „Na du musst reden“, begehrte mein Bruder auf und ich lachte kurz auf. „Ja, schon, denn ich sehe bei mir die besseren Gründe! Mir kommt es vor, als sei es bei ihm doch nur gekränkte Eitelkeit! Weil ich nicht so spure, wie er es gerne hätte.“ „Bist du sicher? Er hat vorhin angerufen und da kam er mir -“ „Er hat angerufen? Bei dir?“, fragte ich hektisch. „Ja, von so einem Bordtelefon aus. Er wollte

wissen, ob du dich gemeldet hast, aber das konnte ich ihm ja nur verneinen. Und da ...“ „WAS?!“ „Da hat er etwas gesagt von wegen, dann wäre es jetzt auch egal und er würde sich auch nicht mehr melden. Tut mir leid, Catherine.“ Mir stiegen die Tränen in die Augen. Das war einfach nicht fair! Ich hatte mich doch gemeldet, sogar auf SEINEM Handy!! Ach, hätte ich Niels doch schon vom Flughafen aus angerufen ... Dann fiel mir etwas ein. „Warum gibt er eigentlich Sabine sein Handy und ruft dann doch nicht bei ihr an?! So ein Mist!“, fluchte ich. „Vielleicht ... vielleicht, weil er sich im Grunde davor gefürchtet hat?“ „Sieh an, mein Brüderchen ist jetzt auch noch unter die Hobbypsychologen gegangen“, grollte

ich, doch Niels blieb ruhig. „Na ja, das stammt nicht von mir.“ „Von wem denn dann?“ „Von Vince. Ich geb ihn dir mal.“ „Was?! Nein!”, rief ich, aber da war es schon zu spät. Oh, zum Glück musste ich ihn gerade nicht angucken. Mit seinen braunen Rehaugen, die so tief in deine Seele schauen können … Seitdem er mich damals ab und zu zur Polizei begleitet hatte und vor allem, seit er meine Mutter live erlebt hatte, verband uns eine engere Freundschaft. In Berlin wussten die wenigsten Leute von gewissen Teilen meiner Vergangenheit und auch wenn ich vieles davon am liebsten vergessen würde, es war gut, dass es jemanden außer Jens gab, der ungefähr wusste, warum ich so war, wie ich eben bin. Denn eines stand fest, wenn der beste Freund zu

deinem Geliebten wird, ändert sich halt doch, auch wenn man das nicht wahr haben will, etwas an der Qualität deiner Beziehung. Nicht zum Schlechten, nein, nur die Gewichtung ist anders - das war mir spätestens in den letzten 24 Stunden klar geworden. Man hört viel zu viel mit dem empfindlichen Beziehungs-Ohr statt sachlich und freundschaftlich zu reagieren … Die Liebe verändert so vieles! „Cat?”, drang Vince' Stimme zu mir vor, ich war wohl abgetaucht in meine kruden Gedanken, deswegen setzte er noch ein „Hallo, Kitty?”, nach. Das brachte mich erst mal zum Lachen, dann zum Weinen, denn es erinnerte mich an den Moment in der Küche vor ein paar Tagen, als Jens mich so angesprochen hatte. „Herrje, Kleines, nicht weinen!”, japste Vince entsetzt und ich schniefte, bremste mich, bevor das GANZE Elend aus mir heraus brechen

würde. Dann wappnete ich mich, denn sicher würde auch er mir nun Vorwürfe machen. Doch erstaunlicherweise waren seine nächsten Worte „Meine arme Cat, wie geht es dir?” „Ähm”, murmelte ich, musste mich erst mal fassen, sagte dann „Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Schimpfst du denn gar nicht mit mir?” „Wie könnte ich”, seufzte er. „Also, nicht, dass ich dieses Chaos gut finde, jedenfalls was ich davon verstehe, ich glaube, Niels weiß auch nicht alles, oder?” „Nein”, meinte ich leise, „er weiß vor allem nicht, was damals war, als wir beide, du und ich, uns kennen gelernt haben … Und warum mir Harnas so wichtig ist, das hat ja auch damit zu tun.” „Verstehe”, brummte Vince. „Warum ist er überhaupt bei

dir?” „Kannst du dir das nicht denken?” Ich schwieg einen Moment und wischte mir die Augen trocken. „Doch. Doch, ich versteh schon.” Auch wenn Niels Jens als Vaterfigur vergötterte, war Vince doch sein wahrer Freund und Mentor, der ihn aus eigenen Motiven liebte und förderte. Die Ereignisse der letzten 24 Stunden hatten Niels sicher ziemlich mitgenommen und Stanley war ganz sicher nicht der Mensch, der ihm da durch helfen würde ... Ich schaffte es dann sogar, Vince so mehr oder weniger die ganze letzte Woche näher zu bringen, denn er war ein guter Zuhörer und hatte mir den Eindruck vermittelt, mich nicht automatisch zu verurteilen wie die anderen. Zwangsläufig kam ich dabei auch auf Jens' offensichtliche Probleme mit dem Älterwerden,

da seufzte sein langjähriger Freund und Bandkollege. „Ja, das gehört halt zu den Dingen … die man eigentlich bewusst in Kauf nimmt, wenn man sich dazu entschließt, über deren Ausmaße man sich aber dann doch keine Vorstellungen macht.” „Du sprichst in Rätseln”, stöhnte ich und er lachte. „Sorry, hm, ich denke, man könnte es grob mit einem Tattoo in jungen Jahren vergleichen, natürlich weiß man auch da schon, dass es für die Ewigkeit ist, denkt aber entweder, man würde seiner eh nie überdrüssig oder man sagt, 'das nehme ich bewusst in Kauf'. Und weiß aber natürlich nicht, ob sich dieses Gefühl tatsächlich halten wird ...” „Äh, dann bin ich nur ein Anhängsel?”, fragte ich verwirrt, denn das konnte doch nicht seine Idee

sein! „Nein, ich meine bei euch beiden den Altersunterschied.” Da musste ich erst richtig stöhnen, nicht schon wieder dieses Thema! Doch Vince beschwichtigte mich. „Nicht aufregen, meine kleine Cat! Was ich meine, ist, dass gerade Jens sich dessen sehr bewusst war, als ihr endgültig zusammen kamt, welche Lücke da zwischen euch klafft. Die ist immerhin ziemlich groß! Aber er hat damals tatsächlich kein Problem darin gesehen, verstehst du?!” „Ahm, ja, naja ...”, brabbelte ich, zum Glück dozierte Vince da schon weiter. „Und es war ja auch lange keine große Sache und er dachte, er würde die Zukunft schon wuppen. Nur hat er sich nicht vorstellen können, WIE es sich dann tatsächlich anfühlen würde, wenn die Schere sinngemäß weiter auseinander zu klaffen beginnt. KEINER kann

sich als jüngerer Mensch vorstellen, wie sehr man an geistiger und körperlicher Elastizität verliert ab einem gewissen Alter.” Das regte meinen Spott an. „Mensch, alter Latino, das klingt ja fast, als ob es sogar dir schon so gehen würde, dabei bist du der Jüngste von den Dreien!” „Cat, ich bin letztes Jahr 45 geworden und ehrlich, das eine oder andere Zipperlein kommt seit der 40 jedes Jahr dazu. Und die ständige einseitige Haltung mit den Instrumenten macht es nicht einfacher. Das würde ich mir auch nicht glauben, wenn ich in deinem Alter wäre oder als es meine Eltern erzählten. Aber es ist so.” „Ach, ich weiß nicht”, murmelte ich immer noch ungläubig, „dann hätte Jens mir doch was erzählt. Verdammt, ich bin seine Frau, egal ob jünger oder nicht, da sollte er mir doch vertrauen!”

„Ich hab schon von Ehen gehört, da hat der Partner als letzter erfahren, dass eine schwere Krankheit im Endstadium vorliegt ...”, erwiderte er bestimmt und ich keuchte „VINCE!” „Nein, keine Sorge”, beruhigte er mich rasch, „ich glaube, er teilt schon so ziemlich alles mit dir, wenn auch vielleicht nicht immer sofort.” „Dazu ist er ja auch oft genug nicht zuhause, als dass er es mir sofort erzählen könnte”, seufzte ich. „Na, er HAT dir aber von seinen Sorgen erzählt, oder? Und vergiss nicht, du bist hübsch, schaust sexy aus-” „Oh danke, genau das hat mich ja damals in die Bredouille gebracht”, knurrte ich, er fuhr aber fort. „-und du hast eine Menge Freunde in deinem Alter, auf der Arbeit bist du sehr beliebt. Auch

wenn du ihm nie wirklich Veranlassung zu solchen Gedanken gegeben hast, sie sind da, da kann er nix gegen machen!” Ich schwieg eine Weile und dachte nach, ich wusste, Vince hielt das aus. Dann fragte ich „Dann geht es dir mit Jerôme genau so?” Er lachte kurz auf. „Naja, uns trennen nur fünf Jahre, aber du weißt, wie gut er aussieht, oder?” „Oh ja”, bestätigte ich, denn Vince' Freund war wirklich eine Sahneschnitte. Und seinem Freund absolut treu. Aber Eifersucht scherte sich anscheinend nicht unbedingt um die Realität, ebenso wie Sorgen. „Ach Vince”, murmelte ich, „meinst du, wir kriegen das wieder hin? Nicht, dass Jens zu dem Schluss kommt ...” Ich konnte es nicht mal aussprechen! „Catherine, ich bin mir eigentlich ziemlich

sicher, dass er das nicht wird. Ihr braucht bestimmt etwas Zeit, um euch nachher endlich mal wieder auszusprechen und zusammen zu raufen, aber bitte, bei eurer Geschichte, das wäre doch gelacht, wenn ihr da nicht alte Tugenden wieder raus holt!” „Na gut, dann muss ich das einfach mal abwarten. Vince, Schatz, wenn, also falls er sich doch noch meldet, sag ihm einfach ...” Ich zögerte, ja, was sollte er sagen? Aber jetzt war nicht mehr die Zeit für falschen Stolz! „Sag ihm, dass mir meine Kurzschlusshandlung unendlich leid tut und dass ich alles tun möchte, um das wieder gut zu machen! Ja?!” „Werd ich machen”, brummte er. „Und hab ein Auge auf Niels, bitte. Stanley ist so alt wie ich, der kommt klar ...” „Na logo!”, versprach mein lieber Freund und Seelentröster. „Und wenn du wieder wen zum Quatschen brauchst, ruf an, okay!? Wir lieben

dich!” „Und ich liebe euch”, hauchte ich dankbar, dann legten wir auf.

5. Kapitel

Am nächsten Tag startete ich mit meiner Arbeit auf Harnas und die ließ mir wahrlich keine Zeit zum Quatschen. Ich versorgte kranke Tiere, teilte Neuzugänge – tierische wie menschliche – auf die Räumlichkeiten auf, verhandelte mit Farmern über Land, welches sie uns zur Verfügung stellten. Es gab wirklich reichlich zu tun und neben den Tieren und der betrieblichen Organisation besserte ich mich sogar in der Menschenbetreuung. Das sieht man im Fernsehen beim „Waisenhaus für wilde Tiere” nicht, aber einige der Freiwilligen sind noch recht jung und oft das erste Mal so relativ lange fort von zuhause. Da brauchte der eine oder die andere schon mal Trost und Zuspruch und wäre ich da noch vor kurzem wesentlich hartherziger gewesen, war ich auf einmal mitfühlender, als ich es mir selber

je zugetraut hätte. Man kann den Leuten ja auch nicht immer entgegen schleudern 'Stell dich nicht so an, ich war mal ewig in einem Kerker eingeschlossen, ohne Hoffnung auf Rettung, da wirst du doch mal ein paar Tage ohne Mama aushalten!' Neenee, das ging nicht und ich konnte mich diesem Kummer nun viel besser öffnen, vielleicht auch, weil er mich von meinem eigenen ablenkte. Ich fand auch eine junge Frau unter den Festangestellten, die mir das Potenzial für meinen Job, abgesehen vom veterinärmedizinischen, zu haben schien und bezog sie immer mehr ein; denn länger als geplant wollte ich auf keinen Fall bleiben, ich wollte daheim sein, wenn Jens zurück kehrte. Die Farm profitierte sozusagen von meiner Lage, denn ich hängte mich beinahe 20 Stunden

rund um die Uhr jeden Tag der Woche in die Arbeit, um dann total erledigt sofort und traumlos wieder einzuschlafen. Nur einmal wurde dieser Rhythmus unterbrochen, als Jo und Nick mich mit zu Marieta ins Krankenhaus nahmen. Sie war langsam auf dem Weg der Besserung, aber körperlich noch sehr eingeschränkt, auch mit der Sprache haperte es noch, wie es ja leider so typisch für einen Schlaganfall ist. Ob und wann sie ihre gewohnte Arbeit wieder aufnehmen konnte, stand daher in den Sternen. Ihre Augen jedoch leuchteten wie gewohnt, als sie mich sah und ihre Herzlichkeit war nach wie vor spürbar, als ich sie mit Tränen in den Augen umarmte. Und sie spürte sogar, dass neben dem Stress etwas nicht mit mir in Ordnung war, brachte das mit langsamen Worten

und etwas Gestik zum Ausdruck. Da drückte ich beruhigend ihre Hand und erklärte, indem ich so nah wie möglich bei der Wahrheit blieb, dass es halt viel Liegengebliebenes zu erledigen gab und ich darüber hinaus meinen Mann vermissen würde. „Wa- … Waaarum ist er ...“, setzte sie an und ich beantwortete ihr die Frage sofort: „Jens war sich sicher, sich hier auf die Dauer zu langweilen, weißt du, er ist halt doch ein kleiner Rumtreiber. Deswegen ist er für die Zeit, die ich hier bin, nach Südamerika gefahren.“ Auch das war ja irgendwie die Wahrheit, vielleicht nicht die ganze, aber ich wollte den van der Merwes auf keinen Fall das Gefühl geben, sie hätte meine Ehe auf dem Gewissen. Weil sie es auch im Grunde nicht hatten, unsere Probleme lagen sicher tiefer, wir hatten es nur

nicht gemerkt ... So vergingen die Wochen und meine festgesetzte Zeit näherte sich dem Ende. Inzwischen fühlte ich mich abgeklärter und war sicher, dass auch meinem Mann die Zeit gut getan hatte und wir einen guten Start hin legen würden, daheim … Und genügend Abstand hatte er nun sicher gehabt, denn Jens hielt übrigens Wort und meldete sich kein einziges Mal. Nicht bei Julia, Stan, Niels oder Vince und schon gar nicht bei mir. Aber das war ich ja gewohnt, von seinen früheren Reisen hatte er sich auch nie gemeldet, damit hatte ich mich abfinden müssen. Doch dann kam der Tag mit jener Nachricht, auf die keiner vorbereitet war.

* Mein Handy klingelte und zeigte mir Julias Nummer an. Sie war mit ihrem Mann im Urlaub gewesen, als ihr Bruder und ich zu so verschiedenen Zielen aufbrachen und ich hatte eigentlich schon viel länger mit ihrem Anruf gerechnet. Inzwischen würde sie wahrscheinlich mitbekommen haben, dass wir ein wenig Knatsch hatten. Obwohl Jens' Schwester, war sie gleichzeitig meine beste Freundin, das hatte bisher auch immer gut geklappt, keinerlei Loyalitätsprobleme. Doch diesmal fürchtete ich, würde sie sicher mit mir schimpfen, naja, ich würde es jedenfalls, denn mein schlechtes Gewissen hatte mich schon lange davon überzeugt, dass meine

Kurzschlussreaktion vor ein paar Wochen, nun ja, wenn nicht Bockmist, aber dann doch nicht so toll gewesen war. Da würde sie wahrscheinlich nun noch Einen drauf setzen. Ich ahnte ja nicht, wie recht ich damit haben würde … „Julia, hi!”, ging ich dann doch dran, wartete nicht auf ihre Antwort, sondern redete gleich weiter „Julchen, ich kann grad nicht reden, kann ich dich später zurück rufen?”Am liebsten wäre ich ja gar nicht ran gegangen, nicht nur wegen der zu erwartenden Strafpredigt, sondern weil ich gerade auf einer jungen Gazelle kniete, die sich ungern freiwillig untersuchen ließ, aber wegen einer Infektion auch nicht sediert werden konnte. „Cathy, ich …”, begann sie, dann räusperte sie sich. „Cat, das ist echt wichtig!”, sagte sie und

in diesem Moment machte das Tier unter mir einen Riesensatz, es hatte wohl gefühlt, dass ich nicht bei der Sache war und seine Chance genutzt. Ich flog in hohem Bogen in den Wüstensand und fluchte kräftig, während ich mich aufrappelte. „Verdammt! Julia, bist du noch da?” „Ja.” „Okay, mein Patient ist eh weg. Was gibt es denn? Du wirst jetzt sicher mit mir schimpfen ...”, seufzte ich, aber ich hörte sie nur schlucken und hatte plötzlich das ungute Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war und es ihr vielleicht nicht nur um mein Abhauen ging. „Ähm, Catherine … Oh verdammt, ist das schwierig”, murmelte sie leise und mir wuchs ein eiskalter Klumpen im Magen. „Das Auswärtige Amt hat sich gemeldet”, fuhr sie fort, dann, hastiger, weil sie wohl um das

Kopfkino wusste, dass sich gerade bei mir abspielte, „du solltest besser so schnell wie möglich zurück zu uns kommen. Jens ist in Kolumbien entführt worden!” „Entführt …?”, wiederholte ich tonlos und sank auf den Boden nieder, weil mir die Knie schwach wurden. „Aber was … Wieso … Wie geht es ihm?!?” Ihre Stimme schwankte leicht. „Sie wissen selber nicht allzu viel und sie-” „Oh Gott!”, entfuhr es mir und die Anspannung, die sich gerade innerhalb von Sekunden aufgebaut hatte, entlud sich schlagartig in einem heftigen Schluchzen. Ich hielt das Handy auf Abstand und legte eine Hand auf meine Augen, versuchte meiner Emotionen Herr zu werden, während ich mit angehockten Beinen auf dem Boden

saß. Jens war entführt worden!?! Von wem, warum, und wann?! Wie ging es ihm, war er in großer Gefahr, was konnten wir tun, all das ging mir durch den Kopf; und vor allem natürlich die große Frage: Wäre das auch passiert, wenn ich bei ihm gewesen wäre? „Cathy? Cathy? Hallo, Cat, hörst du mich?”, drangen Julias Worte wie aus weiter Ferne an mein Ohr. Unwirsch wischte ich mir den Rotz aus dem Gesicht und nahm das Telefon wieder ans Ohr. „Ja, ich bin hier, Julia. Dann lebt er also noch?!” „Mein arme Cat, bitte reg-” „Julia, bitte, lebt Jens noch?!!“, fiel ich ihr ins Wort. „Soweit sie das sagen können, ja ...“

„Bitte, hör auf das so zu sagen!“, keuchte ich, so gar nicht beruhigt von dieser vagen Antwort. „Cat, Kleines ganz ruhig, ich hab mich vielleicht komisch ausgedrückt. Ich meinte, viel mehr wissen die im Moment eben noch nicht, auch nicht, wer ihn hat, aber sie haben klar gemacht, dass Jens noch lebt“, erklärte meine Schwägerin geduldig. Dann kam sie meiner nächsten Frage zuvor: „Und sie haben natürlich als erstes versucht, dich zu erreichen, aber ich glaube, sie hatten deine Handynummer nicht.“ „Oh Julia, was mache ich denn jetzt?“ „Zuerst mal kommst du nach Hause, okay?“ „Ja logisch, aber ...“ Mir schwirrte der Kopf. Das hier war so fürchterlich surreal und doch ein lebendig gewordener Alptraum, denn wie oft war mein Mann nicht schon in ähnlichen Gebieten unterwegs gewesen, wo Touristen

gefährlich lebten?! Und jetzt hatte es ihn in einem Land ereilt, von dem man eigentlich angenommen hatte, dass diese Zeiten dort vorbei wären. „Hey, bleib ganz ruhig, bitte, Liebes, ich möchte mir nicht auch noch um dich Sorgen machen müssen, bitte ...“ „Jaja, Julia, ich bin soweit in Ordnung, ich komm schon klar. Ich ...  Ich werd jetzt auflegen und schauen, was ich organisieren kann, damit ich schnell zu euch komme.“ „Ist gut. Wenn du willst, ruf mich heute Abend noch mal an, ja? Und Cathy?!“ „Ja?“ „Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut!“ Ich schnaubte leise, murmelte „Ja klar, danke!“, bevor ich auflegte und mich verzweifelt nach hinten auf den Rücken fallen ließ. Mit Blick in den strahlend blauen Himmel blinzelte ich die

letzten Tränen fort und dachte verbittert daran, dass mich die meisten Schicksalsschläge anscheinend immer hier im Sand der Etosha-Pfanne trafen. Einst war ich dabei – als ich Jens wieder traf – himmelhochjauchzend, heute zu Tode betrübt. * Die van der Merwes waren natürlich entsetzt über die Ereignisse, dabei wussten sie nicht einmal, dass Jens und ich uns vorher, gerade wegen Harnas, kräftig gestritten hatten. Auch sie waren der Meinung, dass ich sofort nach Hause musste und alle guten Wünsche begleiteten mich. Und trotz allem, so ganz und gar bereute ich meine Reise hierher nicht. Ich war froh, hier in der Not geholfen zu haben und eine geordnete Situation hinterlassen zu

können. Ja, so überlegte ich, wer weiß, normal wäre ich jetzt wahrscheinlich ebenfalls eine Gefangene, so konnte ich wenigstens von etwas tun. So hoffte ich jedenfalls, denn diesmal war ich ja die auf freiem Fuß! Meine Rückkehr nach Berlin zwei Tage später war dennoch eine sehr traurige. Ich hatte natürlich Kontakt mit der zuständigen Stelle aufgenommen, doch sehr viel mehr war dort tatsächlich nicht zu erfahren gewesen. Offenbar war im Zusammenhang mit den anstehenden Präsidentschaftswahlen die linksgerichtete FARC wieder aktiv geworden und hatte erneut begonnen, Menschen zu entführen. Diesmal anscheinend gezielt und vermehrt Ausländer und keiner konnte mir sagen, welchem Zweck das eigentlich dienen sollte. Der Gedanke, es ginge darum, Präsident Santos Calderón aus dem Amt zu erpressen,

verursachte mir durchgehend Übelkeit, denn da würden die da unten nicht lange fackeln: Der Staat würde sich nicht erpressen lassen! Der Rückflug war deswegen auch die Hölle gewesen. Mein Kopfkino drehte komplett durch und ich sah alle möglichen Szenarien vor mir. Und mir war klar, meine Vergangenheit war ein Dreck gegen das, was ich im Moment emotional durch machte. Ich glaube, hätte die Möglichkeit bestanden, ernsthaft bestanden!, ich wäre freiwillig wieder in den Kerker in Tonis Keller gegangen, wenn dafür Jens frei kommen würde! Und am allerschlimmsten war die Gewissheit, dass wir uns in so einem hässlichen Streit und mit so vielen unausgesprochenen Dingen getrennt hatten! Jedesmal, wenn ich an unser letztes längeres Gespräch damals in der Küche dachte, wie verzweifelt er da sogar gewirkt

hatte, zog sich mein Magen zusammen und es fühlte sich an, als würde mein Herz bluten. Es durfte einfach nicht sein, es durfte nicht so zuende gehen! ICH wusste ja, dass ich ihn trotz allem über alles liebte. Jens war mein Retter, mein Schutzengel und mein bester Freund, ich war sicher gewesen, wir hätten nicht viel Zeit gebraucht, um uns nach unserem Wiedersehen wieder zusammen zu raufen. Doch natürlich konnte ich das für seine Sicht letztendlich nur annehmen, auch wenn ich ihn sehr gut kannte, es blieb eine Spekulation. Würde ich noch die Gelegenheit haben, die Wahrheit heraus zu finden? Am Flughafen fiel ich meinen Abholern, Vince und Julia, stumm in die Arme. Sie sahen ungefähr so aus, wie ich mich fühlte. Statt zum

Savignyplatz fuhren wir zu Vince nach Hause, dort wartete Niels auf uns. Der Junge brach prompt in Tränen aus, als er mich sah und klammerte sich an meinen Hals. Ich ließ ihn gewähren und war plötzlich in der seltsamen Situation, zu trösten statt selber getröstet zu werden. Aber klar, auch er war irgendwo traumatisiert! Er hatte seinen Vater schon früh verloren und gleichzeitig war ich ihm lange mehr Mutter gewesen als unsere leibliche. Toni hatte er intuitiv ebenfalls nie so recht leiden können. Dann war ich plötzlich verschwunden und er war allein mit dieser Frau gewesen, von der er instinktiv spürte, dass sie kein guter Mensch war … Mein Mann war ihm in den letzten Jahren eine Art später Vaterersatz gewesen, so seltsam unerwachsen, wie dieses Künstlerherz ansonsten auch manchmal war.

Ja, eigentlich waren wir beide verlorene Kinder, die nicht wussten, ob sie ihren Peter Pan je wieder sehen würden! * Am nächsten Morgen wollte ich persönlich beim Auswärtigen Amt vorstellig werden, denn in einem persönlichen Gespräch war vielleicht etwas mehr zu erfahren. In der Nacht träumte ich entsprechend heftig, von meiner Befreiung damals, als die Polizei den Kerker stürmte. Wie damals sah ich einen wabernden Nebel, hörte seine Stimme, Jens' Stimme, dann war er plötzlich da und hauchte „Catherine!” In diesem Moment war ich so glücklich und streckte die Hand nach ihm aus. Doch ich griff ins Leere, Jens entfernte sich

wieder von mir, als würde er unerbittlich in ein schwarzes Loch gesogen und ich konnte nicht hinterher, weil ich noch immer angekettet war! „Jens!”, schrie ich gellend und plötzlich waren da Licht und eine Stimme und Arme, die sich um mich legten im zärtlichen Versuch, mich zu trösten. „Iss ja schon jut, meene Kleene, allet jut, ick bin ja da”, sagte eine dunkle Stimme und im schwachen Schein der Flurlampe bemerkte ich, dass die Arme, die mich hielten, ungewöhnlich viele Tätowierungen besaßen und schaute endlich meinen Tröster genauer an. „Pfanni ! Du? Was machst du denn hier? Und wann bist du ...”, faselte ich zusammen, doch er rubbelte nur lächelnd meine Arme. „Schht, ich bin gestern ganz spät angekommen, da wollten wir dich nicht stören, weil Vincente

meinte, du wärst wohl grade endlich mal eingeschlafen. Ich penn nebenan, da hab ich dich schreien gehört ...” „Ja, war ein Scheißtraum”, seufzte ich. „Aber du, was machst du denn hier, bist du wegen ...” Pfanni nickte und rückte ein Stück ab. „Ja klar, das hat mir einfach keine Ruhe gelassen! Der Abstand des letzten halben Jahres hat zwar mal wieder gut getan, aber Jens ist und bleibt doch mein Freund. Und du auch, du kleine Straßengöre. Da wollte ich dir zusammen mit den anderen ein bisschen beistehen.” „Und das, wo du mitten in deinen Vorbereitungen steckst”, murmelte ich gerührt. Nun waren all meine Lieben versammelt, es fehlte eigentlich nur noch Stanley, doch der würde auch bald vom Ort seiner jüngsten Reportage anreisen. „Wie geht es Susie?”, fragte

ich. „Die lässt dich ganz herzlich grüßen, aber sie konnte nicht mit, wegen Robert Neil ...” Für einen kurzen Moment musste ich wie immer bei dem Namen grinsen und fragte mich immer noch, wie er die meist so ernst wirkende Frau dazu gebracht hatte, das gemeinsame Kind sowohl nach dem Schöpfer und als auch nach dem besten Zeichner seiner Lieblingscomicfigur zu benennen … (*) Ach ja, sie hatte schlicht eine Wette verloren und immerhin soviel Humor gehabt, anschließend nicht zu kneifen. „Immer noch besser als Albert”, pflegte sie zu sagen und in der Tat war Robert – auch wenn ihn Pfanni daheim tatsächlich Bob rief, - zwar etwas unmodern, aber noch im Rahmen. UND auf jeden Fall besser als 'Bronson', was ihm einige Internetforen immer wieder andichten

wollten! Jetzt hörte man wieder Schritte vom Flur und Vince steckte seinen Kopf zur Tür rein. „Alles klar hier?” „Ja, komm rein, bevor wir noch Niels aufwecken!”, sagte ich in diesem gebrüllten Flüsterton wie im Kino und er schloss die Tür hinter sich. „Du hast schlecht geträumt”, stellte er fest und was sollte ich anders machen als nicken. Da setzte er sich auf meine andere Seite, so dass ich nun von den beiden Dunkelhaarigen eingerahmt wurde und ich entspannte mich ein wenig, sank zurück auf das Kissen. „Wisst ihr, was mir am Meisten zu schaffen macht? Ich meine, abgesehen von der Angst, dass ihm ...” Pfanni drückte meine Hand ganz fest, vielleicht auch, um mich zum Schweigen zu bringen.

„Also, dieser Gedanke, dass wir uns im Streit getrennt haben. Und er jetzt vielleicht wirklich fürchtet, ich könnte ihn nicht mehr lieben!” Der Drummer runzelte die Stirn. „Warum in aller Welt sollte er das denn glauben?” Ach ja, er wusste ja noch nicht alles. So erzählten wir ihm in Grundzügen von unserem Missverständnis und der folgenden Eskalation, meiner Kurzschlusshandlung, aber auch von den Tagen davor, an denen mir Jens seine seltsamen Gedanken präsentiert hatte. „Tja”, meinte Pfanni dazu, „mir als Altershäuptling brauchst du dazu nichts zu erzählen, die Ängste sind mir nicht unbekannt. Susie ist auch ein paar Jährchen jünger als ich.” „Ihr habt doch alle einen an der Klatsche!”, begehrte ich auf. „Habt ihr denn kein Vertrauen in uns? Oder ...”, mir kam ein delikater

Gedanke, „seid IHR es auf einmal, die den Jüngeren gar nicht haben wollen? Wollte Jens mir das damit sagen, dass er sich lieber was in seinem Alter suchen will? Dass er gar keine Angst hat, ICH sei seiner überdrüssig, sondern dass ER mich nicht mehr haben will?!!” Fast schon wurde ich wieder hysterisch, da schüttelte Vince mich sanft. „Stopp, aufhören Cat, red nicht so einen Quatsch! Rollen liebt dich über alles, das weiß ich.” „Das dachte ich bisher auch, dass ich das weiß”, nuschelte ich, doch Pfanni schüttelte energisch den Kopf, rutschte auf mein Kissen an meine Seite. „Nee, wirklich, er liebt dich, hätte er euch sonst auf der Vernissage geoutet?” Du liebe Zeit, das war ja in dem ganzen Chaos für mich beinahe unter gegangen, wahrscheinlich war das schon ein bisschen durch den

Blätterwald der Zeitungen gegangen, aber auch der Urheber war ja 'nach Diktat verreist' gewesen. Doch die zwei Männer hier hatten wohl recht, wenn das kein Liebesbeweis war?! Unwillkürlich musste ich auch an das Konzert im letzten Jahr denken, das erste, an dem ich teilnehmen konnte, Waldbühne im August. Viele Menschen und enges Gedränge machen mir immer noch Angst, deswegen hatte ich es einfach nicht bis in die ersten Reihen geschafft. Die Security bot mir zwar immer wieder mal an, mich einfach zu ihnen in den Graben zu stellen, aber wie sähe das denn aus? Außerdem wollte ich nicht im Weg sein. Deswegen hatte ich mich erst ganz zum Schluss, zur endgültigen Verabschiedung, unter dem Einsatz aller Kräfte ganz nach vorne gekämpft und ich weiß noch, wie Jens' Augen leuchteten, als er mich dort tatsächlich

entdeckte. Für alle anderen natürlich denkbar kryptisch war ihm ein spontanes „Hello Kitty!”, raus gerutscht und bei dem Blick, in dem er mich gleichzeitig gebadet hatte, verzieh ich ihm das sofort. Andy hatte mich dann auf seinen Wink hin sofort anschließend raus gezogen, diesmal hatte ich es mir gefallen lassen und war hinter die Bühne zu den drei Musketieren aber vor allem zu meinem blonden Helden geeilt ... Oh Gott, wie er mir fehlte! Den Tränen nah drückte ich mein Gesicht in Pfannis Brust, während Vince mir liebevoll übers Haar strich. * Und nun saß ich hier, im Büro vom Leiter der Abteilung 3 persönlich, Ministerialdirektor Clemens von Goetze. Eine Sekretärin hatte mich

freundlich empfangen und mir einen Kaffee angeboten, den ich dankend annahm. Koffein war eh im Moment mein Hauptnahrungsmittel, schon die letzten Tage in Namibia. Ich hatte mit einem der normalen Schergen gerechnet, aber man durfte nicht vergessen, dass mein Mann – und nach dem Outing anscheinend auch ich – einen gewissen Promistatus in Deutschland hatte, das machte meinen Besuch wichtig genug für den Chef. Doch sehr viel mehr als alle anderen konnte auch von Goetze mir nicht erzählen. Auf jeden Fall war es jetzt sicher, dass in diesem Fall tatsächlich die FARC verantwortlich war. Es waren interessante Verhältnisse da unten in Süd- oder besser Lateinamerika, denn die Information stammte ganz offiziell von der Guerillaorganisation selber, die in geradezu höflichem Ton die Regierung über die jüngsten

Entführungen informiert hatte, damit sie dies an die betroffenen Länder und Verwandten weiter leiten konnte. „Aha”, machte ich, „aber sonst? Welchem Zweck dienen die Entführungen diesmal, was sind die Forderungen, was wollen die?!?!?”, sprudelte es aus mir heraus und von Goetze lehnte sich in seinem riesigen Polstersessel zurück. Grad dass er seine Hände nicht wie Frau Merkel aneinander legte … Obwohl, bei ihm hätte es sowieso eher nach Monty Burns ausgesehen! „Wissen Sie, Frau Kosim, es ist kompliziert”, begann er und ich schnaubte leise. „Ist es das nicht immer?!” „Da haben Sie recht”, nahm er den Faden todernst wieder auf. „Fakt ist jedenfalls, dass bisher allein das Schreiben mit der Information über die Entführung an sich vorliegt. Keine

Forderungen ansonsten, keine Drohungen, nichts.” „Ach kommen Sie”, senkte ich meine Stimme und versuchte, ihn aus der Reserve zu locken, „da gibt es doch sicher was, was vielleicht noch nicht so offiziell ist, oder? Ich habe eine Zeitlang auf den Cayman Islands gelebt, das ist nicht weit weg und ich kenne ein paar Strukturen dort ...” Er sah mich einen Moment lang an, schüttelte dann nachdrücklich den Kopf. „Ich verstehe. Aber sie müssen wissen, Präsident Santos ist sehr an guten Beziehungen zu uns interessiert. Er steht unter seinen Nachbarstaaten etwas isoliert da, nicht zuletzt seit die Regierung damals die Aktionen gegen die Aufständischen teilweise auf fremden Territorium durchgeführt hat. Ich bin deshalb sicher, wir würden es sofort erfahren, wenn sein Kabinett Näheres

wüsste.” Ich brummte etwas Unverständliches, aber wahrscheinlich musste ich ihm da vertrauen. Der Botschafter musterte mich nun einen Augenblick lang, runzelte dann die Stirn. „Sie müssen entschuldigen, aber ich werde das Gefühl nicht los, Sie schon zu kennen! Frau Kosim, haben wir uns schon mal getroffen?” „Nein, nicht dass ich wüsste”, entgegnete ich. „Es tut mir leid, aber Sie kommen mir so seltsam vertraut vor … Und eigentlich Dr. Kosim, oder?” „Naja, es ist ein halb ausländischer Titel, deswegen führe ich ihn offiziell nicht.” Aber woher wusste er es dann? Hatte man vorher über mich recherchiert?! Dann fiel mir etwas ein. Entweder er hatte kürzlich die Klatschpresse verfolgt oder … „Sagen Sie, schaut bei Ihnen jemand ab und zu die

Zoosendungen in der ARD?” „Ja natürlich, daher kommen Sie mir so vertraut vor!”, lachte er. „Ich schaue das hin und wieder mit meiner kleinen Tochter. Sie liebt den Berliner Zoo und mir gefällt, wie verständlich Sie immer Ihre Arbeit erklären.” „Danke, sehr nett”, antwortete ich und dachte wehmütig an die Dreharbeiten zurück. Da war noch alles in Ordnung gewesen … Ministerialdirektor von Goetze schien etwas zu überlegen, dann schien er sich zu einem Entschluss durchgerungen zu haben. „Frau Kosim, das, was ich Ihnen jetzt anbiete, ist nicht jedem vergönnt, aber auch nicht alle landen hier bei mir. Wenn Sie möchten, können Sie den Originaltext der Mitteilung lesen. Ich vermute mal, wenn Sie dort gelebt haben ...” „Ja, keine Sorge, mein Spanisch dürfte ausreichen”, bestätigte ich hastig und bemühte

mich, nicht nach dem Blatt Papier zu schnappen wie ein gieriges Kind. In dem Brief waren fein säuberlich die Namen der Entführten sowie der Zeitpunkt ihrer Gefangennahme aufgelistet, zusammen mit der Bitte, die üblichen Stellen zu informieren. Und zum Schluss stand natürlich 'Viva la Revolución!' Die Entführung Jens' bzw. der Zeitpunkt, zu dem die Guerillaorganisation per Depesche die Mitteilung gemacht hatten, lagen inzwischen ein paar Wochen zurück. Ich rechnete mit gerunzelter Stirn nach und schalt mich eine dumme Pute, aber der Gedanke war ganz klar da: Dann hatte Jens vielleicht gar nicht absichtlich nicht angerufen, sondern war einfach verhindert gewesen

...! Verrückt, in so einem Moment daran zu denken, dass Jens deswegen nicht angerufen hatte, nicht weil er sauer auf mich war, sondern weil er gekidnappt worden war! Dabei würde ich doch lieber ein Jahr lang Funkstille halten, wenn er dafür nur wieder ok wäre!! Und doch … Von Goetze räusperte sich und ich sah auf. Einer Eingebung folgend fragte ich „Könnte ich eine Kopie der Nachricht bekommen?” „Nun ja”, begann er und bereute wahrscheinlich schon, sie mir zu lesen gegeben zu haben, „das ist eigentlich nicht möglich ...” Da setzte ich mein niedlichstes Gesicht auf und sah ihn mit großen Kulleraugen an. „Ach bitte, es wäre irgendwie etwas ... etwas, an dem ich

mich festhalten kann, ich muss ja sicher auch demnächst wieder zur Arbeit in den Zoo ...” Er grinste wissend. „Also gut”, meinte er dann und ging zum Erstaunen seiner Sekretärin persönlich zum Kopierer. Gerade, als er zurück kam, vibrierte mein Handy. „Sie erlauben, dass ich da kurz drauf schaue?”, bat ich. „Die Familie ist im Moment ja ziemlich im Aufruhr ...” Der Mann nickte und ich sah, dass es eine SMS war, von Stanley! -- Katy, ich bin endlich hier + warte unten, soll ich hochkommen? -- -- Nicht nötig, ich komme jetzt runter. --, schrieb ich schnell zurück, verabschiedete mich dann von Herrn von Goetze und verließ das Büro mit seiner Direktdurchwahl in der Tasche. Und der zusammengefalteten Kopie der Nachricht in der Hosentasche, die wie Feuer darin

brannte. Warum hatte ich das Ding gewollt? Zum einen, weil ich solche Sachen gerne schwarz auf weiß hatte, zum anderen, naja, es stellte im Moment die einzige Verbindung zu Jens dar … Und außerdem hatte ich etwas darauf entdeckt, über das ich nachdenken musste. Unten auf dem Vorplatz suchte ich mit den Augen nach Stan und entdeckte seinen Blondschopf am Rande des Platzes. Noch vor ein paar Wochen hätte ich die Beiden vielleicht auf den ersten Blick verwechselt, heute wusste sogar mein Unterbewusstsein, dass es nicht mein Mann sein konnte. Als ich auf Stanley zu steuerte, war sein Anblick sogar im ersten Moment etwas befremdlich für mich, doch als ich vor ihm stand, zog sich mein Herz schmerzlich zusammen und ich warf mich

spontan in seine Arme. Er war wenigstens ein Stück von Jens, irgendwie … „Holla!”, machte er und erwiderte die Umarmung überrascht. „Du bist doch sonst nicht so für's Knuddeln! Ach so, Moment, dass ist weil ich wie mein Vater aussehe ...” „Oh nein, eher im Gegenteil”, erwiderte ich ernsthaft, „aber ich bin einfach nur froh, dass du jetzt da bist. Dass wenigstens du wohlbehalten aus der Fremde zurück gekommen bist!” Stan schubbelte mir noch unbeholfen, aber verständnisvoll den Rücken. „Verstehe. Aber keine Sorge, wo ich war, ist es sicher. Aber was jetzt, soll ich mal runter fliegen, ich hab ein paar Connections in Südamerika, vielleicht erreiche ich etwas?!” „Ja klar”, schnaubte ich, „damit sie dich auch noch schnappen!” Der Gedanke ließ mich fast

panisch werden, aber ich zeigte es nicht. „Nein, warte noch, ich muss dir was zeigen. Lass uns in ein Café gehen.” Dort fragte er, nachdem wir bestellt hatten „Sag mal, weiß Oma eigentlich schon Bescheid?” „Also ehrlich gesagt, hat Julia dafür plädiert, sie da unten in Südspanien lieber noch nicht zu informieren. Und die dürfte ihre Mutter am besten kennen, schätze ich ...” Entrüstet protestierte er. „Aber sie hat als seine Mutter doch auch ein Recht, davon zu wissen, findest du nicht?!” Ich zuckte mit den Schultern, denn irgendwie hatte ich nicht die Kraft, darüber zu entscheiden und es daher wie gesagt meiner Schwägerin überlassen. Ihre Mutter war ganz in Ordnung, aber ich hatte sie kaum drei Mal getroffen und außerdem konnte ich eine überbesorgte Mama hier im Moment ganz bestimmt nicht

brauchen! „Mach du es, wenn du es für richtig hältst, Stan. Aber jetzt schau dir bitte mal das hier an!” Damit reichte ich ihm die Kopie aus meiner Tasche und gab sie ihm zu lesen. Mit der Sprache hatte ja auch er keine Schwierigkeiten, denn Spanisch war durch seine Arbeit für ihn schon fast seine dritte Muttersprache (neben dem Englisch seiner Mutter). Gar nicht selten hatten wir drei, Jens, ich und er, Spanisch schon mal als eine Art Geheimsprache unter uns benutzt, wenn kein anderer was mitkriegen sollte. Stan studierte das Papier ausgiebig, hob dann den Kopf und seufzte. „Tja, typisch für diese linke Guerilla, die übliche Propaganda halt ...” Energisch schüttelte ich meinen Kopf. „Na eben nicht! Fällt dir denn gar nichts an dem Text

auf?!” (*) Robert (Bob) Kane, Neil Adams; BATMAN!

6. Kapitel

Ratlos sah er zwischen dem Blatt und mir hin und her. „Ähm, nein, eigentlich wie meistens, Kampf dem Kapitalismus, Rechte für alle … Sie sind vielleicht etwas blumiger unterwegs als sonst, aber ansonsten ...” Ich grinste, ich konnte es ihm nicht übel nehmen. Aber gleich würde er mich wahrscheinlich verstehen. So tippte ich auf den Abschnitt, der direkt unter den Namen der Entführten begann. Interessanterweise stand Jens' Name als letzter in der Liste, obwohl sie ansonsten alphabetisch geordnet war und es einen Harold Ziekollski unter den Entführten gab. Darunter hieß

es -- Si usted permite, queremos que se ocupe de nuestras opinión. La sua no vale nada. Si fuera posible, se debe asumir nuestra verdad! La sua no vale nada. Vamos a convencer a usted para compartir su riqueza! -- „Kommt dir das also nicht bekannt vor?”, fragte ich, zückte aber gleichzeitig mein Smartphone, denn Stan sah immer noch irritiert aus. Rasch suchte ich eine passende Seite und hielt ihm das Gerät unter die Nase. „Hier, lies das mal. Ist

zwar Portugiesisch, aber du wirst es sehen ..” Halblaut las er und schaute dann hoch. „Moment, das ist doch ...” „Jens' Spezial-Lied auf Portugiesisch, ja. Erinnert dich das nicht an was? Ich meine, siehst du nicht die Ähnlichkeit?!!” Noch einmal studierte er das Blatt. „Ja, der Aufbau ist ähnlich, aber worauf willst du hinaus? Hat Dad damals alte Flugblätter von denen benutzt?” „Oh ...” Jetzt war ich verunsichert und wusste nicht, ob ich mit meiner Idee richtig lag. Da gab es nur eins. „Hm. Stan, sei so lieb und zahl, wir müssen nach Hause, ich muss was nachsehen!” Man merkte ihm an, dass ihn meine Sprunghaftigkeit etwas irritierte, aber im Moment hatte ich wahrscheinlich Dispens. Auf

dem Weg zur Remise fragte er deshalb vorsichtshalber „Bist du denn sicher, dass du zu euch nach Hause willst? Ich dachte, du wohnst im Moment extra bei Vince?” „Ja, Nachts würd ich auch noch nicht daheim sein wollen”, gab ich zu, „aber was ich brauche, ist nun mal da. Ist kein Problem, du wirst schon sehen.” Trotz dieser zuversichtlichen Aussage war es erst mal komisch, in unser leeres Haus zu kommen. Man hatte förmlich das Gefühl, die alten Mauern spürten die Notlage ihres Besitzers und strahlten daher eine gewisse Tristesse aus. Deswegen verschwendete ich nicht viel Zeit und marschierte gleich auf den Wandsafe im Büro zu, dessen Kombination ich dank Jens' Vertrauen zu mir kannte. In dem Ding waren ein paar wichtige Papiere und

Unterlagen, etwas Bargeld für den Notfall und dann noch etwas an und für sich sehr unscheinbares, aber für Jens sehr wertvolles. Das war es auch, auf das ich es abgesehen hatte: Seine geliebte China-Kladde! Beziehungsweise auf eine von vielen. Seit jeher, hatte er mir anvertraut, hatte er sich so ziemlich alles, was ihm zu einem Song durch den Kopf gegangen war, etwa den Ort, an dem ihm die Idee gekommen war, weitere Gedanken, Hintergründe, Inspirationen, auf diverse Zettel notiert. Wenn das Lied fertig war, wurde das alles in so einer Kladde zusammengefasst und zum Schluss kam der veröffentlichte Text. Es gab inzwischen einige davon und die blaue war für seine Soloprojekte, das wusste ich. Wenn ich also irgendwo die gewünschte Info finden würde, dann hier! Mit der Kladde vor der Nase sank ich auf dem

Bürosofa nieder, ignorierte dabei den Gedanken, dass wir darauf schon öfter gekuschelt hatten und suchte nach den Seiten, die ich brauchte. Dabei vergaß ich beinahe meinen Begleiter, bis der sich endlich ungeduldig räusperte. „Sag mal, Katy, ich meine Catherine, wonach suchst du eigentlich genau?!” „Bleib ruhig bei Katy, ich weiß du magst es. Und ich suche nicht mehr, ich habe es schon gefunden.” Mit der Hand klopfte ich auf den Platz neben mir und er pflanzte sich zu mir auf die Couch. „Ich hab nachgeschaut, ob du vielleicht Recht hast mit der Herkunft des Textes, aber dem ist nicht so. Bei seinen Texten ist er hier in der Kladde immer schonungslos ehrlich, selbst wenn er mal was irgendwo 'geklaut' hat. (Das war auch der Grund, warum die gesammelten Bücher im Safe lagen.) Wäre die Inspiration von alten Pamphleten gekommen, hätte dein Vater

das aufgeschrieben. Aber hier ist nichts davon vermerkt. Also glaube ich, dass ich mit meiner Vermutung gar nicht mal so falsch liege.” Geduldig fragte Stan „Und die wäre?” „Junge, jetzt enttäuscht du mich aber ein bisschen. Sagt dir dein journalistischer Spürsinn da denn gar nichts?”, neckte ich ihn und zog die Nachricht wieder hervor. „Schau mal, du sagst selber, dass die FARC hier um einiges 'blumiger' unterwegs ist als sonst.” „Hm”, machte Stan und runzelte die Stirn. „Außerdem halten sie sich in der Namensliste eigentlich strikt an ihren alphabetischen Aufbau, mit einer Ausnahme ...” „Stimmt, das ist mir auch schon aufgefallen”, brummte er, vielleicht ein bisschen beleidigt, weil ich seinen Scharfsinn angezweifelt hatte. „Ich dachte halt, vielleicht ist Dad als letzter dazu gekommen und hängt deswegen drunter

...” „Möglich”, gab ich zu. „ODER … Wie gesagt, Jens Kosim steht zum Schluss der Liste, direkt über weiteren Parolen. Und die zeigen plötzlich eine eklatante Ähnlichkeit mit Jens' Textaufbau. Pass auf: -- Wenn ihr erlaubt, wollen wir, dass ihr unsere Meinung übernehmt. Eure taugt nichts. Wenn es möglich wäre, solltet Ihr unsere Wahrheit annehmen! Eure taugt nichts. Wir werden euch überzeugen, euren Reichtum zu teilen. -- ”, übersetzte ich grob und sah ihn an. „Das kann einfach kein Zufall sein, verstehst du?!” Langsam zeigten sich Anzeichen der Erkenntnis auf seinem Gesicht, welches Jens' so ähnlich sah. „Du meinst

...” „Genau”, sprudelte ich hastig hervor, „irgendjemand hat erkannt, dass 'Jens Kosim' Künstler und berühmt ist hier in Deutschland! Deswegen steht sein Name auch als letzter. Das ist nicht einfach nur Blabla. Das ist eine Botschaft!” Wir verließen mein Heim und eilten wieder zu Vince, wo wir eine große Versammlung einberiefen. Julia kam mit ihrem Mann Sven sowie den Kindern Tobias und Carola, um die sich netterweise Vincentes Freund Jerôme kümmerte. Dieses Zuckerstück aus der Modellbranche konnte hervorragend mit Kindern und es war schade für ihn und seinen Schatz, dass es mit der Adoption von Kindern durch schwule Paare hier noch nicht so weit her war.

Alle versammelten sich im Wohnzimmer und Niels drängte sich eng an mich. Es war ein bisschen wie ganz früher, als er noch so klein und ich sein einziger Halt in dieser Welt gewesen war. Aber ich akzeptierte es gern, schließlich liebte ich meinen kleinen Bruder und hatte indirekt wegen ihm, auch wenn er das gar nicht wusste, einiges auf mich genommen. Dafür war ich allerdings mit dem wundervollsten Mann im Universum belohnt worden. Der MIR ein großer Halt im Leben war und den ich nun entsetzlich vermisste – und außerdem noch um sein Leben fürchten musste ... Atemlos erzählte ich von meinem Treffen mit von Goetze, zeigte ihnen die Kopie der Botschaft, wobei meine Hände so zitterten, dass

Pfanni auf meiner anderen Seite sie mir abnahm und beruhigend über meinen Rücken strich. Stan, der nach anfänglicher Skepsis nun voll auf meine Theorie eingestiegen war, erläuterte diese und natürlich guckten erst mal alle verwirrt. Dann stieß Vince einen Pfiff zwischen den Zähnen aus und sagte „Gib mal her.” Er las sich alles noch mal durch. Als sehr junges Kind hatte er ja selber noch die Unruhen in seinem Heimatland erlebt, später hatte er viel aus Erzählungen der Eltern gelernt und verfolgte auch heute noch die Politik auf diesem Kontinent mit Aufmerksamkeit. Jedoch war auch er überrascht gewesen von der neuen Entführungswelle, die war bisher anscheinend unter Ausschluss der Öffentlichkeit gelaufen. Darauf spielte er an, als er nun sagte „Ich bin geneigt, Catherines Theorie zu glauben. Warum?”, nahm er die Rückfrage vorweg, „Weil diese Guerilla es sonst selber an den großen

Nagel hängen würde. Also, wenn es wirklich nur um den sozialistischen Kampf ginge. Aber so ...” Sven guckte ein wenig ratlos. „Ja, aber was denn dann?” „Geld”, hauchte seine Frau tonlos. „Das war schon immer Jens' Sorge, dass mal irgendjemand auf die Idee kommt, ihn zu erpressen. Deswegen hielt er auch gerne sein Privatleben unter Verschluss, nicht nur, um seine Ruhe zu haben.” „Himmel, warum hat er uns denn dann geoutet?!”, entfuhr es mir. Zärtlich streichelte Julia meinen Arm. „Ich denke, weil er dir so seine Liebe beweisen wollte. Du solltest nicht meinen, er würde dich verstecken, nicht zu dir stehen. Er war – er ist doch so stolz auf dich!” Ein riesiger Kloß bildete sich in meinem Hals.

Und ich blöde Kuh mache einen Riesenaufstand, weil am Abend der Vernissage die Bilder nun mal wichtiger waren als ein Gespräch, das man auch später hätte führen können. Verdammt! Pfanni mischte sich nun ein. „Ihr meint also, das ist ein versteckter Hinweis darauf, dass sie einfach nur Lösegeld wollen? Nur von Jens?!” Stan schüttelte den Kopf. „Nicht nur von ihm. Ich bin die übrigen Namen noch mal durch gegangen. Gut, Katy”, grinste er mich kurz an, „dass du den Herrn Ministerialdirektor anscheinend so becirct hast, dass er vergaß, die zu schwärzen. Ein paar hab ich sogar erkannt, andere grade gegoogelt. Da sind noch ein paar andere reiche Säcke dabei und ich bin mir inzwischen sicher, dass es für jedes Land eine eigene Liste gibt, wo jeweils ein bestimmter Name zuletzt steht. Dads Lied war da ein willkommener

Aufhänger.” Nach und nach akzeptierten auch die anderen diese Idee, aber dadurch wussten wir auch nicht recht weiter, bis es jemand laut sagte „Und was jetzt? Das ist so toll versteckt, ob da außer uns überhaupt jemand drauf kommt?!” „Ja genau”, rief Niels mit dem Eifer der Jugend (er ist zwar kein Teenager mehr, aber halt doch auf ewig mein Kleiner), „müssten wir da nicht den Behörden oder den anderen Betroffenen Bescheid geben?” „NEIN!” Das kam von mir und ich fühlte mich regelrecht panisch. „Nein um Gottes Willen! Um JENS' Willen!! Ihr wisst doch, wie Staat und Polizei bei Erpressung reagieren. Kein Draufeingehen, kein Verhandeln, keine Zahlung. Der Rechtsstaat lässt sich nicht erpressen, das würden sie sagen, wenn es offiziell würde und sie könnten sogar unsere Konten sperren!”,

ereiferte ich mich und Niels sah mich mit großen Augen an. „Echt?” „Italien tut's”, murmelte ich, denn bei Entführungen durch die Camorra war genau das schon der Fall gewesen. Wer konnte mir also sagen, ob Frank Walter Steinmeier Herrn Kosim nicht genauso im Stich lassen würde wie weiland Herrn Kurnaz in Guantanamo?!? „Hart”, murmelte Sven. Der Gute, er hatte von jeher ein weiches, liebes Herz, wofür ja auch seine Berufswahl zum Physiotherapeuten sprach, doch heute schnauzte ich ihn an: „Ja, hart, aber siehst du das wirklich anders? Würdest du das Risiko eingehen, nichts tun zu können, wenn es um Julia oder die Kinder ginge? Häh!?” Er fuhr erschrocken zurück und wedelte abwehrend mit den Händen, Julia sah mich in

einer Mischung aus Ärger und Erstaunen an. „Catherine! Also wirklich-” „Nein nein, lass nur”, sagte nun Sven ruhig und griff nach ihrer Hand. „Bei aller Menschenfreundlichkeit, ich fürchte, sie hat nicht Unrecht. Ich würde auch alles für euch tun und andere Menschen, nun ja, sie wären mir nicht egal, aber … sie stünden sicher nicht an erster Stelle ...” „Danke Sven”, nuschelte ich und fügte versöhnlicher hinzu. „Wenn wir irgendwas genaueres wissen, finden wir ja vielleicht einen Weg, zumindest die Angehörigen was wissen zu lassen, hm?!” „Okay”, sagte nun Pfanni in die etwas ungemütliche Atmosphäre hinein, „damit wäre klar, was wir nicht machen, aber was sollen wir denn dann eigentlich machen? Ich meine, haben wir irgendwelche Kontakte, können wir auf

irgendjemanden von unserer Südamerikatour zurück greifen?” Vince schüttelte den Kopf. „Nein Mickey, in Kolumbien waren wir doch nicht, du Tüffel!” „Ja was dann? Wir können wohl schlecht Shakira um Hilfe bitten, oder?” Ich bekam einen spontanen Lachanfall, den er wohl beabsichtigt hatte, der aber natürlich fast schon ins hysterische abkippte. Ausgerechnet die Sängerin, die ihnen damals so auf die Nerven gegangen war, dass sie in einem Lied verewigt wurde! Eine Ehre, die sie sich inzwischen mit Mariah Carey und vor allem der noch viel schlimmeren Rihanna teilte. Nur, dass die nicht so viel Gutes in ihren Heimatländern taten, wie es die kleine Blondine zugegebenermaßen inzwischen tat. Nun räusperte sich Stan. „Ich denke, ich kann

ein paar Beziehungen zu einer der Redaktionen dort ausnutzen und mal ein bisschen nachhaken. Ist ein heikles Thema, deswegen solltet ihr darüber besser Stillschweigen bewahren, aber ich weiß, dass die öfter mal fingierte Anzeigen aufnehmen.” „Fingierte Anzeigen?” Niels war irritiert, aber bei weitem nicht mehr so aggressiv Stanley gegenüber wie gewohnt. Die momentane Krise hatte sie wohl zu einem Waffenstillstand bewogen. So nickte auch Jens' Sohn nur bedächtig. „Ja, damit werden oft Botschaften dort unten ausgetauscht, wenn die Gefahr von Abhörung etc. besteht. Oder wenn man gar nicht weiß, wo der andere sitzt, so wie wir nun. Sie leugnen es offiziell, aber ich hab noch den einen oder anderen Gefallen ausstehen, den ich einfordern könnte ...” „Oh Gott, würdest du das tun?!”, keuchte ich

und Stan fuhr zu mir herum. „Du liebe Zeit, Katy, was denkst du denn?!” Jetzt nahm er meine Hände in seine und sah mir ernst in die Augen. „Es geht hier schließlich um meinen Vater! Und um dich; und ihr zwei seid mir mit die zwei liebsten Menschen auf der Welt ...” Abgesehen von seiner leiblichen Mutter, nahm ich an, und nickte dankbar und gerührt, wieder einmal stiegen mir die Tränen auf. Julia bemerkte das und klatschte in die Hände. „Gut, dann bleiben wir erst mal dabei, Stan soll mal seine Fühler ausstrecken. Wir bleiben alle in Kontakt, aber ich glaube, Cathy braucht jetzt erst mal ein bisschen Ruhe, okay?! Am besten, du legst dich in deinem Zimmer ein wenig hin, Liebes.” Normalerweise hätte ich an dieser Stelle wahrscheinlich ob dieser Bevormundung heftig

protestiert. Aber trotzdem, dass im Moment eine gewisse Portion Adrenalin in meinen Adern prickelte, weil sich gerade eine Möglichkeit aufgetan hatte, wie wir aktiv werden konnten, fühlte ich mich tatsächlich gleichzeitig irgendwie ausgelaugt und erschöpft. Deswegen nickte ich einfach dankbar und unsere kleine Versammlung löste sich auf. * In meinem Zimmer ließ ich mich einfach quer aufs Bett fallen, doch an richtige Ruhe war anscheinend nicht zu denken. Statt dessen fuhr mein Kopfkino Achterbahn, mein Herz zog sich wieder einmal beim Gedanken an meinen Liebsten zusammen. Oh Jens, wo bist du, wie geht es dir? Spürst du, dass ich an dich

denke?! Ich presste mein Gesicht ins Kopfkissen und meine Gedanken versanken in Erinnerungen. Zum Beispiel an die Zeit kurz nachdem Jens mich damals in Namibia wieder gefunden hatte. An sein Geständnis, mich schon so lange Zeit geliebt zu haben, mich aber um meinetwillen losgelassen zu haben ... Es war, als wäre ihm in den Tagen danach erst so richtig bewusst geworden, was er da riskiert hatte und er war ein paar Wochen fast nicht von meiner Seite gewichen! Im Grunde müsste er in dieser Zeit so einiges über Tiermedizin gelernt haben ... Und natürlich hatte ich seine Hingabe genossen, ging voll in unserer Liebe auf! Denn ich hatte akzeptiert, dass seine Entscheidung damals zwar schmerzhaft für beide, aber richtig

gewesen war. Nur so konnte ich ihm nun nicht mehr nur als verängstigtes junges Mädchen entgegen treten, sondern als wesentlich selbstbewusstere junge Frau, was unserer zugrunde liegenden Freundschaft keinen Abbruch tat. Manchmal hatte ich ihn auch ertappt, wie er Nachts wach lag und mich einfach nur anschaute. Dann hatte ich ihn still angelächelt und mit der Hand an meine Seite gezogen, um ihn spüren zu lassen, dass ich durchaus real war ... . . . Den Rest des Jahres und jenes darauf hatten wir uns viel auf uns konzentriert und Rollen D.

Rubel war auch in dieser Zeit nicht auf Tour gewesen. Statt dessen hatten wir meine Rückkehr nach Deutschland vorbereitet, während Jens regelmäßig zwischen dort und Namibia pendelte. In dieser Zeit war auch die Entscheidung gefallen, nach Berlin zu übersiedeln. Es war Jens' Geburtsstadt, zu der er nie den Kontakt verloren hatte und außerdem grad so sprudelnd vor Leben. Und es verminderte die Möglichkeiten, gewissen Leuten in Hamburg zufällig zu begegnen … Diese Angst, in Hamburg nicht stressfrei auf die Straße gehen zu können war auch der Grund gewesen, warum ich mich bisher nicht alleine auf den Weg in die Heimat gemacht hatte, obwohl ich mich danach sehnte, mein Brüderchen wieder einmal persönlich zu treffen. Toni war zwar zu der Zeit noch immer

im Knast, aber die meisten seiner Männer waren auf freiem Fuß, arbeiteten nun für andere Kiezgrößen. Und dann war da ja auch noch Judith … Keine Ahnung, wie sie nun hieß. Und keine Ahnung, ob sie noch in Hamburg wohnte, aber die Wahrscheinlichkeit war groß, deswegen wollten wir unseren Lebensmittelpunkt verlagern. So organisierte Jens den Umzug allein und ich musste nur ein einziges Mal in diese Stadt zurück kehren, nämlich um meinen Bruder (und auch unseren Hund Jake) aus den Fängen meiner Mutter zu befreien. Ich hatte keinerlei Bedenken, ihr dafür Geld anzubieten, welches mir Jens großzügig zur Verfügung stellte, denn ich wusste, sie hätte den damals noch minderjährigen Niels ansonsten liebend gern als Waffe gegen mich

eingesetzt. Und Cornelia hatte keinerlei Skrupel, die Kohle anzunehmen. Noch etwas übrigens, von dem Niels bis heute nichts weiß. Ein bisschen hatte ich ja bedauert, das alte Haus, aus dem Jens schon länger fort gezogen war, nicht wieder betreten zu können, musste ich doch immer mal ans erste Mal denken, wie ich mich damals heran geschlichen und Tinkerbell vor dieser grässlichen Gerlinde gerettet hatte. Überhaupt Tinkerbell … Jens hatte mir schon berichtet gehabt, dass sie inzwischen deutliche Alterserscheinungen zeigte. Und vor eben jener Reise, die ihn überraschend zu mir nach Harnas führte, hatte es sogar eine Zeitlang Spitz auf

Knopf gestanden! Doch sie hatte sich kurz vorher soweit erholt, dass er sie hatte mit einigermaßen gutem Gewissen bei Julia lassen können. Als er nach Hause kam bzw. direkt zu Julias Haus fuhr, hatte er schon genügend 'Munition' dabei, um die Kleine gebührend zu begrüßen, die laut Julia in der langen Zeit seiner Abwesenheit so manch schlechten Tag gehabt hatte. Die Munition war in erste Linie eine große Schachtel Frolic. Das war nämlich die Besonderheit der kleinen Diva gewesen, immer, wenn Jens von einer seiner längeren Reisen zurück kam (seltsamerweise nicht, wenn er beruflich auf Tour war), stellte Tinkerbell in Julias Haus erst mal die Ohren auf Durchzug, benahm sich, als sei Jens ein Fremder und kam nur sehr widerwillig zu ihrem Herrchen. Der musste dann immer auf die Knie gehen und innigst um Abbitte flehen, mit Leckerlis und ganz vielen

Streicheleinheiten und gesäuselten Schmeicheleien. War diese Zeremonie aber erst mal überstanden, war Tinkerbell immer wieder komplett die alte gewesen. Ich musste immer grinsen, wenn er mir von diesem Ritual erzählt hatte. Der große Rollen D. Rubel ganz klein im Staub vor einer kleinen grauen Pudeldame! Doch als er dieses Mal nach Hause kam – nachdem wir uns schweren Herzens doch erst mal voneinander verabschiedet hatten – zeigte sie sich nicht so gewohnheitsmäßig beleidigt, wie sie es sonst immer tat. Nein, sie, um die Julia in den letzten Wochen manchmal ernsthaft gebangt hatte, kam diesmal ziemlich schnell um die Ecke, was ihn schon mal überraschte. Dann begann sie aufgeregt an ihm zu schnüffeln – und gab plötzlich ein lautes Jaulen von sich, gefolgt von einem

regelrechten Freudentanz. In diesem Moment wurde Jens klar, dass er ja noch immer die Sachen trug, in denen er sich von mir verabschiedet hatte. „Süße, jetzt sag bloß, du riechst Catherine?”, fragte er die Kleine leise und wieder jaulte sie kurz auf, während der Schwanz, wie er später erzählte, wie ein Propeller rotierte. Von da an ging es ihr nicht mehr so schlecht und die Geschwister hatten ernsthaft den Eindruck, die alte Hundedame wüsste, dass ich bald wieder kommen würde … Als sie mir davon am Telefon erzählten, bekam ich fast ein wenig Angst, meine Prinzessin beim Wiedersehen irgendwie zu überfordern, hatte Angst, sie würde vor lauter Freude einen Schlag kriegen! Dementsprechend nervös war ich, als ich Tinkerbell wieder sah, doch erneut überraschte

uns der kleine Hund. Natürlich führte sie einen großen Begrüßungstanz auf, beruhigte sich aber dann schnell wieder bzw. trieb mich entschlossen in Julias Wohnzimmer, wo sie erst Ruhe gab, als ich mich aufs Sofa hockte. Dort sprang sie auf den Platz neben mich, schaute in die Runde, die nun aus Julias kompletter Familie, Jens und mir bestand, schnaufte dann einmal tief durch und rollte sich zum Schlafen zusammen. Ich glaube, in diesem Moment war ihre Welt einfach perfekt und vollständig gewesen. Im Folgenden baute sie dann leider von Woche zu Woche ab. Es war, als hätte sie wirklich nur darauf gewartet, mich wieder zu sehen! Ich erkämpfte mir sogar die Möglichkeit, sie und Jake, den sie gnädig mit in die Familie aufgenommen hatte, mit zur Arbeit in den Zoo zu nehmen. Gar nicht mal so ohne Risiko, wenn man gerade erst mit der Arbeit dort anfängt,

aber ich wollte sie so wenig wie möglich alleine lassen, wenn schon ihr Herrchen öfter fort sein musste. Ach ja. Nicht zum ersten Mal verspürte ich das schmerzhafte Ziehen beim Gedanken an den Verlust der süßen Pudeldame, die ein knappes Jahr darauf von uns ging, Jake war ihr kurz darauf gefolgt. Um wie viel schlimmer musste dann- 'HALT!', befahl ich mir selber, als mich der nächste Gedanke wie ein Messerstich durchzuckte und mich verschwitzt hoch schrecken ließ. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es noch immer Nachmittag war. Ruhe hatte ich nicht wirklich finden können, so beschloss ich einen Besuch zu machen, der irgendwie fällig war.

* Ich musste zwei Mal klingeln, bis Sabine die Tür öffnete und überrascht die Augen bei meinem Anblick weit aufriss. „Catherine, du - Ist Rollen auch ...”, begann sie hoffnungsvoll und ihr Blick wanderte in den leeren Flur hinter mir. Ach ja, sie wusste ja von nichts und das sollte auch besser so bleiben; je weniger Leute Bescheid wussten, um so sicherer für meinen Mann. Also schüttelte ich einfach stumm den Kopf und sie zog mit einem ergebenen Seufzer die Tür ganz auf. „Komm rein.” „Danke. Ich will auch nicht weiter stören, ich wollte nur-” „Ach komm, wenn du schon mal da bist, können wir doch einen Tee zusammen trinken. Oder einen Wein, dein Herr und Meister ist ja nicht

da!”, zwinkerte sie mir zu. „Ähm, lieber Tee”, murmelte ich, denn im Moment war mir ganz und gar nicht danach, mir den Kopf mit Alkohol zu vernebeln. Sabine setzte das Wasser auf und plapperte munter drauf los. „So, dann bist du von deiner Mission in Afrika zurück? Gut, Rollen dann sicher auch, warum ist er nicht mit gekommen?! Es gibt einiges zu bereden wegen der Galerie, die will-” „Nein, Jens ist noch nicht wieder hier”, unterbrach ich sie, das war ja auch nicht gelogen, genau wie mein nächster Satz. „Und ich weiß auch nicht genau, wann er zurück kommt, das klärt sich noch.” „Aha”, machte sie unbestimmt und ich sah die Neugier in ihren Augen flackern – und noch etwas. Ich nahm die Tasse Tee in Empfang und fuhr

fort „Ich bin auch erst grade wieder angekommen und eigentlich wollte ich nur kurz vorbei kommen, um das Handy abzuholen.” „Das Handy ...”, wiederholte sie. „Also, dann bist du schon wieder hier, hast aber keine Ahnung, wann Rollen zurück kommt?” „Wie gesagt, das klärt sich noch. Aber ich dachte mir, ich entlaste dich schon mal von dem Teil, dann hat Jens es gleich zur Verfügung, wenn er zurück kommt”, lächelte ich zuckersüß. „Tut mir leid, Catherine, da weiß ich nicht, ob ich es dir geben kann.” Fast wäre mir der hässliche Klimt-Becher aus der Hand gefallen. „Wie bitte?!?!” „Naja, er hat es mir anvertraut, als er abgereist ist und ihr euch heftig gestritten hattet. Woher soll ich denn wissen, dass ihr euch wieder versöhnt

habt?!” „Kannst du nicht wissen. Aber das Wichtigste dabei ist: Es ist egal!” „Na, ich weiß nicht ...”, insistierte sie, was mich langsam aber sicher aufregte. „Aber ich weiß. Es geht dich so oder so nichts an!” „Was?”, schnappte sie und ich zwang mich zu mehr Ruhe. „Du hast richtig gehört, ganz unabhängig davon, ob mein Mann und ich uns ausgesprochen haben, das Teil gehört dir nicht und du gibst es mir nun bitte!” „Aber er … Also, ist doch egal, wo es ist, du hast ja eh dein eigenes, da behalt ich es lieber bis zu Rollens Rückkehr bei mir.” Ein kleiner Wirbel ging durch meinen Kopf und ich fühlte förmlich meinen Blutdruck steigen. So holte ich tief Luft. „Jetzt pass mal auf,

Sabine, im Gegensatz zu mir hast du keinerlei Eigentumsansprüche auf dieses Handy. Du warst ein Notnagel, der zufällig gerade da war, doch jetzt bin ich wieder hier und bitte dich höflich, mir dieses Gerät auszuhändigen!” Ja, ich war gemein in diesem Moment, aber sie wollte mir ja auch anscheinend das Ding verweigern! „Du bist ein echtes kleines Biest”, zischte Sabine nun, „und ich werde einfach nie verstehen, was Rollen an dir findet!” „Geht mir mit dir genauso”, gab ich relativ gelassen zurück, denn Sabine hatte inzwischen in ihrer Handtasche gewühlt und nun warf sie mir Jens' Smartphone verächtlich in den Schoß. „Dann nimm es doch”, knurrte sie, „ist sowieso nutzlos, weil der Akku schon nach ein paar Tagen platt war und dein Liebster mir kein Ladekabel mitgegeben

hatte.” Kurz runzelte ich die Stirn. Warum trug sie es dann in ihrer Tasche mit --- Ein Blick in ihre Augen, die sich noch immer geradezu in das Telefon krallten, und auf den Ausdruck in ihrem Gesicht erübrigten den restlichen Gedanken. Denn hier sah ich endlich bestätigt, was ich schon lange vermutet hatte: Die Gute war einfach rettungslos in Rollen D. Rubel verliebt! Und eigentlich hoffnungslos, denn ich war nun mal seine Frau und bis vor kurzem war ja an unserer Liebe kein Zweifel gewesen. Möglicherweise hatte unser Streit ihr aber einen gewissen Auftrieb gegeben, einen Silberstreif am Horizont … Plötzlich tat Sabine mir leid. Sie saß hier in

dieser in einer seltsamen Mixtur aus moderner Kunst und plüschiger Deko eingerichteten Wohnung und himmelte einen Mann an, der trotz aller Freundlichkeit ihr gegenüber nie der ihre sein würde. Eine kleine Ahnung, wie sich das anfühlte, hatte ja auch ich und wäre es nicht um mein eigenes Liebesglück gegangen, hätte ich sie wahrscheinlich sogar getröstet. So blieb mir nur, aufzustehen, das Corpus delicti einzustecken und mich mit rauer Stimme von ihr zu verabschieden. „Hör mal, es tut mir leid, ich wollte nicht so gemein sein ...” „Schon gut”, nuschelte sie, „ich war ja auch nicht nett.” Ich nickte mit einem Kloß im Hals und setzte erneut an. „Ich weiß auf jeden Fall zu schätzen, was du für u- für Jens tust und er wird sich sicher bei dir melden, wenn er ...” Hier versagte

mir die Stimme und ich räusperte den Druck in meiner Kehle weg, schnappte meine Tasche und strebte dem Ausgang zu. „Also dann. Mach's gut und danke für den Tee!”

7. Kapitel

Draußen war es inzwischen fast dunkel geworden, aber hier in Berlin Mitte pulste das Großstadtleben um mich herum. Ich fühlte mich wie in einer dieser Werbeszenen, in denen jemand wie eingefroren dasteht und um ihn herum alles im Zeitraffer abläuft. Und plötzlich hatte ich Sehnsucht nach Zuhause, nach meinem richtigen Zuhause, dem Häuschen, das Jens ausgesucht hatte und das wir gemeinsam für unsere Bedürfnisse gestaltet hatten. Eine halbe Stunde später war ich dort, zum zweiten Mal an diesem Tag, aber allein. Wie ferngesteuert ging ich ins Wohnzimmer, steckte automatisch beide Handys an die Steckdose und bevor ich mich aufs Sofa warf, drückte ich auf

Play an der Stereoanlage, überließ es dem CD-Wechsellaufwerk, welche von den Lieblings-CDs meines Mannes es wiedergeben würde. Das 5. Klavierkonzert von Beethoven, natürlich. Hätten es nicht wenigstens die Beatles sein können? Doch seltsam, hier in der Dämmerung, mit meinen im Moment weit geöffneten Sinnen, spürte ich zum ersten Mal, was ihn so daran faszinierte und lauschte gebannt, ohne das Licht anzumachen. Statt dessen versank ich in der Musik und es war wie eine Umarmung meines Liebsten … Aus der mich plötzlich rüde mein klingelndes Telefon riss. Stimmt, ich hatte niemandem Bescheid gesagt und so wusste keiner, wo ich war. Schon während ich ran ging und beruhigend auf Vince einredete, schlüpfte ich in meine Schuhe und sammelte den Rest meiner

Siebensachen ein, zog Jens' Handy vom Stecker und gab auch hier gewohnheitsmäßig seine PIN ein. „Ja, Vincy-Bär”, neckte ich den besorgten Chilenen, „ich bin in Ordnung und ich komme auch gleich nach …, äh, komme in Kürze zu dir.” „Na das will ich dir auch geraten haben”, brummte der, „wir haben uns echt Sorgen um dich gemacht! Und Stan surft die ganze Zeit wie ein Wilder im Netz herum und telefoniert mir die Haare vom Kopf!” „Weiß ich und es tut mir ja auch leid, ich hab nicht nachgedacht ...”, entschuldigte ich mich weiter, wusste ja, seine kleine Predigt war nur Ausdruck seiner Sorge. In meiner anderen Hand piepte es und ich sah auf das Display, keuchte dann erschrocken auf. „Oh mein Gott!!!” „Cathy?! Alles in Ordnung?” Jetzt klang er

schon wieder panisch und aus dem Hintergrund hörte man Pfanni 'Was ist? Wo ist sie, geht es ihr gut?', japsen. „HALLO! Cat??!” „Ich ... ich bin okay”, seufzte ich, musste dann unter Tränen lachen. „Aber ich glaube, Stan wird in Kürze nicht mehr so viel Geld vertelefonieren müssen!” * Diesmal gönnte ich mir ein Taxi und trieb den danach gar nicht mehr so grantigen Taxifahrer mit der Aussicht auf eine hohe Extra-Gage zu ungeahnten Höchstleistungen an. Unterwegs las ich immer und immer wieder die Nachrichten auf dem Handy, welche mir im ersten Moment einen Riesenschrecken eingejagt hatte. Denn sie begann mit - - Schatz, bitte erschrick nicht! -

- Angesichts der Tatsache, dass Sabine sein Handy hatte, drehte sich mir beinahe der Magen um. Doch schon im nächsten Satz fuhr er fort: - - Cat, wir haben uns zwar gestritten, aber das ändert nichts an meinen Gefühlen für dich. (…) - - Uff! Mir wurde klar, dass Jens schlicht und ergreifend – mal wieder – unsere Nummern verwechselt hatte. Vom selben Anbieter unterschieden sie sich nur in der letzten Zahl und Mr. Rockstar hatte seit jeher Probleme gehabt, sich die auswendig zu merken. Eingespeichert war sie natürlich, aber diesmal hatte er wohl aus dem Gedächtnis tippen müssen. Und war prompt bei seinem eigenen Handy gelandet, welches aber leider inaktiv in Sabines Handtasche vor sich hin dümpelte

…! Stan und die anderen Männer scharten sich um mich und wir lasen noch einmal die SMS: - - (…) Ich wollte nur, dass du das weißt … Dass du weißt, ich liebe dich nach wie vor … Nun muss ich leider zu etwas anderem kommen, bitte bleib ganz ruhig, aber ich befinde mich im Moment in der Hand einiger Rebellen, die der Regierung hier den Kampf angesagt haben. Allerdings hat einer der Männer in der BRD studiert und mich dummerweise erkannt. So bin ich leider nicht nur ein Pfand im Klassenkampf, sondern auch eine Kuh, die man gerne melken möchte. - - So typisch, seinen trockenen Humor hatte er auch unter den wachsamen Blicken seiner Entführer beim Schreiben dieser Nachricht nicht verloren! Er nannte im Folgenden eine

beträchtliche Summe, nach deren Zahlung man ihn frei lassen würde. Hatte ich also richtig gelegen! - - Sie wollen, dass ihr diese Nummer hier kontaktiert, ich denke, dann lässt sich alles schnell erledigen. - - An dieser Stelle war mir wieder der Schreck gehörig in die Glieder gefahren. Wie alt war die Nachricht eigentlich? Oh nein, die mussten ja denken, mein Mann wäre mir egal! Oh Gott, hoffentlich hatten sie ihm noch nichts angetan!! Für einen Moment wurde ich von einer erneuten Hasswelle auf diese Frau überrollt. Wenn sie sich nicht so in unser Leben gedrängt hätte, wäre auch das Handy nicht bei ihr gelandet und ich hätte schon viel früher Bescheid gewusst, bildete ich mir zumindest ein.

Es folgten einige Instruktionen und tatsächlich eine Telefonnummer. Ratlos sah ich die Männer an. Sollte ich da jetzt wirklich anrufen?!? Einfach wählen und sagen 'Tach auch, ich bin die Frau eines Ihrer Opfer, in wie kleinen Scheinen hätten Sie's denn gern?' !? Ich begann unkontrolliert zu zittern. Jens' Rettung war in diesem Moment so nah und doch so fern … Die beiden verbliebenen Bandmitglieder packten mich beinahe gleichzeitig, um mich zu beruhigen, Pfanni ließ dann von mir ab und überließ mich Vince, redete nur auf mich ein. Vince drückte mich ein Stück von sich weg. „Alles okay? Wenn du willst, kann ich auch da

anrufen.” „Oder ich”, bot sich auch Stan an, doch ich schüttelte mit neuer Energie den Kopf. „Nein, ist in Ordnung, das muss ich selber machen!”, sagte ich tapfer und nahm das Telefon an mich. Mit immer noch zitternden Händen wählte ich, doch als es klingelte, überkam mich eine unheimliche Ruhe. Endlich meldete sich eine harte Männerstimme mit einem knappen „Hola!” und ich antwortete ebenso. Die anderen hörten über Lautsprecher mit. „Who are you?”, fragte die Stimme herrisch, doch ich blieb im Spanischen (hier ins Deutsche übersetzt*). „Mein Name ist Catherine Kosim. Und ich würde gerne mit meinem Mann reden .” Sicher, es war unwahrscheinlich, dass mir diese

Bitte erfüllt wurde, aber … Ein leises höhnisches Lachen war prompt die Antwort, dann sagte der Mann „Ihnen ist klar, dass das nicht geht? Aber es geht ihm gut, keine Sorge.” „Aber - Gibt es einen Beweis dafür?” „Den bekommen Sie, wenn wir Ihnen vertrauen!” Vertrauen! Eine Bande geldgeiler Aufrührer, welche die Kohle vermutlich nicht mal für 'gute' Zwecke verwenden würden, sprach von Vertrauen?! Ich fühlte plötzlich eine Hand, die meine freie drückte, es war Stan, der mich flehentlich anschaute. Tief luftholend zwang ich mich weiter zur Ruhe und fragte „Okay, was muss ich dafür tun?” „Erstens: Keine Polizei. Zweitens: Schicken Sie uns ein Foto von sich.” Sieh an, die Entführer waren auf dem neuesten Stand der Technik. Ich nahm an, mit dem Foto würden sie sozusagen Rücksprache mit der

Geißel halten, um die Person zu autorisieren. Wie sinnvoll das war, kann ich nicht sagen, das Foto könnte ja von wer weiß woher stammen, jedoch gingen die Kerle wahrscheinlich davon aus, dass nur ein Angehöriger diese Show wirklich mitmachen würde. Was weiß ich! Meine einzige Hoffnung war, dass ich so meinen Mann zurück bekommen würde!! Ich ließ mich also von Pfanni knipsen und versandte es an die andere Nummer. Ein paar Minuten später klingelte das Handy wieder. Himmel, Jens hatte immer noch unser Lied als Klingelton, 'Haunted' von Shane MacGowan und Sinhead O'Connor – das tollste Liebeslied der Welt! Entsprechend war meine Gemütslage, als ich wieder ran ging. „Gut, wir haben ihr Foto und werden uns in

Kürze wieder melden”, sagte die kalte Stimme, dann war sie auch schon wieder weg. Ratlos sahen wir uns an, dann wischte sich Pfanni mit der Hand übers Gesicht. „Ich weiß nicht, wie's euch geht, aber ich könnte jetzt einen Drink vertragen!” Tja, da konnte ich ihm nur zustimmen! Deswegen hockten wir uns ins Wohnzimmer, wo wir immer noch saßen und diskutierten, als Jerôme von einer Fotosession nach Hause kam. Es war so süß zu sehen, wie liebevoll er und Vince sich begrüßten! Wenigstens ein Pärchen in meiner Nähe, dem es richtig gut ging. Naja, den meisten anderen ging es ja auch gut, auch Pfanni hatte sich gut im Familienleben eingefunden, aber die Zwei hier hatte ich nun mal gerade vor der Nase. Plötzlich spürte ich, wie jemand den Arm um

meine Schulter legte. „He, nicht so grübeln, Katy, wir sind doch auf dem besten Weg!” Es war Stan, der mich aufmunternd drückte. Ich lächelte matt zurück. „Wollen wir's mal hoffen!” „Na hör mal, so weit waren wir vor zwei Stunden noch nicht!”, widersprach er und da hatte er ja eigentlich Recht. „Stimmt auch wieder. Aber jetzt müssen wir wieder warten ….” Und erneut war ich den Tränen nahe. „Ich weiß”, nuschelte er und drückte mich wieder, ich konnte nicht anders, ich ließ mich kraftlos gegen seine Brust sinken und drückte mein Gesicht dagegen. Roch er nicht sogar ein bisschen wie sein Vater? Für einen Moment verlor ich mich in der Illusion, dann stemmte ich mich energisch von Stanley fort und ignorierte seinen Gesichtsausdruck. „Ich hab Hunger!”, flutschte mir ohne

Nachzudenken raus und Vince lachte. „Sie isst wieder, na Gottseidank!” Wir ließen uns Pizza kommen, die gerade geliefert wurde, als endlich auch Niels nach Hause kam. Er war so begeistert von den News, dass er sogar spontan Stan umarmte! Es stimmt wohl, harte Zeiten bringen einen zusammen … Insgesamt ging der Abend aber nicht lange, wir waren zu ausgelaugt. Und am nächsten Tag ging das Warten weiter. Schon in der Nacht hatte mich jedes Knarren einer Diele oder ein sonstiges Geräusch aufgeschreckt. Statt zu schlafen, las ich lieber immer und immer wieder die Nachrichten, die sich noch auf dem Handy befanden und die ich den anderen nicht gezeigt hatte.

Denn natürlich waren da noch andere, nachdem auf die erste keine Antwort kam … - - Cat, Darling, ich weiß, meine letzte Nachricht war seltsam, aber sie war kein Scherz. Leider. Diese Typen hier wollen Lösegeld für mich also von dir, deswegen ruf doch bitte diese Nummer an. Hab keine Angst, ich find's ja auch nicht toll, aber mit der Aussicht darauf, dich bald wieder zu sehen ist mir das Geld sowas von wurscht, und dir auch, das weiß ich. Jetzt weißt du Bescheid. Ich liebe dich. Dein Jens. - - Verdammt, was musste er nur gedacht haben! Jedenfalls nach dieser zweiten Nachricht, als immer noch nichts passierte

…. - - Catherine, warum antwortest du mir nicht? Du kannst doch nicht SO böse auf mich sein!! Das hier ist echt kein Gag und ich würde es schätzen, wenn du mir hilfst. Egal, was war, du musst mich auslösen, damit wir zumindest darüber reden können. Oder brauchst du einen Beweis dafür, dass ich es bin? - - Wie befürchtet; er zweifelte an mir, aber wer hätte das in dieser Situation nicht?! Das war der Grund für etwas gewesen, was ich dem Foto noch hinzu gefügt hatte, ohne dass die Anderen es bemerkten: 'Por favor dile a mi marido que lo amo! Y que he recibido la noticia antes de lo que es hoy.' ('Bitte sagen sie meinem Mann, dass ich ihn liebe! Und dass ich

die Nachricht nicht eher bekommen habe.') Oh, hoffentlich richteten sie ihm wenigstens das aus! Jens' Nachricht ging weiter - - Kitty, ich nenne hier einen Namen, der nur dir und mir etwas sagen wird: Judith. Nun weißt du, ich bin es. Bitte leite alles nötige in die Wege. IlD! Dein Jens- - Hätte ich noch gezweifelt, nun wäre alles klar gewesen. Denn den komischen Namen für das Kind, das ich ungewollt hatte austragen müssen, den kannten wirklich nur er und ich! Diese letzte Nachricht war noch nicht allzu alt, ich konnte nur hoffen, dass ich nun endlich rechtzeitig reagiert hatte, um Jens' Vertrauen in mich nicht endgültig zu

erschüttern. Den ganzen Tag über wurde meine Geduld, unsere Geduld auf eine harte Probe gestellt. Gegen Abend grollte Pfanni laut, die Bande solle sich endlich melden, weil er so langsam wieder zurück zu Susanne und Bob musste, er wollte seine Freundin nicht so lange mit dem lebhaften Jungen alleine lassen, wenn er nicht gerade auf Tour war. Wie auf's Stichwort piepte da wieder das Handy! Wir stürzten wie ein Mann zu dem Gerät, welches eine SMS anzeigte. Als ich diese öffnete, traf mich der Anblick wie ein Schlag, obwohl wir ja ähnliches erwartet hatten. Es war ein Foto von Jens, der die obligatorische

Tageszeitung zum Beweis der Aktualität vor seiner Brust hielt. Er lebte! Jens lebte, sah zwar etwas ausgemergelt aus und blickte konzentriert, ja ernst in die Kamera … aber er war am Leben!! Und war da nicht ein … Glimmen in seinen Augen?! Nicht nur ein Zeichen der nun wieder erweckten Hoffnung, nein, bildete ich mir ein, auch etwas wie Rührung, Zärtlichkeit, Liebe … Für mich war sein Blick fast eine Liebeserklärung – 'Alles wird gut!', stand darin. Verdammt, ich würde alle Hebel in Bewegung setzen, um ihn wieder zu bekommen, das schwor ich mir in diesem Moment! Mein blonder Schutzengel hatte mich damals aus diesem Rattenloch befreit und diesmal war

es an mir, dasselbe für ihn zu tun!! * * * Mit einem kleinen Schrei schreckte ich auf und war im ersten Moment total desorientiert. Dann erinnerte mich der Druck auf den Ohren, dass ich im Flugzeug nach Bogotá saß, anscheinend hatte der Landeanflug bereits eingesetzt. Ich zwang mich, tief durch zu atmen, doch die Panik gewann trotzdem Oberhand. Deswegen hatte ich wohl auch diesen Alptraum gehabt, die Angst war seit ein paar Tagen wieder omnipräsent. Warum? Der ersten SMS mit dem Bild war eine zweite gefolgt, in der die geforderte Summe stand. Der

Betrag war mir dabei so was von scheiß egal, es hätte auch das Doppelte sein können. Wenn ich dafür bald meinen blonden Gott wieder in die Arme schließen konnte! Dazu kamen die Bedingungen für die Übergabe. Da wurde es dann recht abenteuerlich, denn letztere fand auf einem kaum frequentierten Autobahnparkplatz entlang der alten Transitstrecke statt. Es überraschte mich nicht, dass die Entführer hier in Deutschland Mittelsmänner oder Sympathisanten hatten, mir doch egal, wie sie das Geld außer Landes kriegen würden. Wir mussten das Bargeld in eine genau beschriebene Plastiktüte stecken, den Beutel in einem gekennzeichneten Mülleimer versenken und dann auf schnellstem Wege das Weite suchen. Danach begann das bange Warten, ob denn alles geklappt hatte, doch die Kerle

stellten uns auf eine harte Probe. Es dauerte nämlich zwei weitere Tage, bis wir wieder eine knappe SMS bekamen: „Buena. Usted oirá de nosotros. ” (Gut. Sie werden von uns hören.) war die äußerst dürre Mitteilung, die uns einmal mehr verwirrt zurück ließ. Pfanni hatte wieder nach Hamburg gemusst, rief aber jeden Tag an, bis ich ihn bat, das nicht mehr zu tun. So gut er es auch meinte, das Klingeln riss speziell mich jedes Mal vom Sitz. Viel draußen herum laufen konnte ich auch nicht, denn offiziell war ich krank gemeldet, angeblich ein geheimnisvoller afrikanischer Virus, der die Tiere gefährden könnte, deswegen fragte man auch nicht groß nach. Dafür war ich wieder nach Hause gezogen, fand inzwischen einen gewissen Trost in der vertrauten Umgebung, allein war ich ja auch nicht und Julia

besuchte mich jeden Tag. Ansonsten zwang ich mich zur Geduld. Irgendwie ging ich davon aus, dass die Guerilla trotz oder gerade wegen ihres Kampfes für die gerechte Sache letztendlich Ehrenmänner waren und ihr Versprechen einhalten würden. Aber geht es einem mit Zauberern nicht ähnlich? Glaubt man da nicht auch wenigstens an einen ganz genial erdachten Trick und ist hinterher enttäuscht über die Banalität der Illusion?! Jedoch, es herrschte Funkstille und uns war einfach nicht klar, wie genau es nun weiter gehen sollte. Nichts. Keine SMS mehr, keine Anrufe. Als die Tage ohne Nachricht immer mehr

wurden, wagte ich es, eine SMS zu schicken, ohne Erfolg. Schon wesentlich verzweifelter versuchte ich einen Anruf, doch der wurde vom Provider abgeblockt! An diesem Abend war ich unendlich froh, Stanley bei mir zu haben. Meinen Bruder in allen Ehren, aber Stan war ein erwachsener Mann, an den ich mich in dieser Situation viel besser anlehnen konnte, als an den jüngeren, der seine Sorge allzu offen vor sich her trug. Nicht, dass Stan nicht auch Angst gehabt hätte, aber er konnte diese viel besser unter Kontrolle halten. In seinem Job als Auslandskorrespondent, den er im Moment ruhen ließ, war er schon in vielen Krisengebieten unterwegs gewesen und hatte dort gelernt, seine Gefühle zu beherrschen. Etwas, was mir nach diesem Fehlschlag leider nicht

gelang! Es platzte einfach aus mir heraus, ein geradezu hysterisches Weinen, aber ich hatte nicht einmal mehr die Kraft, mich dafür zu schämen. Und Stanley schien dafür auch keinen Grund zu sehen, er tröstete mich liebevoll, hielt mich lange fest, bis meine Tränen dann doch endlich versiegten und steckte mich hinterher mit Tee versorgt ins Bett. Als er sich an der Tür noch einmal nach mir umdrehte, sah ich etwas in seinem Gesicht aufblitzen und nun schämte ich mich doch noch. Es war schließlich sein Vater, der da in ungewisser Gefahr schwebte, Stan war nicht irgendein Freund, der extra für mich da war, nein, er war ja selber aufs intimste betroffen! „Stan?”, hielt ich ihn deshalb auf. „Ja?”, fragte er und drehte sich komplett um. „Komm mal her”, bat ich und klopfte auf das

Bett neben mir. Er kam mit den typisch hochgezogenen Kosim-Augenbrauen, worüber ich fast schon wieder lachen musste. Aber nur fast. Auf meine weitere Geste hin hockte er sich zu mir und ich nahm seine Hand in meine. „Wie geht es dir denn eigentlich?” „Gut, ich meine, ich bin in Ordnung, warum ...” „Weil ich dir hier die Ohren voll jammere, als wäre es allein mein Kummer. Aber du sorgst dich doch auch, oder?” „Naja, ich denke, es wird sich schon richten ...”, murmelte er ausweichend, doch ich drückte seine Hand. „Sei ehrlich!”, bat ich und ein leidender Ausdruck ging über sein Gesicht, dann schloss er kurz die Augen. Mit der freien Hand fuhr er sich durch die Haare und seufzte dann laut auf. „Weißt du, es war nicht einfach, mit so einem

beschäftigten Vater, der nicht allzu oft vorbei geschaut hat. Aber WENN er dann da war, hat er mir seine Zeit voll und ganz gewidmet und das war etwas, was die meisten anderen Jungen nicht von sich behaupten konnten. Ich bin so gerne hier bei euch und ich liebe … ja, ich liebe meinen Dad! Ich hoffe nur ...” Seine Stimme wurde leiser, bis sie fast verstummte. Oh, ich konnte ihn so gut nachvollziehen, seinen Kummer, teilte ich ihn doch! Vorsichtig griff ich nach ihm und zog seinen Kopf an meine Schulter. „Ich bin davon überzeugt, dass alles gut werden wird!”, flüsterte ich und strich ihm tröstend über die Haare. Wir waren zwar eigentlich gleich alt, aber in diesem Moment fühlte ich mich wirklich wie seine Stiefmami, als er sich mit einem tiefen Seufzer endlich ein bisschen entspannte.

Tags drauf kam Niels mit einer Idee zu mir. In seinem Freundeskreis war eine geniale Hackerin, die sich auf das Maskieren von Telefonnummern spezialisiert hatte. „Kitty, das bedeutet, du könntest mit einer Nummer anrufen, die nicht nach Deutschland aussieht!”, erklärte er aufgeregt und ich erkannte die Idee dahinter. Mit etwas Glück würde jemand am anderen Ende der Leitung sich sicher genug fühlen, doch mal endlich dran zu gehen …Na, mehr als auflegen konnte er nicht, oder gar nicht dran gehen. Niels rief seine Freundin an und die richtete die entsprechenden Maßnahmen und Einstellungen ein, dann holte ich tief Luft und wählte. Es klingelte quälend oft, aber immerhin, es klingelte, der Anruf wurde nicht sofort

abgeblockt! Fast erschreckte ich mich, als endlich jemand dran ging. Es war die gleiche Männerstimme wie bisher, sie herrschte mich an, wer ich denn sei und was ich denn wolle. „Hier ist Catherine Kosim, ich-” Total bescheuert, aber mir rutschte dann einfach heraus: „Ich will meinen Mann zurück, ihr-” Den Rest konnte ich mir grad noch verkneifen, bei seinem Hohnlachen, welches nun einsetzte, hätte er es aber wahrscheinlich eh nicht verstanden. „Lo siento”, sagte er dann, „Señora Kosim, ahora Yo no puedo ayudarle en algo mas ...” Dann legte er auf und zum Glück war Niels so geistesgegenwärtig, mich aufzufangen. Was sollte das heißen, 'da kann ich nichts mehr für Sie tun'

?!?! Auf dem Boden sitzend, den Kopf zwischen den Knien kam ich langsam wieder zu mir, brach aber sofort in Tränen aus. „Er ist tot!”, schluchzte ich, „Irgendwas ist schief gegangen und sie haben ihn umgebracht!” „Nein!”, rief nun Niels, der mich kräftig schüttelte. „Das glaube ich einfach nicht! Das muss etwas anderes zu bedeuten haben!!” Sofort klammerte ich mich an dieses Fünkchen Hoffnung. „Meinst du? Aber wollen sie uns vielleicht betrügen? Wollen noch mehr Geld aus uns heraus pressen?!?” Geschäftig sprang ich auf. „Ich kann noch mehr flüssig machen, ich muss nur-” „Sch, sch”, machte mein Stiefsohn, „jetzt warte doch erst mal ab. Was hat er gesagt? ' Ahora Yo no puedo ayudarle en algo mas' – 'Jetzt kann ich nichts mehr für sie tun' Aber er hat das jetzt

und das ich sehr stark betont.” „Ja und?” „Damit wollte er etwas sagen, verstehst du?” Mit erzwungener Geduld schloss ich kurz die Augen und murrte dann „Aha, und was bitte?!” „Kann ich dir auch noch nicht sagen. Aber wenn du mir zwei Stunden Zeit lässt, finde ich es heraus!” Er schaffte es sogar schneller, hatte seine guten Kontakte wieder genutzt und als er uns die Neuigkeiten mitteilte, fiel ich ihm jubelnd um den Hals. Es gab wieder Hoffnung! „Oh Stan, du bist der Größte. Wenn ich dich nicht hätte!” Er drückte mich fest und murmelte etwas, das ich nicht verstand. „Was?” „Unwichtig”, gab er zurück. „Was machen wir jetzt?!” „Na ist doch klar”, rief ich, „ich fliege nach

Kolumbien!” Tja, und da war ich nun fast, im Landeanflug auf Bogotá, mit ungewisser Hoffnung und noch ungewisseren Plänen, aber endlich wieder aktiv. Ich war kein Opfer mehr in diesem Moment, einmal mehr nahm ich mein, nahm ich unser Schicksal in die Hand!

8. Kapitel

*************************************** Es wird etwas härter, möchte ich vorwarnen. *************************************** Mit einer dunklen Sonnenbrille auf der Nase, was hier aber nicht weiter auffiel, verließ ichden Flughafen und winkte nach einem Taxi. Stan hatte mir eingeschärft, nur ja eines der offiziellen gelben zu nehmen. Alle anderen bargen die große Gefahr, dass als nächstes Lösegeld für mich zu zahlen wäre. Und das konnten wir im Moment echt nicht gebrauchen, haha. Stan selber würde mit einer der nächsten Maschinen nachkommen, den einzig freien Platz hatte ich mir erstritten und glaubt mir, es war ein harter Kampf gewesen!

Ich fuhr zur Redaktion der Zeitung El Espectador, vor deren Tür ich meinen Kontaktmann Carlos traf, ich kann nichts dafür, dass er so hieß! Er zog mich rasch in sein kleines verrauchtes Auto, wo er sich gleich die Nächste anzündete. Mit schweißnassen Händen tastete ich in meiner Hosentasche nach dem Pfefferspray, dass ich gleich als erstes aus dem Koffer gekramt hatte. So allein mit so einer schmierigen Type war mir halt unterschwellig doch noch etwas mulmig zumute, das weckte ungute Erinnerungen. Aber der Mann war viel zu nervös, um auf dumme Gedanken zu kommen, wie mir schien. Er kurvte hektisch durch den wahrhaft mörderischen Verkehr, doch bald verließen wir die Stadt, fuhren an ihren Ausläufern vorbei, bei denen sich gated communities mit

slumartigen Gebäudeansammlungen abwechselten. Aber irgendwann hörte auch das auf und wir fuhren übers Land. Dabei redeten wir kein Wort, was mir auch ganz recht war. Die Landschaft war wunderschön und ich verfiel in eine dösige Träumerei, dachte daran, wie sehr wohl Jens das hier genossen haben mochte, bevor ES passierte … Oder wie schön es zusammen hier gewesen wäre … Und vielleicht wäre uns zu zweit auch gar nichts passiert, wer weiß. Carlos bog unvermittelt scharf links ab und ich knallte gegen die Beifahrertür, nun wieder aufmerksam. Wir steuerten auf ein großes herrschaftliches Tor zu, wo mein Fahrer sich an der Sprechanlage melden musste. Er sprach einen derartig abartigen Dialekt in einer solchen Geschwindigkeit, dass ich nicht genau

mitbekam, was besprochen wurde oder ob der Tonfall einen Streit bedeutete oder nicht. Jedenfalls ging dann doch endlich das Tor auf und wir fuhren die Einfahrt hoch. Ich staunte nicht schlecht über den Luxus, den diese Hazienda ausstrahlte. Irgendwie fand ich das schon ungewöhnlich, dass der Mann, der hier auf mich wartete, ausgerechnet bei so einem reichen Großgrundbesitzer Zuflucht gefunden hatte! Ja, hier würde ich Nael Jesus Pedroso Jimenez nach unseren vergangenen Telefonaten endlich persönlich treffen. Leider bedeutete das nicht, dass ich auch Jens schnell wieder haben würde ... Denn es hatte sich in den letzten Wochen einiges in der Welt von Señor Pedroso getan, seines Zeichens Anführer der FARC-Ortsgruppe

– besser gesagt, bisheriger Anführer … Aufgrund interner Differenzen über die künftige Strategie und Ausrichtung war er vor kurzem nämlich zu seinem und unserem Leidwesen abgesetzt worden. Das war auch der Grund, weswegen er mir am Telefon gesagt hatte, mir nicht mehr helfen zu können. Die neue Führungsriege wollte einen neuen, härteren Kurs verfolgen und war daher nicht gewillt, die aktuellen Geiseln für Geld so einfach frei zu lassen, sie sollten im Kampf gegen die Regierung 'dienen'. Man muss es Pedroso direkt zugute halten, dass er dieses Verhalten persönlich für unehrenhaft hielt, da viele Angehörige bereits bezahlt hatten (einige natürlich früher als wir, ahem). Ich meine, es ist natürlich nicht sehr ehrenhaft, unschuldige Menschen als Werkzeuge zu missbrauchen, aber es steckte in ihm scheints noch ein Fünkchen Ganovenehre!

Wahrscheinlich deswegen hatte er sich bereit erklärt, für mich einen letzten Vermittlungsversuch zu unternehmen. Dass ich überhaupt zu ihm vorgedrungen war, hatten wir natürlich Stans Kontakten zu verdanken und ich war froh über diese Möglichkeit, welche anderen Ehefrauen, Kindern und Müttern wohl fehlte. Vielleicht konnte ich ja auch für die was tun, aber ich gebe zu, im tiefen Inneren meines Herzens war ich da egoistisch – Jens stand an erster Stelle! Nael Pedroso sah eigentlich genau so aus, wie man sich so einen Che Guevara-Typen vorstellt, dunkle, ungepflegte Locken, leicht wirrer Blick und ständig faselte er etwas vom Klassenkampf, aber auch, dass die neuen Methoden nichts fruchten würden, sondern die Regierung zu noch strengerem Handeln zwingen

würde. Anders als seine Nachfolger hing er nicht dem abwegigen Irrglauben an, dem auch die Linksradikale in Deutschland verfallen gewesen war, dass überharte Gesetzte das einfache Volk irgendwann gegen die Obrigkeit aufbringen würden. Im Ganzen wirkte er wie ein gebrochener Mann und er hätte mir fast leid tun können – wenn nicht er es wäre, der ursprünglich für die Entführung sowie für viele Morde verantwortlich gewesen war! Wir sprachen auch nicht viel, sondern setzten uns gleich in ein anderes Auto auf den Rücksitz, das wieder von Carlos gelenkt wurde, der nervös eine Zigarette nach der anderen paffte. Seltsamerweise hatte ich nun gar keine Angst mehr, so allein als – wie man mir oft sagte – recht attraktive Frau unter so vielen fremden Kerlen.

Als wir schon ein paar Meilen unterwegs waren, wurde Nael Pedroso doch noch gesprächig. „Sie wollen ihn also unbedingt zurück”, stellte er fest und ich glotzte ihn verständnislos an. Was war denn das für eine Frage!?! „Nun, Sie müssen sich darauf einstellen, dass er sich … geändert hat. Die Zeit in unseren, ähm, Umerziehungslagern verändert die Leute.” Noch immer sagte ich lieber nichts. Ich durfte es mir mit dem Mann nicht verderben! Er schwadronierte jetzt eine Weile darüber, wie viel Gutes er doch hatte in die Welt bringen lassen und langsam wurde mir übel. Es war ja grundsätzlich gegen ein bisschen Kapitalismuskritik nichts einzuwenden, was ich gerade als Rollen D. Rubels Ehefrau

verinnerlicht hatte. Aber glaubte er wirklich an sein Geschwafel? Und wenn es so war, warum hatte er dann zugelassen, dass die FARC nicht nur solche Gräueltaten gegen die (angeblich) Schuldigen verübte, sondern auch gegen Unschuldige und in den eigenen Reihen? Ich nehme an, es war das übliche Problem: Macht korrumpiert und absolute Macht korrumpiert absolut. Hatten wir da überhaupt eine Chance? Nael Pedroso war jedenfalls der Meinung. Er war überzeugt, noch einmal, der alten Zeiten willen, ein gutes Wort für jene Gefangenen einlegen zu können, für die der Preis schon entrichtet worden war.

Plötzlich vibrierte mein Handy und als ich es zückte, sah mich der Ex-Kommandante mit einem Anflug von Panik an. „Sie haben ihr Mobiltelefon dabei?!” Ich nickte nur als ich ran ging, es war mein Bruder, der nervös fragte, ob ich schon angekommen sei. „Ja, wir sind auch schon unterwegs, Kleiner. Ich melde mich, sobald ich kann, besser, ihr ruft mich nicht an, sag das Stan, der Typ hier scheint Funkstille für besser zu halten.” „Kommt gar nicht in Frage!”, hörte ich Niels noch wettern, doch ich verabschiedete mich rasch, legte auf und stellte auf lautlos. „So, jetzt klingelt es nicht mehr”, meinte ich zu Pedroso, doch der schüttelte den Kopf. „Das reicht nicht! Sie müssen es verstecken, wenn meine Leute es bei Ihnen finden

...” Er ließ den Satz klassisch unvollendet und so langsam wurde auch mir mulmig. Kurzerhand stopfte ich das Teil tief in einen Schlitz im Polster des Vordersitzes vor mir. „Besser so?” „Hm, ja, muss wohl”, grummelte der Mann. „Aber lassen Sie es auf jeden Fall dort. Und noch etwas, wenn Sie ihn sehen, wenn Sie ihren Mann sehen, zeigen Sie um Gottes Willen nicht, dass Sie ihn kennen!”, schärfte er mir dann noch ein. „Auf gar keinen Fall, hören Sie?!!” Da nickte ich erst recht beklommen. Dieser Punkt schien ihm extrem wichtig zu sein. Da ich gut spanisch sprach, sollte ich als Angehörige seiner Entourage gelten, als Sekretärin und Dolmetscherin gegenüber englischsprachiger Stellen. Wir verließen das flache Farmland und

rumpelten in den dschungelartigen Wald. In einem einschlägigen Film hätte man mir sicher die Augen verbunden, aber alles sah so gleich aus, dass das eh nicht nötig war. Endlich, nachdem mein Körper sich schon lautstark beschwerte über die schlechte Federung des Autos, schienen wir dem Ziel näher zu kommen, denn plötzlich wurden wir durch eine Straßensperre gestoppt. Ein Posten mit einer MP im Anschlag verlangte barsch zu wissen, wer wir seien und wohin wir wollten. Die Verhandlungen übernahm wieder Carlos in seinem seltsamen Dialekt, während Pedroso die Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen hatte und schwieg. Unser Fahrer hatte Erfolg und von da an wurde unsere Fahrt zu einer Art Stafettenlauf von Posten zu Posten, wobei die Befragung mit jedem Mal kürzer wurde. Und dann waren wir

auf einmal am Ziel. Dieses Ziel glich eher einem kleinem Dorf statt einem Untergrundhauptquartier, aber klar, so tief im Dschungel und nach so vielen Posten musste nicht mehr viel Tarnung sein. Trotzdem schienen uns jede Menge Augen mehr als misstrauisch, ja sogar feindselig zu beobachten, als wir ausstiegen und unsere müden Glieder dehnten. Ein weiterer Bewaffneter wies uns den Weg zu einem der Gebäude, wo wir den amtierenden Chef trafen. Gegen diesen Typen wirkte Pedroso noch regelrecht zivilisiert! Der neue Kommandante trug ganz klischeehaft einen Tarn-Kampfanzug und saß an einem Tisch vor dem Gebäude, links und rechts von sich zwei weitere Männer. Im Mundwinkel hatte er tatsächlich eine (kubanische?) Zigarre, auf der er öfter herum

kaute, die Augen waren von einer Sonnenbrille verdeckt. Alle fünf starrten uns erwartungsvoll entgegen, standen nicht auf, sondern wiesen auf den Platz vor dem Tisch. Das Ganze kam mir merkwürdig vertraut vor, bis es mir schließlich dämmerte: Das war kein Begrüßungskomitee, das war ein Tribunal! Ich zischte Pedroso zu, dass mir das hier sehr komisch vorkam. Da blieb er kurz stehen, sah mich an und ich hatte das Gefühl, dass seine glühenden Augen sich in meine hinein brennen würden. „Haben Sie keine Angst. Nachdem Francisco Alvarez Sanchez mich abgesetzt hatte, bin ich zwar in die Stadt zu Señor Escoban gegangen.” Mit einer großen Geste verwies Pedroso nun auf das wartende Konzil. „Aber mein Wort hat hier noch immer Gewicht,

Sie werden schon sehen! Escoban, das musste wohl der Sohn des ehemaligen Drogenbarons sein, klar, die FARC engagierte sich zwar offiziell gegen Drogenhandel, finanzierte sich aber ebenfalls damit. Wieder einmal wurde mir beinahe schlecht bei so viel Verlogenheit. Und noch etwas dämmerte mir: Pedroso war nicht einfach nur abgesetzt und dann in Ruhe gelassen worden, nein, er war wahrscheinlich geflüchtet! Wenn ich die Blicke rings herum richtig deutete, war das etwas, was die Organisation nicht gerne sah, aber gleichzeitig wurde mir klar, dass Pedroso das nicht zur Kenntnis nahm – der Mann war wirklich durchgeknallt! Und der wollte mir helfen?!? Er trat vor das Tribunal und die

'Gerichtsverhandlung', geleitet von Francisco Alvarez Sanchez, das musste wohl der neue Chef sein, begann. Keine Rede davon, dass Pedroso dazu kam, um die Freilassung der Geiseln bzw. einer bestimmten Geisel bitten konnte, er wurde barsch angegangen und kam kaum zum Reden. Darüber zeigte er sich sehr erstaunt, kein Zweifel, totaler Realitätsverlust und dem Mann hatte ich mich anvertraut?!! Übernervös versuchte ich der Verhandlung zu folgen, aber ein irres Rauschen in meinem Kopf machte mir das schwer, außerdem fand sie wieder in diesem krassen Dialekt statt. So kann ich den Wortlaut nicht mehr wieder geben, weiß nur noch, dass die Anführer Pedroso schwere Vorwürfe wegen Verrats machten, denen er heftig widersprach, er hätte es doch immer nur gut gemeint und wäre auch jetzt noch bereit, zu

helfen. Plötzlich kam Bewegung in den Mann auf meiner anderen Seite. Carlos hatte den Ernst der Situation endlich begriffen, drehte sich auf dem Absatz um und rannte auf unser Auto zu. Er kam aber nicht weit. Alvarez bellte einen scharfen Befehl, der fast augenblicklich von einem Schuss überlagert wurde, welcher Carlos mitten im Lauf in den Rücken traf und zu Boden warf. Panisch sah ich zu Pedroso, sah in seinem Blick eine plötzliche Erkenntnis, da hörte ich auch schon Alvarez' Befehl: „Knallt den Verräter ab! Nieder mit allen Feinden der marxistischen Revolution!” Und im nächsten Moment erhielt der Mann vor

meinen Augen einen Kopfschuss! Sein Blut und andere Körperflüssigkeiten spritzten auf mich und augenblicklich musste ich würgen. Die Todesangst übermannte mich und während ich mir die Seele aus dem Leib kotzte, erwartete ich den finalen Knall. Seltsam, wie sich die Zeit dehnt, wenn man auf das Ende wartet. Ich stand würgend vornübergebeugt, während ich auf den erlösenden Schuss wartete – und war mir der Unwürdigkeit dieser Situation in jeder Sekunde bewusst. Wäre es nicht toll gewesen, stoisch aufrecht da zu stehen, dem Anführer in die Augen zu sehen und ihm irgendwas heroisches ins Gesicht zu schleudern? Aber nein, ich musste ja kotzen wie ein Reiher und jedes Mal, wenn mich die Feuchtigkeit in

meinem Gesicht an das eben Gesehene erinnerte und meine Todesangst neu anfachte, kam ein neuer Schwall, irgendwann nur noch Galle. Als Veterinärin war mir der Tod an sich ja nicht fremd, aber so etwas?! Doch irgendwie wurde kein neuer Befehl gebellt, die MPs schwiegen, statt dessen wollten sich sämtliche Kerle um mich herum schier kaputt lachen! Sie zeigten mit dem Finger auf mich und hielten sich ihre Bäuche, bis der Anführer dann doch etwas rief. Es war aber kein Schießbefehl, sondern hieß soviel wie „Kümmert euch um sie!” und war an zwei Frauen gewandt, die nun zu mir rüber rannten. Sie nahmen mich in ihre Mitte und führten mich weg, welche Wahl hatte ich, als mitzugehen? „Eine süße kleine Dolmetscherin können wir immer brauchen”, hörte ich Alvarez noch feixen,

„und vielleicht will ja auch jemand für sie zahlen.” „Na prima, das mit dem Lösegeld hat ja schon bisher so gut geklappt!”, knurrte ich leise, als die Erkenntnis, erst mal nicht erschossen zu werden, zu mir durchsickerte. „Still!”, zischte eine der Frauen mir zu und sie zerrten mich in eine niedrige Baracke, die offenbar eine Art Waschkaue war. Dort kramten sie aus einem Schrank einen unförmigen Militäroverall, wie sie selbst einen trugen und warfen ihn mir zu. Zuerst aber durfte ich mich reinigen und schaffte es sogar, mein Pfefferspray in die andere Kleidung zu schmuggeln. Anscheinend hielt man mich für harmlos genug, mich gar nicht erst zu durchsuchen. Notdürftig gewaschen (wobei ich trotzdem das Gefühl hatte, noch immer nach meiner eigenen

Kotze zu stinken) schubsten mich die beiden Aufpasserinnen weiter zum nächsten Gebäude. Dieses hatte ein dickes Schloss an der Tür und eine Wache davor, die uns aufschloss, was heißt uns, mir, denn nur ich wurde ins Innere gestoßen, dann fiel die Tür hinter mir wieder ins Schloss. Ich war gefangen. Das war also das glorreiche Ende meiner Rettungsmission! * Im Inneren herrschte diffuses Halbdunkel und meine Augen brauchten etwas, bis sie sich daran gewöhnten. Deshalb ließ mich ein plötzliches Rascheln in der Nähe zusammenfahren und ich erschrak noch mehr, als eine Hand plötzlich meinen Arm umschloss. „Na, wen haben wir denn da?”, sagte eine

Stimme auf englisch und eine andere jubelte „Yeah, fresh meat!” Ich zappelte und wurde tatsächlich erst mal losgelassen, sah mich nun drei Männern in schon ziemlich erbärmlicher Kleidung gegenüber. Langsam wich ich rückwärts zurück, stieß aber gleich gegen einen Tisch hinter mir. Der Ausdruck in den Augen vor mir gefiel mir gar nicht, den hatte ich schon mal gesehen – in einer fernen Vergangenheit, die mich nun einzuholen schien. Wo blieb die Solidarität unter den Gefangenen? Sollte ich jetzt, gerade eben dem Tod von der Schippe gesprungen, einer Gruppenvergewaltigung zum Opfer fallen?!? Tatsächlich streckte nun einer der Kerle die Finger nach mir aus, in unmissverständlicher Absicht, wie mir ein anderes Körperteil signalisierte. Doch da hatte er die Rechnung

ohne den Wirt gemacht! Denn nachdem ich oft in Berlin noch spät in der Nacht unterwegs war und angesichts meiner Vergangenheit hatte Jens darauf bestanden, dass ich Krav Maga lernte, das kam mir jetzt zugute. Ich ließ den ersten Kerl auf den Tisch hinter mir krachen und sichelte den zweiten von den Füßen, der dritte hüpfte derweil gewandt Richtung Tür. Dort hob er einen länglichen Gegenstand vom Boden auf und trat mir mit plötzlicher Entschlossenheit wieder entgegen. Also gut! Ich stabilisierte meine Position, um dem Angriff zu begegnen, da griff plötzlich eine Hand von hinten nach seiner Schulter. Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte ich gelacht, denn es sah fast so aus, als wollte Mr. Spock seinen vulkanischen Nackengriff anbringen

… Doch statt dessen sagte eine Stimme, die ich unter hunderten erkannt hätte „Slowly, boys! Ihr habt doch gesehen, was draußen passiert ist, sie ist eine Gefangene wie wir, also reißt euch ein bisschen zusammen!” Jens! Da stand er leibhaftig, hielt nun auch den wütenden zweiten Kerl am Schlafittchen gepackt und würdigte mich ansonsten keines Blickes!! Im letzten Moment, bevor ich seinen Namen keuchen wollte, erinnerte ich mich an Pedrosos Warnung: Nicht wissen lassen, dass man sich kannte. Ich drehte mich zu dem dritten Mann um, der immer noch verdutzt auf den Resten des Tisches

hockte und funkelte ihn an. „Okay, ihr wisst nun, dass ich mich wehren kann, alles klar?!” Nach einem kurzen Zögern, während dem es in seinem Gesicht flackerte, erhob sich der Mann langsam und nickte. „Okay. Und nichts für ungut.” Dazu musste ich einmal höhnisch schnauben und dachte mir, ich sollte auf alle Fälle besser in der Nacht mit dem Rücken zur Wand schlafen … Jens entließ die anderen Männer ebenfalls, die so etwas wie eine Entschuldigung murmelten und aus dem Raum schlurften, dann nickte er mir beiläufig zu und fragte „Alles in Ordnung?” Dazu schaffte ich es nur zu nicken. „Gut. Ich werde Abuelita Bescheid sagen, dass sie nun Gesellschaft hat. Warten Sie

hier!” Wie betäubt tat ich wie mir geheißen. Klar, nach Pedrosos Worten war mir irgendwie klar gewesen, dass es keine stürmische Wiedersehensfeier geben würde, aber trotzdem … Ich hatte mir mehr … heimliche Verständigung, mehr Freude in seinen Augen gewünscht, mehr … Liebe! Eine alte Frau, auf die der Begriff Abuelita zu passen schien, denn das war kein Eigenname, sondern das Kosewort für Großmutter, schlurfte in den Raum und grüßte mich freundlich, wenigstens nicht in dem grauenvollen Dialekt. Sie tätschelte liebevoll meine Wange und redete beruhigend auf mich

ein, nahm mich dann an die Hand und führte mich ins Haus hinein, zeigte mir dort das Wichtigste. Dies schien das Haus speziell für die Geiseln zu sein, die Fenster waren vergittert und es gab nur einen kleinen Innenhof, in dem man wenigstens ein bisschen Sonne und frische Luft schnappen konnte. Ansonsten waren die Menschen hier anscheinend sich selber überlassen. Die Hygiene ließ entsprechend zu wünschen übrig, hier gab es nur einen Abtritt in einem Raum ohne Dach und gewaschen wurde sich offenbar aus Eimern. Abuelita, einen anderen Namen erfuhr ich nie, klärte mich dann noch auf, dass wir einmal am Tag mit Essen versorgt wurden und dass ich mit ihr in einem Raum schlafen sollte, da wir zur Zeit die einzigen weiblichen Wesen hier waren. Sie hatte milchige, aber gütige Augen und ich

fragte mich entsetzt, wie lange sie wohl schon hier war? Und sollte sie noch nicht ewig hier sein, wer um alles in der Welt nahm denn so eine alte Frau gefangen?! Hier im Dschungel kam die Dunkelheit schnell und wir zogen uns in den kleinen Raum zurück. Die Essensausgabe war schon lange vorbei und mein gründlich geleerter Magen knurrte ein paar Mal heftig, doch ich musste mir nur die Bilder von heute Nachmittag vor Augen rufen, um den Appetit zu vertreiben. Von Jens oder den anderen Männern hatte ich auf der kleinen Besichtigungstour nichts mehr gesehen. In fast vollkommener Dunkelheit lag ich dann wach und lauschte auf Abuelitas heftiges Schnarchen. Und irgendwo in diesem Gebäude lag im Moment sicher auch Jens wach. Hoffentlich würden wir uns morgen wie

beiläufig unterhalten können. Inzwischen war mir auch klar, dass er sicher nicht glücklich über mein Auftauchen hier war, weil ich ja nun in der gleichen Situation war wie er! Meine Schlaflosigkeit hielt an und ich dachte mir, dann schleiche ich mich am besten jetzt gleich zum Abtritt, wenn eh alle schlafen. Im Geiste versuchte ich den Weg dorthin zu rekonstruieren, dann beschloss ich, mich auf den Weg zu machen, bevor es zu dringlich wurde. Leise und vorsichtig öffnete ich die Tür, spähte in die Dunkelheit, als plötzlich wie aus dem Nichts eine Gestalt vor mir aus dem Boden wuchs. „Was willst du hier draußen?! Bleib bloß da drin!!”, zischte sie mit Jens' Stimme und ich japste überrascht „Aber ich muss mal!”

Na toll, da sahen wir uns monatelang nicht, hatten uns gestritten, Jens war in Lebensgefahr und endlich trafen wir aufeinander, nachdem mein Mann mich mal wieder beschützt hatte – und was sagte ich als erstes zu ihm?! 'Ich muss mal!' „Oh Cat, du verrücktes Huhn!”, stöhnte Jens. Ich unterdrückte das Schluchzen, das in mir aufstieg. „Catherine! Was um Himmels Willen tust du hier? Warum musstest du hierher kommen!?” Geradezu kindisch war das, aber prompt rutschte mir ein beleidigtes „Aber freust du dich denn gar nicht, mich zu sehen?”,

raus. Für einen Moment starrte er mich an, dann zuckte es in seinem Gesicht und sofern das bei einem Mann möglich war, stand er wahrscheinlich kurz vor einem hysterischen Lachanfall. Sacht stellte er mich ab. „Ob ich mich freue, fragst du? Ob ich mich freue, dich da draußen vor einem Erschießungskommando zu sehen? Ob ich mich freue, dass dich die Kerle hier, grad nachdem du dem Tod von der Schippe gesprungen bist, vergewaltigen wollten und, glaub mir, es noch immer wollen?!”, flüsterte er in hektischen Stakkato. Mit der Hand fuhr er sich durch die Haare, die im Halbdunkeln gut erkennbar inzwischen deutlich an silbernen Strähnen gewonnen hatten, und wanderte nervös hin und

her. Vor diesem Redeschwall schrumpfte ich mehr und mehr, fühlte mich plötzlich noch viel elender als vorher. Jens blieb vor mir stehen und ich wagte es kaum, ihn anzuschauen, tat es mit Tränen in den Augen aber doch und murmelte „I-ich hab dich so vermisst ...” „Herrgott, das ist doch kein Grund, sich hier in die gleiche beschissene Situation zu begeben wie ich!”, schüttelte er den Kopf. „Das war auch Weißgott nicht der Plan!”, begehrte ich auf und Jens machte besorgt „Sht!”, doch nun schüttelte ich den Kopf. „Nein, das muss ich jetzt sagen, ich-”, begann ich, wobei seine Augen unruhig hin und her gingen. Plötzlich griff seine Hand in meinen Nacken, zog meinen Kopf zu seinem und dann küsste er mich, endlich, vielleicht zwar, um

mich zum Schweigen zu bringen; ich weiß es nicht, aber es fühlte sich wie früher an. Doch als er mir anschließend in die Augen sah, erkannte ich die große Verzweiflung in seinem Blick. „Oh Kitty, warum bist du nur hierher gekommen!?!”

9. Kapitel

Seine Frage hing für einen Moment zwischen uns in der Luft und ich hatte sofort das Gefühl, mich verteidigen zu müssen, aber Jens knurrte schon weiter. „Anstatt mich ganz normal und schnell frei zu kaufen, nein, Mrs. Naseweis kommt ja lieber selbst hier her und bringt sich in Gefahr!” „Aber ich musste was tun!”, begehrte ich auf und erntete prompt ein Schnauben. „Na das hab ich gemerkt!”, ätzte er und trotz der beherrschten Miene war deutlich zu spüren, wie verletzt er war. „Oh Scheiße, sie haben dir nichts gesagt, oder?”, murmelte ich. War ja eigentlich kein Wunder. „Was

gesagt?” „Warum es … ähm, so lange gedauert hat!” „Nein, das haben sie nicht”, sagte er verhalten, vielleicht kostete es ihn Mühe, mir seinen Frust nicht laut ins Gesicht zu schreien, er fuhr leise fort „Ich saß hier fest und dachte mir, na gut, das ist dann quasi nur ein Transit, die wollen Geld und von dem Scheiß hab ich genug, also zahlen und nichts wie weg. Ich schickte dir Nachrichten, hab mir dabei noch Mühe gegeben, es so harmlos wie möglich klingen zu lassen, und dann würde es nicht mehr lange dauern, davon ging ich aus.” Für einen Moment schwieg Jens und sah mich kurz an, dann wieder zu Boden, fuhr fort, während ich wie ein Kaninchen vor der Schlange wie erstarrt vor ihm stand. „Stell dir mein Erstaunen vor, als sie mir das Telefon eine Zeitlang später noch mal brachten. Und dann noch mal. Und dann lange nicht mehr, bis ich

plötzlich mit einer Zeitung für ein Foto posieren musste. Den Spott konnte ich ja noch ertragen, aber …” Der Satz blieb unvollendet, aber mir war vollkommen klar, was er hatte sagen wollen. Fast schon wollte ich ihn schütteln, denn irgendwo in mir fragte eine beleidigte kleine Stimme 'Hast du tatsächlich gedacht, ich würde dich mutwillig so im Stich lassen? Nur weil wir uns ein bisschen gestritten hatten?!' Aber natürlich sprach ich es nicht aus, ich wusste ja, auf was für Gedanken man in so einer Situation kam, doch es kränkte mich schon ein wenig, das muss ich zugeben, dass er mich quasi mit meiner Mutter in einen Topf warf! „Ja, ich weiß, du musstest denken, ich hätte dich absichtlich nicht befreit”, murmelte ich und er horchte auf. „Aaaber …?!”, dehnte er die Frage,

hoffnungsvoll, wie mir schien. „Aber ich hab erst vor kurzem davon erfahren und bin sofort nach Berlin zurück. Das Auswärtige Amt … Ach egal, was das Lösegeld angeht, es ist so, du ...”, sprudelte es hektisch aus mir hervor. Ich brachte es fast nicht über mich, aber so waren nun mal die Fakten. Jens gefiel mein Zögern gar nicht. „Ja?”, sagte er fordernd und ich seufzte. „Die Nummer, die du kontaktiert hast, war nicht meine, sondern deine. Die von deinem Handy, wo der Akku schon lange leer war und so hat keiner hat deine Nachricht bekommen ...” „Oh!”, machte er. Dann nochmal, „Oh ...”, als ihm das Ausmaß des Ganzen langsam bewusst wurde. Dass er leider auch ein bisschen selber Schuld an der Wartezeit war, aber auch dass ich- „Ich, äh, ich … Scheiße, ich hab schon

wieder die Nummern verwechselt?!?” Als Antwort sah ich ihn nur stumm an und hob langsam die Achseln. „Dann … Dann wolltest du mich nicht dafür bestrafen, dass ich-” Er schlug die Hände vors Gesicht, doch ich griff rasch danach und zog sie auseinander. „Verdammt Jens, nein!”, brach es aus mir heraus, so dass mein Mann besorgt die Augen wegen der Lautstärke aufriss. „Deswegen bin ich doch hier, ich weiß, du musstest eh schon denken, wir hätten dich vergessen, weil das Handy bei Sabine war. Und dann wollten sie dich nicht frei lassen, obwohl wir gezahlt haben und keiner konnte uns helfen und ich hab solche Angst um dich gehabt und-” „Catherine!”, seufzte Jens da plötzlich und riss mich abrupt in seine Arme. Presste mich eng an sich, erdrückte mich fast

und während meine Füße in der Luft baumelten gab er mir endlich einen weiteren Kuss, küsste mich mit einer Intensität, die mir alles sagte, was ich wissen musste. Ich ertrank beinahe in diesem Kuss, umklammerte Jens' Hals und wäre am liebsten in ihn hinein gekrochen. Vorsichtig löste er seine Lippen von meinen, ließ aber seine Wange auf meiner, damit er die nächsten Worte nur flüstern brauchte. „Catherine, meine geliebte kleine Cat, eigentlich habe ich es immer gewusst. Wie konnte ich nur an dir zweifeln?!?” Er presste das Gesicht in meine Haare atmete tief ein. „Verzeih mir! Verzeih, dass ich grade so ein Arsch war! Es tut mir leid, es ist … irgendwie mit mir durchgegangen. All diese Zweifel und Ängste der letzten Zeit … und jetzt stellt sich heraus, ich war selber Schuld daran. Nicht nur ein Arsch, sondern auch ein

Idiot!” „Ach Jens, hör auf damit!”, wisperte ich und strich durch seine widerborstigen Haare. „Ich kann nicht! Cat, bitte vergib mir, dass ich an dir gezweifelt habe!” „Ist in Ordnung”, flüsterte ich heiser zurück, doch mein Mann redete weiter: „Dabei wusste ich eigentlich immer, dass du mich liebst, so wie ich dich! Nur der Gedanke an dich hat mich das alles hier überstehen lassen, glaub mir!” „Liebling!”, schluchzte ich auf, überwältigt von all den Gefühlen, überwältigt von all den Gefühlen, die seine Nähe und seine Worte in mir auslösten. Rasch verbarg ich mein Gesicht an seinem Hals, immer noch in seinen Armen in der Luft schwebend, wo er mich eine Weile stumm wiegte. Erst, als er mich sanft wieder auf den

Boden stellte, hörte ich ihn wieder etwas murmeln „Aber was machen wir nur jetzt?!” Es klang echt verzweifelt und mein Herz zog sich zusammen. Großen Kummer bereitete ich ihm gerade, natürlich, er hatte große Angst um mich. Und doch … So, wie die Dinge lagen, mit diesem Alvarez da draußen, hätte es wahrscheinlich ansonsten gar keine Chance gegeben, ihn wieder zu sehen! Lieber ging ich hier gemeinsam mit ihm zugrunde, als ohne ihn weiter zu leben! Und das sagte ich ihm auch. Da stöhnte er leise, vergrub sein Gesicht erneut in meinen Haaren. „Ich weiß. Als sie den Großen erschossen haben-” „Pedroso!?” „-da dachte ich, nun erschießen sie auch dich

...” „Tja, das dachte ich auch”, versuchte ich es scherzhaft klingen zu lassen, doch er schüttelte unwirsch den Kopf. „In diesem Moment war auch ich bereit-” Verzweifelt nahm ich sein Gesicht in beide Hände und verschloss seinen Mund mit meinen Lippen. Jens stöhnte leise in diesen Kuss hinein und presste mich an die Wand. Unsere Küsse und Berührungen wurden allmählich leidenschaftlicher, all die aufgestaute Energie der letzten Monate schien sich Bahn zu brechen. Langsam, während wir nicht die Finger voneinander lassen konnten, rutschten wir die Wand herab, bis wir auf dem Boden lagen. Jens bedeckte mein Gesicht mit Küssen, wanderte mit seinen Lippen über meinen Hals, um dort leicht zu saugen. Nach all der Zeit und

Hoffnungslosigkeit hatte ich in diesem Moment fast das Gefühl, den Verstand zu verlieren und die Sehnsucht gewann die Überhand. „Liebe mich, Jens!”, bat ich und er fragte nicht einmal das obligatorische 'Hier?', sondern eroberte mit einem zustimmenden Brummen meinen Mund. Wir küssten uns wild und es gab kein Halten mehr: Dort, auf dem plattgetretenen kahlen Lehmboden liebten wir uns spontan und leidenschaftlich, glücklich inmitten all dieser Hoffnungslosigkeit, glücklich darüber, wieder zueinander gefunden zu haben und immer darauf bedacht, allzu leidenschaftliche Laute mit gegenseitigen Küssen zu ersticken. Es war ein Akt der Liebe, aber auch der Verzweiflung, aus dem wir wie aus einem tiefen Schlaf wieder in der Realität

aufwachten. * Draußen krähte der erste Hahn und Jens seufzte. „Du solltest wieder rein. Oh Cat, ich hasse den Gedanken, dass wir beide hier zusammen verschimmeln werden. Oder wenn einer von den Wachen auf die Idee kommt …!” Er würgte bei diesen Worten regelrecht, aber ich gab ihm ein letztes Küsschen auf die Nase. „Sag das nicht”, bat ich ihn. „Noch leben wir! Und wir finden einen Weg. Oder Stan, er weiß, dass ich mit Pedroso hier bin. Noch ist nicht alles verloren!” Jens lächelte matt. „Meine Kitty, selbst im Verlies noch tapfer!” Ich grinste zurück, stand auf und huschte durch die Tür in meinen Schlafraum. Bevor ich sie schloss, meinte ich „Hab ich ja Übung drin. Und

denk immer dran: Ich liebe dich!” „Und ich liebe dich!” Er bekam noch ein Luftküsschen, dann war ich wieder bei der immer noch röhrenden Abuelita. Aber es war mir egal! * An den folgenden Tagen fand ich mich allmählich in den Tagesablauf ein, der hauptsächlich aus großer Langeweile bestand. Vielleicht war das mit das Schlimmste an dieser Gefangenschaft, diese absolute Leere und Nutzlosigkeit, der Zwang, den Tag ohne Sinn und Aufgabe überstehen zu müssen! Aber noch wurde das von dem wundervollen Gefühl überragt, meinen Mann wieder zu haben! Wie es wahrscheinlich auch unter normalen Umständen der Fall gewesen wäre, hielt ich mich

von Anfang an verstärkt in der Nähe meines 'Retters' auf. Für die Anderen musste es so scheinen, als freundete ich mich langsam mit ihm an, zumal sie ja auch gemerkt hatten, dass wir aus dem gleichen Land kamen. Da hielt man wahrscheinlich tatsächlich automatisch zusammen, froh, die eigene Sprache benutzen zu können. So hatten wir gleichzeitig auch eine Art Geheimsprache. Die restlichen Männer schienen ihren Appetit auf mich seit dem ersten Tag gut zügeln zu können, es war wohl die Mischung aus Jens' imposanter Größe und den Fähigkeiten, die ich demonstriert hatte. Ansonsten verstand man sich hier ganz gut, es herrschte Solidarität unter den Gefangenen, kein Wunder, das waren ja keine Tiere, sondern teilweise sehr kluge und gebildete Leute, die nur den Fehler gemacht hatten, eine Reise durch so ein verstörtes Land zu

machen. Trotzdem, man konnte ja nie wissen, ging ich dazu über, meine Tür nachts von Innen zu blockieren, es würde dann doch auffallen, wenn Jens jede Nacht davor kampieren würde. Tagsüber redeten er und ich anfangs nur das Nötigste miteinander. Die Gefangenen lümmelten mal in diesem, mal im anderen Zimmer umeinander und man wusste nie genau, wer einem zuhörte, trotz Geheimsprache. Momente echter Zweisamkeit trauten wir uns daher nicht mehr zu, das Haus war zu hellhörig - es war schon ein Wunder, dass uns in der ersten Nacht keiner gehört hatte! - und Jens wollte auch niemanden auf dumme Gedanken bringen. Bis ich auf eine kleine, irgendwie vergessene

Kammer stieß! Der Grund für ihre Nichtbeachtung war wohl, dass hier das Dach eingefallen und gar nicht mehr existent war, es gab ja den Innenhof, wer brauchte da ein Zimmer, in das es rein regnete?! Hier verbrachten wir von nun an viel Zeit miteinander, davon hatten wir ja genug. Meistens eng aneinander gekuschelt lagen wir da und redeten. Ich erzählte von Afrika und es freute mich, dass Jens mit echtem Interesse zuhörte, sogar Fragen stellte. Im Gegenzug berichtete er vom Beginn seiner Reise – nur über den Tag der Entführung wollte er nicht reden, das war wohl noch zu frisch. Dafür schilderte er noch immer begeistert die Eindrücke der ersten Tage, welche trotz der Umstände nach wie vor positiv waren. Das Land an sich konnte ja nichts für die Irrungen der Menschen, die auf ihm lebten.

„Und immer hab ich unterwegs und beim Knipsen gedacht, wie schön es doch wäre, jetzt hier mit dir zusammen ...“ Hinter seinen Worten schwang natürlich die Frage nach dem ‚Warum?’ mit; wieso war ich abgehauen? „Weißt du, ich wollte dich damals echt nicht bestrafen oder so was“, setzte ich an. „Ehrlich gesagt weiß ich selber nicht mehr so genau, wie ich in den Zug gekommen bin, es war, als hätte eine fremde Macht mich übernommen oder als ob ich in Trance gewesen wäre! Wie ich dann am Flughafen war, setzte sich mein Pflichtbewusstsein gegenüber den alten Freunden durch“, versuchte ich zu erläutern, was nicht zu erläutern war. So zuckte ich mit den Schultern. „Genau

genommen kann ich es nicht wirklich erklären … Ich glaube, es hat mich verletzt, dass du über mich bestimmen wolltest wie über ein kleines Kind.“ Jens seufzte anzüglich und raunte in mein Ohr „Glaub mir, Cat, so sehe ich dich ganz und gar nicht … Eigentlich macht es mich wahnsinnig, als Mann so tatenlos neben dir hier liegen zu müssen!” Geschmeichelt lächelte ich ihn an, streifte wie zufällig mit meinem Busen seine Brust, was mir einen tadelnden Blick einbrachte. „Wo war ich? Also, wie gesagt, es war eine echte Kurzschlusshandlung. Kannst du mir verzeihen?” Zärtlich streichelte Jens mir über die Wange. „Kannst DU mir jemals verzeihen? Es tut mir leid, wie ich reagiert habe, als das Telegramm kam. Ich hätte wissen müssen, wie viel es dir bedeutet und dass du unsere Reise nicht einfach

so leichtfertig aufgibst! Um ehrlich zu sein, war mir schon im Flugzeug klar, dass ich ein Idiot bin ... Nur, nachdem du plötzlich weg warst, hab ich mir tierisch Sorgen gemacht und als dann raus kam, du bist schon halb in Namibia- Na ja, auch Männer können Trotzanfälle bekommen ...“ „Beruhigt mich ja, dass du auch nur ein Mensch bist“, nuschelte ich und presste mein Gesicht auf seine Brust, während er tadelnd schnaubte und mir über den Rücken strich. Versonnen murmelte er etwas später „Mann, es klingt echt komisch, aber die ganze Zeit hier hab ich mich oft geärgert, weil die teure Fotoausrüstung und das Equipment futsch sind bzw. jetzt wahrscheinlich in einer der Hütten hier vergammeln, weil keiner checkt, WIE wertvoll das Zeug eigentlich ist.“ Das stimmte, die Firma, von der ich meinem

Schatz auch einige Teile geschenkt hatte, produzierte die Gehäuse in einer sehr schlichten, fast schon armseligen Optik, was aber auf Reisen oft ein Vorteil war. „Von den bereits gemachten Bildern ganz zu schweigen, das würde ich nie wieder so hinkriegen!“ Als er das so trauerumflort sagte, musste ich schmunzeln. „Da kommt wieder der Künstler durch“, neckte ich ihn, doch er riss die Augen auf. „Nein, das ist es gar nicht!“, schüttelte er den Kopf. „Ich hatte nur gehofft, all das Schöne dann doch noch mit dir teilen zu können, dir alles zuhause zeigen zu können ...“ „Du bist süß”, seufzte ich. „Ich kann eigentlich immer noch nicht glauben, dass du uns sogar geoutet hast, du Meister der Geheimhaltung! Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, dir dafür

zu danken!!” „Ach ja”, grinste Jens, „wie ist das eigentlich aufgenommen worden?” Ich zuckte mit den Schultern. „Ähm, ehrlich gesagt, ich hab so recht keine Ahnung; ich war ja dann auch weg und als ich zurück kam, hatte ich andere Sorgen ...” „Hm.” „Außerdem, ich würd mich auch gar nicht trauen, in irgendein Forum zu gucken, das gab bestimmt einen Shitstorm damals ...” „Warum?” „Weil so bei den meisten Mädchen endgültig die Realität ihre Träume von dir hat platzen lassen, denke ich.” Jens schnaubte. „Oh Mann, ich kann das eh nicht verstehen, diese ganzen jungen Girlies, was finden die bloß an mir altem Sack?!” Da musste ich spontan kichern. „Sowas Ähnliches hat Pfanni vor kurzem in einem

Interview auch gesagt. Er und die anderen lassen übrigens herzlich grüßen und hoffen, dich bald wieder zuhause zu haben.” Das quittierte mein Mann mit einem schiefen Lächeln. Denn über allem schwebte die Frage: Wie würde es hier mit uns weiter gehen? Doch trotz dieser beständigen Sorge nagte nun eine andere an mir, etwas, das Jens gerade gesagt hatte, rief dumme Gedanken wach, auch wenn ich im ersten Moment lachen musste ... Am nächsten Tag lagerten wir wieder auf dem ungemütlichen Boden, wobei ich es besser hatte, denn ich lag geborgen in Jens' Arm, den

Kopf an seiner Schulter. Ich raffte meinen Mut zusammen und sah zu ihm hoch. „Mir ist aufgefallen, dass du schon wieder mit diesem Altersmist angefangen hast, gestern. Ich dachte, das hätten wir hinter uns!“ „Na ja“, murmelte Jens, nahm meine Hand in seine und spielte verlegen mit meinen Fingern, sagte aber erst mal nichts. Endlich schien er sich zu einer Antwort durchgerungen zu haben. „Weißt du, es ist  nun mal etwas, was mich im Laufe des letzten Jahres massiv beschäftigt hat. Das lässt sich nicht so einfach wegschieben. Und der Abend damals hat es im Nachhinein nicht besser gemacht ...“ „Armer alter Knochen“, säuselte ich und wir mussten beide kurz grinsen in Erinnerung daran, wie hitzköpfig und beleidigt wir damals beide reagiert hatten. Ernster schob ich dann nach „Aber jetzt mal ernsthaft, macht dir das immer

noch solche Sorgen?“ „Hm. Sorgen ... Nun, im Moment habe ich hier ganz andere, aber vorher hatte ich ja schon viel Zeit, nachzudenken. Und hatte das Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein-“ „Jens-“ „Sht, lass mich ausreden! Ich weiß ja nun, dass es nicht so war und hab’s auch währenddessen nicht wirklich geglaubt. Das Gefühl war aber trotzdem da, verstehst du?“ Ich nickte, denn mit zu unterdrückenden Gefühlen kannte ich mich schließlich gut aus. „Und da hab ich schon überlegt, was wäre, wenn ... Wenn ich nicht mehr zu dir zurückkehren kann, was würdest du dann tun? Um mich trauern, natürlich, das ist ja wohl das Mindeste“, sagte er und wollte seine Worte anscheinend mit einem Grinsen auflockern. Doch ich schaute ihn nur böse an, so dass er

stockend fortfuhr. „Aber Trauer ist begrenzt, irgendwie ... Irgendwann wird es leichter zu ertragen und die Menschen fangen ein neues Leben an. An diesem Punkt hab ich mir ausgemalt ... wie du wieder hinausgehst, etwas mit Gleichaltrigen unternimmst – und irgendwann eine neue Liebe findest. Einen hübschen jungen Kerl, der außerdem nicht monatelang im Ausland oder auf Tour verschwindet!“ Mir wurde für einen Moment ganz komisch, vor Ärger, Wut, Unverständnis – und wegen einer leisen Vorahnung! „Du blöder Kerl“, presste ich hervor, „ich kann das bald nicht mehr hören! Als nächstes erzählst du mir wahrscheinlich, du hast mit dem Gedanken gespielt, mich tatsächlich zu verlassen!“ Noch immer beschäftigte sich seine Hand mit meinen Fingern und schließlich seufzte Jens.

„Nun, ich gebe zu ... ich hatte da so die romantische Vorstellung, selbst wenn ich hier frei käme, mich einfach weiter zu verstecken und mich für tot erklären zu lassen.“ „Jens!“, keuchte ich entsetzt. „Du bist ein elender Mistkerl, ein echt mieser Egoist!“ Das überraschte ihn nun doch und er stutzte. „Egoist?!“ Wütend funkelte ich ihn an. „Oh ja, ein Egoist! Du tust so, als würdest du dabei immer nur an mein Wohlergehen denken. Aber in Wirklichkeit willst du einfach vor Schwierigkeiten davon laufen, getarnt als diese romantische Idee, deine Liebe zu meinen Gunsten zu opfern. Wahrscheinlich bist du immer noch nicht davon geheilt, was?!“ Seine Stirn legte sich in Falten. „Also entschuldige bitte vielmals, dass ich dich auch nach all den Jahren noch immer gerne

beschützen möchte! Wenn es eine Möglichkeit gäbe, nur dich, aber dafür sicher, hier raus zu bek-“ „Nein!“, fuhr ich heftig dazwischen und es war mir egal, ob uns jemand hören konnte oder nicht. „So einfach geht das nicht! Stell dir mal vor ... Ich meine, wir haben hier ungeschützt miteinander geschlafen. Da hätten wir jetzt auch gut ein Kind zeugen können! Würdest du dich auch aus dieser Verantwortung stehlen wollen?!“ „Aber ich will mich doch- Cat, willst du mir damit irgendwas sagen?!?“, japste er, doch ich beruhigte ihn. „Nein, keine Ahnung, das war echt rein hypothetisch! Aber verstehst du, was ich sagen will?“ (Gute Frage, denn das wusste ich im Moment beinahe selber nicht.)

Jens schien auch zu rätseln und ich ließ langsam die angestaute Luft aus meinem Bauch ab. „Ach Jens, mein geliebter Schutzengel, du machst mir Angst! Schon einmal warst du bereit, alles aufzugeben, MICH aufzugeben, nur auf eine Idee hin ... Wer sagt mir denn, dass das nicht wieder passiert?!!“ Ich fühlte mich in diesem Moment klein und verzweifelt und langsam traten mir die Tränen in die Augen. Der Mann an meiner Seite schloss die Augen und sagte eine Zeitlang nichts. Dann immer noch nichts. Sein Arm lag die ganze Zeit um meine Schulter und ich spürte seine Wärme durch die zerschlissenen Klamotten, konnte aber vor Spannung kaum atmen. Plötzlich drückte sein Arm mich fester, er schüttelte unwirsch den Kopf und sah mich an. „Du hast Recht!“

„Womit genau?“ „Eigentlich mit allem. Aber vor allem damit, dass ich im Grunde ein Feigling bin! Damit ist jetzt Schluss!“ Er zog meine Hand nun zu seinem Mund und während er weitersprach, unterstrich er jeden Satzteil mit einem Kuss auf eine meiner Fingerspitzen: „Ich“  - Kuss auf den Daumen - „verspreche dir,“ – Kuss auf den Zeigefinger - „dass ich nie wieder“ – etc. „daran denken werde,“ „dich zu verlassen!“ Die gleiche Hand legte ich nun an seine Wange. „Jens, bitte, versprich es nicht nur, schwör es mir!” „Ich

schwöre!” „Schwöre bei allem, was dir heilig ist, dass du mich nicht verlässt, nur weil du meinst, das sei besser für mich!” „Also schwöre ich bei dir ...” „Nein, stell mich nicht auf ein Podest, so hat das doch angefangen! Ich bin eine normale Frau und denkst du nicht, obwohl ich etwas jünger bin, bei all dem, was ich in meinem Leben schon mitgemacht habe – dass ich da innerlich nicht steinalt bin? Älter als du?!” „Nie im Leben! Wer so kratzbürstig ist, wird ewig jung bleiben!” Ich verdrehte die Augen, seufzte dann und presste mein Gesicht an seine Brust. „Auch egal. Ich liebe dich!” „Und ich liebe dich, Cat, Kitty, Catherine, in all deinen Inkarnationen und falls …” Er räusperte sich. „WENN wir wieder zuhause

sind, wird alles anders werden!” „Ich will es gar nicht anders. Ich will es nur, wie es bisher war, okay?!” Jens gab mir einen Kuss auf die Nasenspitze. „Okay.” Wie konnte man nur so idiotisch glücklich sein? Eingepfercht in einen besseren Schweinestall?! Ständig in der Gefahr, für ein Exempel herausgepickt zu werden?!? Aber so war es, macht was dran, inmitten dieser Hoffnungslosigkeit fühlte ich mich seltsam schwebend, denn endlich schien alles

geklärt! * Die Tage krochen dahin und ich lernte auch die anderen Männer besser kennen. Zwei von ihnen kamen aus den USA, einer war aus Brasilien, drei aus Japan, China und Korea; aus Europa stammten unter anderem ein Italiener sowie ein junger Schwede. Bei der Vorstellung von letzterem schmunzelte mein Schatz. „Sven hat sich zuerst gefreut und mich gleich auf schwedisch angesprochen, aber außer ein paar Bocken konnte ich ihm da leider nicht weiterhelfen.” Da musste ich auch grinsen, im Ausland war ihm das schon oft passiert, für einen Skandinavier gehalten zu

werden! Abuelita hatte so etwas wie eine Sonderstellung, die Ärmste, sie war unter den eigenen Reihen in Ungnade gefallen und zur Strafe hier eingesperrt worden! Doch sie hatte ihre Bestimmung darin gefunden, sich als Mutter der Kompanie um die Männer zu kümmern und nun natürlich verstärkt um mich. Übrigens gab es eine Ausnahme in der täglichen Langeweile: Einmal täglich wurden die Gefangenen zu einer Art Appell auf den Hof gerufen und mussten sich in Zweierreihen aufstellen. Dann stolzierte Alvarez vor ihnen herum, verhöhnte die Geiseln damit, dass ja anscheinend keiner für sie zahlen wollte (eine glatte Lüge, so viel war ja klar; aber ich traute mich zugunsten meiner Tarnung nicht, die Anderen aufzuklären – wer weiß, was Alvarez mit dem Wissen über meine wahre Identität

angefangen hätte?!), und berieselte sie mit Parolen, sie sollten sich doch der Revolution anschließen etc., etc. Ich musste dabei neben Alvarez stehen und dolmetschen, seine Propaganda ins Englische und Deutsche übersetzen. Da letzteres allein Jens verstehen konnte, fing ich einmal an, eine leicht verhohnepiepelte Version seiner Rede zu übersetzen, was Jens aber in arge Bedrängnis brachte, nicht lauthals loszulachen, deswegen ließ ich es öffentlich schnell wieder sein ließ. Aber allein in unserer Kammer amüsierten wir uns dann heimlich doch noch, betitelten Alvarez dabei als GröReFaZ (größter Revolutionsführer aller Zeiten) und wollten uns über seine theatralische Ader schier kaputt lachen. Galgenhumor halt! Irgendwie, auch wenn es komisch klingt, diese

Momente der Zweisamkeit dort in der Kammer … Wenn ich zurück denke, so viel gemeinsame Zeit hatten wir seit der Zeit meiner Schwangerschaft nicht mehr miteinander verbracht und damals waren wir 'nur' Freunde gewesen! Ich meine, klar, nachdem wir uns gefunden hatten, war eigentlich alles klar gewesen, wir waren ein Paar und wir waren definitiv glücklich, doch gemeinsame, ruhige Zeiten und Momente waren seitdem rar gesät … Zuerst war ich noch in Afrika gewesen, Jens ging entweder mit seiner ersten Band auf Tour oder mit seinem Soloprojekt, dazwischen reiste und fotografierte er; ich dagegen musste mich ständig weiterbilden und oft Nachtwache bei kranken Tieren halten – als normal konnte man unsere Beziehung echt nicht bezeichnen!

Sogar der Hochzeitsantrag war etwas seltsam verlaufen. Also, irgendwie war er ein Gemeinschaftswerk gewesen ... Damals erreichte mich, ich war inzwischen nach Deutschland zurück gekehrt und hospitierte bei Hagenbeck, ein Anruf von Jens mitten aus seiner aktuellen Tournee. Man könnte meinen, wir würden jeden Tag telefonieren, aber das klappte leider nicht. Die Zeiten, zu denen wir arbeiteten bzw. unsere Aufmerksamkeit von anderen wichtigen Dingen in Anspruch genommen wurde, waren einfach zu unterschiedlich. War er nach einem Auftritt noch total aufgedreht, lag ich wahrscheinlich nach einem 12-Stunden-Tag im Zoo mit Pavian-Impfaktion

(!) schon halb im Koma! Umgekehrt schlief Jens zu meiner Aufstehzeit oft noch oder war mit den anderen im Tourbus unterwegs. Kurz, man verfehlte sich oft und wir waren um so glücklicher, wenn es dann doch mal klappte. Man verstehe mich recht, unserer Liebe tat das nun wirklich keinen Abbruch! Bis zu Jens' Midlifecrisis hatten wir eigentlich keine Probleme gehabt, nur eben oft wenig Zeit füreinander … An jenem Nachmittag war mein Schatz besonders aufgekratzt gewesen. „Ach Cat, ich vermisse dich so!” „Das hört man gern”, hatte ich zurück gegeben, wartete auf sein unvermeidliches „Und?” „Und was?”, hatte ich geschmunzelt, wusste ich doch schon, was nun kommen würde. „Und du, vermisst du mich denn gar nicht?!”,

hatte Jens prompt gedrängelt und ich hatte in mich hinein gegrinst. Gut, dass wir heute nicht skypten! „Jaaa, schon, ein bisschen ...”, hatte ich meine Antwort künstlich gedehnt, worauf er „Puh!”, machte. Ein kleines Spielchen, welches wir öfter spielten. Schließlich waren wir noch immer wie frisch verliebt und neckten uns gerne. Doch diesmal setzte mein Schatz nach. „Aber mal ernsthaft, ich werd noch verrückt vor Sehnsucht nach dir … Zum Glück ist der Spaß hier in vier Wochen vorbei und ich hab mir gedacht ...” Plötzlich hatte er sich übertrieben geräuspert. „Also, dann ist es Ende August und die Haupttourisaison ist dann noch nicht losgegangen … Ähm, also, was hältst du davon, wenn du Urlaub nimmst und wir für ein paar Tage nach Venedig

fahren?!” Verblüfft hatte ich erst mal gar nichts gesagt. So ein konventionelles Reiseziel für meinen Weltenbummler?! Dann war mir etwas eingefallen. Hatten wir nicht in den ersten Monaten ein wenig rumgesponnen und uns mit heiligem Ernst versichert, dass die einzig wahre und echte Hochzeitsreise nur nach Venedig gehen konnte?!? Kitschig, klischeehaft, ja, aber in jedem von uns steckt wohl tief verborgen ein heilloser Romantiker … „Jens, Schatz, bist du dir denn darüber im Klaren, dass wir dazu vorher erst mal heiraten müssen?!”, fragte ich scherzhaft in Erinnerung an unsere frühere Unkerei. „Öhm … Ja, Catherine, ich denke schon, dass sich das machen ließe

...” Oh Gott, war das ein Heiratsantrag? Oder hatte ich den gerade gemacht? Noch Jahre später herrschte bei uns Uneinigkeit, wer denn nun derjenige welcher gewesen sei, der oder die den Heiratsantrag nun eigentlich gemacht hatte! Wobei Jens immer behauptete, er hätte genau mit dieser Absicht Venedig überhaupt ins Spiel gebracht. Aber was wäre denn unsere Liebe, wenn wir uns nicht um irgendwas kabbeln konnten! Ich weiß gar nicht mehr, wie, aber wir schafften es tatsächlich, uns eine Woche im September frei zu schaufeln, wo wir erst im kleinen Kreis heirateten und dann im Nachtzug nach Venedig fuhren. Einfach zwei rasend verliebte Menschen auf Hochzeitsreise in einer der romantischsten Städte der Welt!

Es war wundervoll gewesen, sich abseits von Arbeit, Konzerten, Brüdern, Söhnen und Tieren einfach mal nur aufeinander als Paar konzentrieren zu können … Solche Gelegenheiten waren aber trotz noch folgender gemeinsamer Reisen insgesamt doch eher selten und kostbar, so viel Zeit füreinander wie in Gefangenschaft hatten wir kaum je am Stück zusammen verbracht. Zum Glück hielten wir das auch aus, denn manche Paare verkraften so viel Nähe gar nicht, wir aber schon. Im Gegenteil, es hatte etwas unheimlich romantisches und spannendes, dort so manche Stunde Arm in Arm miteinander zu liegen und zu schmusen … Trotz der schlimmen Situation, in der wir uns befanden, war es wie die Erneuerung unserer

Liebe, eine Zeit, die uns wieder eng zusammen schmiedete. Wie gesagt, es klingt sicher komisch, aber so kann auch aus etwas Schlechtem etwas Gutes entstehen! Ich war bereits voll im Trott der regulären Abläufe, als diese urplötzlich durchbrochen wurden.

10. Kapitel

Auf einmal herrschte eine totale Hektik im Lager, die auch wir im Gefängnis mitbekamen. Draußen liefen Leute umher wie die Schlümpfe, wenn Gargamel kommt und vereinzelt waren aus der Ferne sogar Schüsse zu hören! Was passierte da nur? Befehle wurden gebellt und es schien, dass Alvarez verzweifelt darum bemüht war, die Ordnung aufrecht zu erhalten. Wir Geiseln sammelten uns unruhig im Raum vor der Tür. In diesem Moment war mir dann auch alles egal, ich ergriff offen Jens' Hand. Auf meiner anderen Seite hing Abuelita an meinem Overall und jammerte ängstlich, ihr letztes Stündlein hätte nun wohl doch geschlagen. Mein Mann erbleichte und schaute

mich panisch an, da wurde auch schon die Tür aufgestoßen und eine der Wachen schrie uns an, wir sollten sofort auf den Exerzierplatz kommen. Immer mit vorgehaltenen Waffen bedroht wurden wir aus dem Haus getrieben, mussten uns in Zweierreihen auf dem Platz aufstellen. Die Leute hier waren total aufgelöst und es war deutlich erkennbar, dass sie eigentlich auf Flucht aus waren, aber irgendwas hielt sie davon ab. Ich fluchte laut, weil ich es nicht in Jens' Nähe geschafft hatte, man hatte mich neben das Großmütterchen gezerrt. So standen wir da in Reih und Glied, wobei wir vereinzelte Sprachfetzen aufschnappen konnten. Wie es schien, näherte sich eine größere Einheit Regierungs-Soldaten dem Dorf. Und sie hatten

es anscheinend schon weitgehend eingekesselt, deswegen die Angst in den Gesichtern! Diese Angst beherrschte bald auch jene von uns, die des Spanischen mächtig waren, denn Alvarez und seine Offiziere diskutierten ernsthaft darüber, uns als lebende Schutzschilde zu missbrauchen und zu opfern! Panisch hörten wir die hitzigen Diskussionen, auch, wie einige der Männer es überraschend offen wagten, dem Comandante zu widersprechen. Sie meinten, dass es in diesem Fall besser wäre, die Geiseln zu schützen und als Unterpfand zu übergeben, weil das einen besseren Eindruck machen würde. So standen wir da, hilflose Opfer in einer Situation, die zu eskalieren drohte. Verzweifelt umklammerte ich in meiner Hosentasche die

kleine Spraydose, die seit meiner Ankunft hier keiner gefunden hatte, aber was konnte die schon gegen all die Gewehre ausrichten?! Sogar von meinem Platz aus sah ich Jens' Kiefer mahlen und fürchtete schon, er würde etwas Dummes machen. Doch dazu kam es nicht, denn plötzlich ging das Dach eines der Häuser in Flammen auf, Schüsse fielen in nächster Nähe und auf einmal regierte das Chaos! Blendgranaten explodierten und nahmen allen die Sicht, die greise Abuelita krallte sich wimmernd in meine Hand. Beruhigend legte ich den Arm um ihre Schulter, seltsam, wie man sich zusammenreißen kann, wenn einen jemand braucht; so ähnlich muss es Eltern gehen, die ihre Kinder beschützen! Fast sofort lag eine dicke Staubwolke über dem

Platz und ich hatte man keine Ahnung, wohin wir uns wenden sollten. Da tauchte plötzlich Jens aus dem Nebel auf und packte mich am Ellbogen. „Da rüber”, dirigierte er mich, zerrte mich dabei mit der Alten im Schlepptau in die Richtung unseres Verlieses. „Ich wette, sie wissen dass die Geiseln dort waren und vielleicht bleibt das Gebäude verschont!”, hörte ich ihn schreien. Wir kauerten uns in den Eingang und ich konnte Luft holen, aber nur kurz, denn plötzlich drückte mir Jens einen Kuss auf den Mund, sah mich dann aus nächster Nähe an. „Kommst du zurecht? Ich würde noch gern ein paar von den anderen her holen ...” Alles in mir schrie eigentlich 'NEIN', aber klar, so war mein Schatz nun mal gestrickt. In seinen Augen sah ich den gleichen Impuls glimmen, der ihn wohl auch damals zu mir ins Wasser hatte springen

lassen. Er sprach weiter. „Aber ich weiß nicht, kann ich dich allein-” Hektisch küsste ich ihn nun meinerseits. „Ich komm schon klar, tu, was du tun musst. Aber pass auf dich auf! Und … komm zu mir zurück!” Im Aufstehen griff er nach meiner Hand und legte sie an seine Stirn. „Natürlich komme ich zu dir zurück! Du bist mir das Wichtigste auf der Welt!” Dann war er im Chaos aus Staub, Schreien und Schüssen verschwunden. Ich fühlte mich grausam unnütz und hatte schreckliche Angst, doch ich wusste, ich durfte ihn nicht aufhalten. Die alte Frau neben mir war in eine regelrechte Katatonie verfallen und ich hätte sie nicht alleine lassen können, selbst

wenn ich gewollt hätte. Es blieb nur auszuharren und zu hoffen! Ganz nutzlos war ich dann doch nicht, denn Jens hatte offenbar Erfolg und einige unserer Schicksalsgenossen fanden den Weg zurück zu unserer Hütte. So hatte ich endlich eine Aufgabe, sie mit meiner Stimme vorsichtig durch das Chaos zu lenken und in die richtige Richtung zu dirigieren. Nach und nach fanden sich so die Asiaten und der Italiener, Suryan, bei mir und Abuelita ein. Ängstlich kauerten wir im Eingang, denn Kugeln pfiffen um uns herum und Granaten explodierten. Und die ganze Zeit betete ich, was ich nicht einmal in meinem damaligen Verlies getan hatte, darum, dass Jens heil zu mir zurück kehrte! Ich stand tausend Tode aus und merkte deswegen erst etwas verspätet, dass der Kampflärm allmählich

abflaute. Das Dorf schien eingekreist und längst nicht alle hatten es geschafft, zu fliehen, noch immer liefen Menschen auf dem Platz hin und her. Plötzlich sah ich meinen Mann, wie er auf uns zu rannte und wollte schon erleichtert aufatmen, da explodierte fast genau vor unserer Hütte eine der Granaten. Splitter flogen umher und eine Sandwolke nahm uns den Atem, natürlich konnte ich auch kaum etwas sehen. Das wenige, was ich dann sah, würde ich allerdings am liebsten bis an mein Lebensende vergessen! Denn ich sah Jens' hochgewachsene Gestalt, er hatte irgendwen im Schlepptau und ich fühlte den Schuss, der ihn vor meinen Augen traf, beinahe selber, mehr als dass ich ihn hörte.

Ich sah Jens fallen, schrie verzweifelt seinen Namen und wollte aufspringen, zu ihm laufen, als mich plötzlich mehrere Hände packten und zurück rissen. Es war nicht nur die Greisin, die an meinen Sachen hing, die wäre ich sicher noch los geworden, aber auch Suryan hielt mich umklammert wie eine Stahlzwinge. Beide redeten in ihrer jeweiligen Muttersprache auf mich ein, ich jammerte und beschimpfte sie auf deutsch, es war ein wahrhaft babylonisches Wirrwarr. „Lasst mich los, ihr versteht das nicht, ich muss zu ihm, er ist verletzt ...”, schrie ich. Sie meinten es ja nur gut, wollten mich beschützen, trotzdem wünschte ich sie in diesem Moment in die hintersten Winkel der Hölle! Allein, es half nichts, nachdem auch der Chinese

mithalf, hatten sie mich unter Kontrolle und in der anrollenden Staubwolke konnte man eh nichts mehr sehen. Und plötzlich herrschte für einen langen Moment eine unheimliche Stille – welche gleich darauf von bellenden Befehlen durchbrochen wurde. Das Militär war eingetroffen und es schien für einen Moment, als seien wir vom Regen in die Traufe geraten, denn ein kleines Kontingent baute sich vor unserem verlumpten Haufen auf und bedrohte uns schreiend mit ihren Waffen, unfähig anscheinend, Freund von Feind unterscheiden zu können! In diesen Augenblicken – hier spreche ich sicher auch für die anderen – war unsere Todesangst so groß wie nie. Sollten wir nach all dem bisher Überstandenen nun durch die Hände unserer

Retter sterben?! So kauerten wir vor den auf uns gerichteten Mündungsrohren, hielten die Hände hinter den Köpfen verschränkt und versuchten, möglichst harmlos auszusehen und den Männern klar zu machen, wer wir waren und dass wir nicht zur FARC gehörten. Und während all der Zeit hatte ich noch immer den Impuls, zu Jens zu rennen, der irgendwo auf dem Platz getroffen liegen musste. Endlich, eine gefühlte Ewigkeit später, trat ein weiterer Mann, eher ein dürres Männlein in Zivil, vor die Männer und wies sie an, die Waffen sinken zu lassen, weil es sich bei uns um die gesuchten Geiseln handle. Sie behielten uns noch einen Moment lang im Visier, senkten dann die MPs und wir richteten uns vorsichtig auf.

Im Hintergrund auf dem Platz konnte man sehen, dass bereits gewisse 'Aufräumarbeiten' begonnen hatten und dass vereinzelt auch schon Körper von grünen Planen bedeckt waren, darunter auch- „Oh mein Gott, Jens!!”, schrie ich entsetzt und der dürre Mann schaltete schnell, hieß einen der Soldaten, mich fest zu halten. Schon wieder hing ich hilflos in der Gewalt eines anderen, während der Typ im Anzug mich direkt ansprach. „Sind Sie Frau Dr. Kosim?”, fragte er auf deutsch mit deutlichem Akzent. „Ich komme von der deutschen Vertretung in-” „Ja ja”, fauchte ich, „aber jetzt lassen Sie mich zu meinem Mann, er ...” Ich konnte den Satz nicht beenden. Der Botschaftsangestellte wandte

sich um und folgte meinem Blick. Wir beide sahen das, was eigentlich eine deutliche Sprache sprach: Ein lebloser Körper von einer Plane bedeckt, unter der noch ein Rest blondes Haar hervorblitzte. „Ich muss zu ihm!”, rief ich und wollte vorwärts stürmen, doch mit eisernem Griff hielt der Soldat mich fest. „Ich muss ihn sehen!”, wehrte ich mich, stemmte mich dagegen, wollte mich befreien, während er knurrte: „Tut mir leid, das kann ich Ihnen nicht erlauben. Den Anblick sollten Sie sich ersparen.” „Nein!”, schrie ich und kämpfte gegen seinen Griff an. „Das kannst du schon mir überlassen, du-” Aber gegen diesen Typen hatte ich natürlich gar keine Chance und starrte

schluchzend auf den Platz. Von hinten legte mir nun der Botschaftsangehörige die Hand auf die Schulter. „Bitte, hören Sie auf uns, Frau Kosim, das hat keinen Zweck! Glauben Sie mir, bitte, ich kenne das, es ist meist ein furchtbarer Anblick! Das sollte wirklich nicht ihr letztes Bild von ihm sein!” Er redete so eindringlich, dass die Worte tatsächlich bis zu mir vordrangen und mich stoppten. Mein Blick saugte sich an der Gestalt dort am Boden fest, an den dunkelroten Flecken im Sand und plötzlich sah ich nichts mehr, merkte erst jetzt, dass mir die Tränen in Strömen über das Gesicht rannen. „I-ich ...”, krächzte ich und der Mann neben mir tätschelte mir unbeholfen den Rücken und murmelte „Na na

...” Dann reichte er mir etwas, damit ich mir das Gesicht abwischen konnte. Es war ein großes, sauberes, gebügelten Herrentaschentuch, wie auch Jens es immer bei sich getragen hatte … Das war zuviel. Ich hätte nie gedacht, dass sich ein Verlust auch so körperlich äußern könnte, aber in diesem Moment durchzuckte mich ein derart scharfer Schmerz, dass ich einfach lautlos zusammen klappte.

* * * Von den folgenden Tagen und Stunden weiß ich kaum etwas. Ich glaube, ich wurde in ein Krankenhaus gebracht und dort ganz schön unter Drogen, also offiziell Beruhigungsmittel, gesetzt, denn ich habe daran nur noch sehr verschwommene Erinnerungen.

Ob ich geträumt habe? Vielleicht, doch ich kann mich nicht daran erinnern, nur an den letzten Traum, da wachte ich anscheinend langsam aus meinem Delirium auf. In diesem lag ich wie damals, nachdem ich Rollen, wie ich ihn seinerzeit noch nannte, das erste Mal meine Geschichte erzählt hatte, auf seiner Brust. Natürlich, das war ja auch das erste Mal gewesen, dass ich mir meine Gefühle für ihn eingestanden hatte … Daher wohl der Ursprung des Traums. Ich konnte sogar wie damals seine Wimpern sehen, nur dass er anscheinend langsam ebenfalls aufwachte und murmelte „Katy, meine Süße ...” Idiotisch zufrieden schloss ich die Augen. Jens war da, ich konnte ihn praktisch fühlen, mich an

seine Brust kuscheln und ihn sogar riechen! Moment mal, fühlen UND riechen? Und wie hatte er mich gerade genannt? Jens hatte viele Namen für mich, Cat, Kitty oder Catherine, aber Katy nannte mich seit jeher nur einer … Stan! Endlich wachte ich richtig auf, tatsächlich, wir lagen gemeinsam auf dem schmalen Bett. Und wie sein Vater hatte er den Arm über mich gelegt, mit dem er mich nun, als ich weg zuckte, festhielt. „Bitte geh noch nicht”, murmelte er und ich entspannte mich ein wenig – aber nur für einen Moment, denn die Art, wie mir Stan gerade über den Rücken strich … „Stan!”, japste ich und wich von ihm zurück. „Was?!”, rief er erschrocken. Er stützte sich auf seine Ellbogen auf und sah mich fragend

an. In diesem Augenblick sah er seinem Vater erneut so ähnlich, dass ich schon wieder hätte heulen können. „Stan, machst du mich etwa grade an?!?”, fragte ich geradeaus. „Kaum, dass dein Vater fort ist, nutzt du meine Verwirrung und wirfst dich an mich ran?!!” Jetzt weiteten sich seine Augen und er robbte ein Stück von mir weg. „What the-? Ich meine, was redest du da?!” Hastig sprang ich vom Bett auf, doch in dem Moment, als meine Beine den Boden berührten, sackten sie auch schon wieder weg. Hätte Stan mich nicht aufgefangen, wäre ich lang hingeschlagen. Er hockte sich mit mir wieder auf die Matratze und ich landete auf seinem Schoß, von wo ich neben ihn rutschte und erschöpft zusammen

sank. „Alles in Ordnung?”, fragte er, wobei er wieder den Arm um meine Schulter legte - und ich explodierte. „Nein, natürlich ist nichts in Ordnung. Gar nichts ist in Ordnung!!” „Katy, Catherine, ganz ruhig, bitte! Ich wollte dich doch nicht anmachen!” „Ach ja? Und warum liegen wir hier in zusammen in einem Bett in einem Zimmer, das ganz und gar kein Klinikzimmer ist?” „Wir sind in einem Apartment der Zeitung. Ich dachte mir, Klinik ist blöd und … Naja, ein Hotelzimmer wäre zu steril ...” Ich nickte nur stumpf, schaffte es kaum, seine an sich fürsorgliche Geste zu honorieren.

Mein Mann war tot, was nutzte mir da ein kuscheliges Bett?! Nie mehr würde ich eines mit ihm teilen!! Augenblicklich brach ich in Tränen aus und Stan nahm mich in den Arm und tröstete mich, so gut es ging. Dabei sagte er eigentlich nicht viel, hielt mich nur fest, bis meine konvulsivischen Schluchzer langsam verebbten. Dann sagte er „Besser jetzt?” Dazu zuckte ich nur unbestimmt die Achseln. „Also, um es ein für alle mal klar zu machen, das war echt nix vorhin. Aber die Wohnung hat nur dieses eine Bett und ich war auch müde ...” Ungläubig starrte ich ihn an. So hatte sich das

ganz und gar nicht angefühlt! Das schien auch mein Blick zu sagen und plötzlich seufzte Stan laut auf. „Jaaa”, machte er gedehnt, „ich … Ich gebe es ja zu, ich meine, dafür kann ich ja nix und ich weiß, es ist blöd, aber ich kann doch nichts dafür”, wiederholte er sich stammelnd. „Also, das stimmt schon, seit wir uns kennen … äh, ich kann es nicht leugnen, ich hab bestimmte romantische Gefühle für dich entwickelt … Und vorhin, sorry, es war, ähm,” er wand sich verlegen, „ein schönes Gefühl, dich im Arm zu halten und ich war selber noch nicht richtig wach ...” Also doch! Hatte mich mein Gefühl also nicht getrogen. Wollte das Schicksal mich eigentlich verarschen? Oder hielt es mich für so einfach gestrickt, dass ich jetzt einfach zum nächstbesten Ersatz über laufen würde?! Und doch konnte ich seinen Kummer trotz

meiner eigenen Trauer so gut verstehen! Hatte ich mich doch selber jahrelang nach meiner großen Liebe verzerrt, ohne jede Hoffnung. „Oh Stan, es tut mir … so leid, wirklich, weil ich es … sehr gut nachvollziehen kann. Und wer weiß, in einer anderen Welt, in einem anderen Leben …? Aber so … Ich mag dich als Stiefsohn und mehr noch, als Freund! Aber ansonsten, Stan, nein, da ist nichts und ich hoffe, du weißt, dass da nie etwas sein kann?!” Oh Gott, jetzt zitierte ich schon Jens' Lieder! Aber dieses drückte es nun mal am besten aus … „Ich weiß, Cat, das war mir schon immer klar. Du liebst meinen Vater so wie er dich und niemals würdest du dich einem anderen zuwenden. Das habe ich schon lange kapiert. Besser, ich nenn dich wieder Mütterlein, was? Und selbst wenn Dad tot wäre, für was hältst du mich denn, auch dann würde ich dich nie

belästigen!!” „Das ist gut- Moment mal, was hast du grade gesagt?” Mit einem schiefen Grinsen wiederholte er „Dass ich dich wieder Mütterlein nennen- „Nein, das andere, das mit …. deinem Dad ...” „Äh, dass ich dir hoch und heilig verspreche, dich nie anzubaggern, sondern lieber ein Freund für dich-” … ” Aufgeregt schnaufte ich. „Das von wegen 'sogar wenn Jens tot' wäre ...” Mehr wagte ich nicht anzudeuten und Stan sah mich noch immer verständnislos an. „Na ja, auch dann wäre ich nur dein Stiefsohn, das hab ich doch ges-” „Nein!”, schrie ich, fasste ihn am Kragen und schüttelte ihn fast schon verzweifelt, „Was soll

das hießen, 'selbst wenn'? Er ist vor meinen Augen gestorben!” „Katy, for heavens sake, nein, das ist er nicht! Beruhige dich, bitte!” „Er lebt? Jens lebt?!” „Ähm ja, er ist nicht tot”, bestätigte mir Stan, dabei schaute er etwas komisch. „Jetzt kapier ich endlich, was in den letzten Tagen mit dir los war ...” Mir wurde schwindelig. Der Schuss, die Plane, die Haare! „Aber ich hab doch gesehen … Jens wurde getroffen, das weiß ich noch, dann nicht mehr viel, nur, dass er dann da halb zugedeckt lag, all das Blut drum herum ...” Meine Stimme kippte über. Schon allein bei dem Gedanken daran wurde mir wieder schlecht und ich hatte das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen, doch Stan fasste meine

Arme und rüttelte mich. „He, ganz ruhig, das war nicht Dad! Das war einer von den Skandinaviern!” „Sven”, murmelte ich, denn das war der Einzige gewesen, der dem Klischee vom blonden Nordländer entsprochen hatte. Ich schäme mich noch heute dafür, dass die Trauer über den eigentlich netten Mitgefangenen so sehr von der Erleichterung überdeckt wurde, dass es eben nicht Jens gewesen sein sollte, der unter diesem grauenvollen Tuch lag. So richtig konnte ich es immer noch nicht begreifen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. „Also dann … Dann ist Jens nicht erschossen worden? Er ist nicht tot, er ist am Leben?! Geht es ihm gut? Liegt er im Krankenhaus?”,

bombardierte ich meinen Stiefsohn mit Fragen, doch der druckste plötzlich rum. „Langsam, langsam”, setzte er an. „He, irgendwas verschweigst du mir doch, was ist los?” „Ich verschweige dir nichts, du lässt mich nur nicht ausreden! Also, was du gesehen hast, war ein glatter Durchschuss durch seine linke Schulter, aber wie gesagt, nichts tödliches-” Ich kam nicht umhin, ihn schon wieder zu unterbrechen, vielleicht auch mein üblicher Trotz?!? „Also geht es ihm gut?” Jetzt redete er einfach unbeirrt weiter. „-was an ein Wunder grenzt, also, dass Dad nicht unter den Toten war, denn diese … 'Befreiungsaktion' ”, er spuckte das Wort förmlich aus, „hat verdammt viele Opfer gefordert, sogar unter denen, die sich eigentlich ergeben wollten, auch Frauen und Kinder ...” Hier musste er heftig schlucken und mir wurde bewusst, was er da

eigentlich gesagt hatte. „Oh Gott, Stan, das ist ja ...” Verdammt, vorher hatte mir noch 'wunderbar!' auf der Zunge gelegen, aber seine Worte schnürten mir die Kehle zu. „Wie furchtbar! Auch die Kinder, sagst du?” Stan nickte betrübt und es schüttelte mich. Wir hatten die Dorfkinder manchmal durchs Fenster beim Spielen gesehen; unschuldige Opfer in einem bescheuerten Kampf. Und die waren ebenfalls erschossen worden?! Aber zum Teil hatten wir es ja am eigenen Leib erfahren. Die Angreifer hatten auf alles geballert, was sich bewegte und offenbar wirklich keinen Unterschied zwischen Freund und Feind gemacht, sogar uns hilflose Geiseln hatten sie massiv bedroht. Von daher hatte ich keine Ahnung, wessen Kugel Jens eigentlich getroffen hatte.

Dann fiel mir etwas ein. „Wie geht es eigentlich Abuelita? Also der alten Frau, die bei uns war?” „Soweit ich weiß, gut. Um dich haben wir uns ziemliche Sorgen gemacht. Du hattest zwar einige Kratzer von einem Schrapnellgeschoss, das vor euch explodiert war, aber das erklärte nicht deinen Zustand. Du hattest Fieber und hast geschrien, nein, getobt, und sie mussten dich unter Sedativa stellen ...” „Kein Wunder, ich war ja auch felsenfest davon überzeugt, dass Jens tot ist! Und dieser Typ von der Botschaft hat mir auch nicht widersprochen, hat mich quasi noch darin bestärkt, statt mich lieber doch noch einen Blick unter die Plane werfen zu lassen.” Stan seufzte und fuhr sich durchs Haar. „Na ja, es war insgesamt ein ziemliches Chaos nach

dieser missglückten Befreiungsaktion und die Leute wurden in alle Himmelsrichtungen abtransportiert. Man nannte mir das Krankenhaus, in das sie Dad bringen wollten und ich konnte ihn noch kurz sprechen-” „Boah, Stanley, du machst mich wahnsinnig!”, schnauzte ich den jungen Mann an, begriff erst jetzt die Bedeutung all seiner Worte so richtig. „Du warst ... dort?!”Dafür, dass er Journalist war, rückte er echt quälend langsam mit seinen Informationen raus! Oder ich war im Moment schwer von Begriff. „Und … Du hast ihn – gesprochen?!” Zum Glück nahm er mir mein Aufbrausen nicht übel. „Sicher, was meinst du, wer dafür gesorgt hat, dass du nicht in irgend einem Provinzkrankenhaus landest?! Ich hab mich mit einer Akkreditierung der Zeitung an den Tross gehängt, der natürlich erst rein durfte, als … als es vorbei

war.” Sein Gesicht verzog sich und ich merkte, auch er versuchte das Grauen zu verarbeiten, welches er dort gesehen hatte. „Oh mein Gott, Katy, was waren das für Idioten? Wie konnte das alles nur so schief gehen – oder sollte es das?! Dabei”, er würgte fast, „hatten sie den Tipp sogar von mir. Dein Handy ...” Ich begriff. Das Handy, das ich auf Geheiß Pedrosos im Autositz versteckt und dann vergessen hatte, es hatte anscheinend noch lange genug funktioniert, um geortet werden zu können. Nur dass Stan sicher auch nicht damit gerechnet hatte, dass die Regierung den Einsatz zu solch einem Gemetzel ausarten lassen würde … Mein Stiefsohn, den ich wie einen echten Sohn

liebte, barg nun das Gesicht in seinen Händen und ich umarmte ihn tröstend. „Es ist nicht deine Schuld”, flüsterte ich ihm zu, „du hast das Richtige getan, die hätten uns sicher nicht gehen lassen. Wer falsch gehandelt hat, war die Regierung, der Präsident, das Militär oder einfach alle zusammen ...” Nun entspannte er sich etwas, stöhnte aber noch einmal auf. „Ich weiß das ja, irgendwie. Es ging ja auch um euch! Aber trotzdem, ich fürchte, dieses Schuldgefühl … wird mir immer erhalten bleiben ...” „Ich weiß”, sagte ich schlicht und wiegte ihn noch eine Weile. „Und ich wünsche dir so sehr, dass es schon fast weh tut, dass du irgendwann tatsächlich deine 'Katy' finden wirst. Die dir helfen wird, über alles hinweg zu kommen. Nur ich, ich kann es nicht sein, verstehst du?!” Stan senkte den Blick und seufzte leise. Dann sah er mich mit einem schiefen Lächeln an.

„Eigentlich ist es kein Wunder, oder? Dass ich mich zu dir hingezogen fühle, da bin ich wohl ganz wie mein Vater. Wir fühlen uns einfach zur tollsten Frau der Welt hingezogen … Aber keine Sorge, ich komme klar.” „Gut. Magst du mir jetzt erzählen, was es nun mit deinem Vater auf sich hat?” Da grinste er kurz das Kosimsche Lausbubenlachen, wurde aber dann ernst. „Dad wurde auf eine Trage gelegt und man fragte mich, ob ich bei ihm mitfahren wolle, bevor sie ihn in den Wagen schoben, aber er hat nach meiner Hand gegriffen und mir aufgetragen – nein”, schmunzelte er, „eigentlich hat er mir befohlen, bei dir zu bleiben und mich um dich zu kümmern, egal, was mit ihm passieren würde!” Bei diesen Worten lief mir ein Schauer über den Rücken und eine ungute Vorahnung beschlich

mich. „Tja”, erzählte Stan weiter, „ich bin dann in den letzten Tagen zwischen euren Krankenhäusern hin und her gependelt, bis mir deines grünes Licht gab, dich raus zu holen. Eben weil du körperlich eigentlich ok warst und man dachte, eine weniger klinische Umgebung wäre vielleicht heilsamer für, wie sagten sie, äh, 'deinen Kopf' ... Mit Trauma-Betreuung haben die es hier nicht so. Oh Katy, du Ärmste”, japste er plötzlich erschrocken, „wenn ich überlege, was du in den letzten Tagen wirklich durchgemacht haben musst!” Müde zuckte ich die Achseln, fühlte neben der Erleichterung gleichzeitig eine große Anspannung. Stans Andeutungen über Jens machten mich nervös. „Dad schien sehr erleichtert, dass du entlassen

warst, wie gesagt, wir hatten ja keine Ahnung … Er selber musste noch drin bleiben, die Schusswunde, auch wenn zum Glück Lunge und andere wichtige Teile unversehrt geblieben sind, bedurfte doch noch der Behandlung. Und dann ...” Jetzt stockte er wieder. Ratlos sah ich ihn an. Dieses Mal wusste ich, dass er etwas verschwieg. Unter meinem bohrenden Blick seufzte er und zog einen Zettel aus seiner hinteren Hosentasche. „I-ich weiß einfach nicht, wie ich es dir schonend beibringen soll”, gab er zu. „Deswegen … Hier; als ich zuletzt nach ihm sehen wollte, sagte man mir, er habe sich selbst entlassen. Aber bei mir oder woanders hat er sich nicht gemeldet. Und er … hat diese Botschaft hinterlassen. Es tut mir leid”,

murmelte er noch und reichte mir den Zettel. Mit zitternder Hand nahm ich das Teil, es war ein winziger abgerissener Abschnitt eines – seines? - Krankenblatts. Dort stand: - - Es tut mir leid, ich muss hier weg. Ich bin zu alt für diese Scheiße, aber trotzdem ... Das ist etwas, was ich einfach tun muss. Sag Cat, dass ich sie liebe, sie wird es verstehen. Jens - -

11. Kapitel

Ich senkte den Zettel, Stan räusperte sich und sah mich mitleidig an. „Katy, es tut mir so leid”, setzte er an und ich schaute hoch in seine Richtung. „Ich weiß nicht genau, was ich dazu sagen soll, außer, dass ich mir kaum vorstellen kann, wie du … na ja, dabei empfindest …” „Hm? Ach das meinst du”, ich wedelte mit dem Abriss, „also, klar, das ist ein bisschen verrückt, aber nun mal mal keine Katastrophe draus! ” Halb verzweifelt verdrehte er die Augen. „Ach Katy, bitte, ich weiß, das muss schlimm für dich sein, aber, warum auch immer … ich denke, du musst es akzeptieren: Dad, also Jens - Dein Mann hat dich verlassen!” „Was … Wie kommst du denn auf so was?” Ja genau, das wussten doch nur sein Vater und ich,

welche Probleme Jens umtrieben. Prompt druckste Stan ein bisschen rum. „Na ja, das Haus in Berlin … hat ein paar hellhörige Stellen … Von daher weiß ich, dass er sich zu alt für dich findet und hab das so interpretiert, dass er deswegen abhaut.” Geduldig schloss ich die Augen. War es wirklich so offensichtlich? Seine Worte ließen mich nun doch wieder zweifeln. Bis vor einer Sekunde war ich noch überzeugt gewesen, dass Jens - Aber wenn selbst Stanley es so sah … Ein paar Minuten grübelte ich vor mich hin. Seltsam, plötzlich kamen mir Erinnerungen hoch, an den Tag nach dem Besuch bei der Hebamme. Toni und seine Kerle, die Julia indirekt bedrohten und wie ich sie beschützen

wollte … Witzig, da hatte ich ja sogar eine ähnliche Entscheidung wie Jens später getroffen! Und dann hatte mein Versprechen, mich nicht ohne Abschied davon zu stehlen, ihn auf die richtige Spur gebracht. Aber das war genau das, was mich jetzt so zuversichtlich machte. Jens, mein Schatz, mein Ein und Alles, er hatte mir hoch und heilig geschworen, mich nicht zu verlassen! DAS würde er nicht brechen und außerdem glaubte ich auch zu wissen, was los war – manchmal war Jens eben viel verrückter als es den Anschein hatte! Deswegen schüttelte ich energisch den Kopf und murmelte „Nein! Nein, das kann nicht stimmen. Das kann einfach nicht stimmen! Er hat es mir versprochen, so etwas NICHT zu machen

...” Der junge Mann vor mir sah mich mit diesem 'die-Ärmste-sie-will-es-nicht-wahrhaben'-Blick an und ich fragte „Stan, weißt du eigentlich, wie dein Vater und ich uns kennen gelernt haben? Also so richtig?!” Da zuckte er die Achseln, inzwischen wahrscheinlich genervt von meiner Weigerung, das so Offensichtliche zu akzeptieren. „Also so ganz nicht. Du warst ja auf einmal da, als ich mal wieder bei Dad vorbeigeschaut hab … Und er hat mal angedeutet, dass ihr euch schon viel länger kennt, obwohl er dich nie erwähnt hatte bis dahin!” „Natürlich nicht”, murmelte ich leise. „Warum 'natürlich nicht'? Immer diese Geheimniskrämerei”, erwiderte Stan jetzt so ärgerlich, dass ich schon fast lachen

musste. „Das ist eine … komplizierte Geschichte. Viel Zeit haben wir nicht, aber-” Dann erzählte ich in ganz groben Zügen unsere Geschichte. Stan saß mir gegenüber und seine Augen wurden immer größer. „Nun, das ist auch der Grund, warum Niels bei uns lebt, obwohl er nichts von … der Sache an sich weiß”, schloss ich meine Erzählung und Stan stöhnte. „Ich hatte ja keine Ahnung ...” „Tut mir leid, das ist halt nichts, was man jemandem gleich beim ersten Treffen auf die Nase bindet. Und später war ich froh, dass alles im Grau der Vergangenheit versinkt. ABER es ist der Grund, warum ich mir jetzt so gar keine Sorgen mache, Jens könnte mich verlassen haben. Eher mache ich mir Sorgen, er

könnte-” Wir schraken heftig zusammen, als in diesem Moment Stans Handy schepperte. Er sah aufs Display und stöhnte. „Das ist jetzt ein bisschen wie bei Beetlejuice, oder? Es ist nämlich Niels”, erklärte er dann und drückte auf die Lautsprechertaste, als er ranging. „Donen?!” „Hey, ich bins, du alte Krücke! Jetzt wirst du mir sicher wieder sagen, dass meine Schwester nicht ansprechbar ist und Jens im Krankenhaus nicht telefonieren darf, was?! Aber das hat jetzt ein Ende, wir sind auf dem Weg zum Flughafen!” Mit schiefer Miene murmelte Stan „Moment” und drückte die Stummtaste. „Was soll ich ihm sagen?” „Gib mal her. – Hi Bruderherz!” „Kitty, du?! Bist du wach? Wie geht es dir?

Stanley hat immer behauptet, du wärst nicht ansprechbar”, rief der ins Telefon. Es war deutlich zu spüren, dass Niels dieser Aussage misstraute und nun eine Bestätigung wollte. „Ja, Schatz, ich bin wach, aber ich hab wirklich ein paar Tage flach gelegen. Mich hat wohl eine Art Fieber wegen den Kratzern und den Ereignissen an sich gepackt gehabt.” „Hm, na gut … Es war halt, also es hat sich angefühlt wie damals, als du … so lange verschwunden warst … Und ich so gar nicht Bescheid wusste und niemand etwas verraten hat. Ich wollte dich nicht nochmal-” Er brach ab und schniefte kurz, mein Herz zog sich zusammen. Das war wohl doch ein Trauma, welches mein Brüderchen aus seiner Kindheit mitgenommen hatte. „Egal”, fuhr er fort, „sollen wir kommen?” „Wer ist

'wir'?” „Julia, Vince, Jerôme und ich halt.” Du liebe Zeit, die ganze Bande! Nein, das Geld konnten sie sich sparen, ich wollte lieber so schnell wie möglich wieder zu ihnen nach Hause, als hier unnötig lange zu verweilen. „Nein, mein Lieber, bitte bleibt in Berlin. Macht euch keine Sorgen, wir werden so bald wie möglich zurück kommen!” Hier keuchte Stan neben mir unterdrückt, ach ja, den musste ich ja auch noch aufklären. Am anderen Ende der Leitung grummelte Niels „Hm, na gut, muss aber auch wahr sein! Ihr und vor allem Jens solltet jetzt wirklich langsam nach Hause kommen, das Internet steht schon Kopf, weil der Webmaster aus lauter Verzweiflung Rollens bescheuerten Countdown runter und hoch und wieder runter laufen lässt ...” Ich grinste in mich hinein, die armen Fans, wenn

die wüssten … „Na, das Rätsel wird sich ja bald lösen und er kann die neue Platte und die Tour rein stellen. Kehrt um und putzt unsere Wohnung, wir sind bald wieder daheim.” „Versprochen?” „Seemannsehrenwort! Hasta luego!” Erleichtert drückte ich die rote Taste, begegnete dann Stans entgeistertem Blick. „Katy, wie kannst du denn sowas versprechen?!?” „Weil ich es kann. Stan, findest du noch mal dorthin? Zum Lager?!” „Was!? Was willst du denn da?” Ich überhörte seinen Einwand und fragte noch einmal. „Findest du dorthin, ja oder nein?” Leicht verzog er den Mundwinkel. „Ja, doch, ich hab extra gut aufgepasst, aber wieso um alles in der Welt? Ist das

Traumabewältigung??” „Eher Idiotenbergung”, grummelte ich. „Pass auf ...”, begann ich dann und erklärte es ihm endlich. Immer noch ungläubig starrte er mich an. „Nee, oder? Ist das dein Ernst?!” „Yepp, das ist er”, nickte ich und hoffte, genügend Zuversicht in meine Stimme legen zu können. „Also ich weiß nicht ...” Langsam wurde ich ungeduldig. „Jetzt komm, was hast du zu verlieren?! Besser, als hier im Kabuff rum zu sitzen, ist es allemal, oder?” Resigniert zuckte er die Achseln. „Auch wieder wahr. Dazu muss ich aber erst mal ein Auto organisieren ...” „Tu das”, kommandierte ich voll neu erwecktem Tatendrang, „ich mach mich solange frisch. Ich hoffe, die Bude hat eine

Dusche?” Hatte sie und so verließen wir, nachdem wir noch rasch einen Ajiaco Santafereno, den typischen einheimischen Eintopf verschlungen hatten, am späten Vormittag Bogota und brausten übers Land. Alles, was Stan bekommen hatte, war ein offener Jeep, eigentlich für touristische Fahrten gedacht. Mit dem fuhren wir nun über die Landstraße Richtung Dschungel und unter normalen Umständen hätte man die Fahrt richtig genießen können. Wir schwiegen eine Weile, bis Stan dieses Schweigen plötzlich unvermittelt brach. „Und du sagst, Niels hat keine Ahnung? Also, ich meine, von eurer Story, von diesem Toni ...”, deutete er mein Martyrium an und ich

schüttelte den Kopf. „Nein, er weiß nur, dass ich so etwa ein Jahr auf Reisen war und irgendwie keine Gelegenheit hatte, ihn zu kontaktieren.” „Und das hat er geglaubt?”, rutschte Stan heraus, worauf ich meinen Bruder instinktiv verteidigte „Er war ja noch klein damals!” „Na, aber trotzdem ...”, nuschelte mein Stiefsohn und ich zuckte die Achseln. „Wahrscheinlich will er es auch gar nicht so genau wissen. Ich glaube, er ahnt, dass etwas Fieses dahinter steckt, aber er hat mir damals wie heute sein Vertrauen geschenkt. Er ist auf jeden Fall froh, bei uns statt bei u- seiner Mutter zu wohnen.” Ich hatte in meinem Bericht nur kurz angedeutet, was die Rolle meiner Mutter anging, aber als guter Journalist konnte Stanley eins und eins zusammen zählen. „Was denkt ER eigentlich, warum das so ist?”,

fragte er prompt. „Hm, hauptsächlich wegen seiner musikalischen Ausbildung bei Vince. Er hat keine Ahnung, dass sie ihn nur gegen Geld hat gehen lassen.” „Hat sie? Eure Mutter hat also sowohl dich als auch ihn quasi verkauft?” Stan schaute erschrocken und ich nickte. „Ja, sie ist ein Monster.” Wow, so direkt hatte ich das noch nie gesagt und es tat furchtbar gut. Deswegen schrie ich es noch einmal laut in den Fahrtwind „Meine Mutter ist ein Monster!!!” Stan schmunzelte, wurde dann plötzlich nachdenklich. „Dann ist Niels ohne Vater, mit einer lieblosen Mutter und einem Zuhälter als Stiefvater aufgewachsen und hatte lange Zeit das Gefühl, dass auch seine große Schwester ihn verlassen hat?” Schuldgefühle durchschauerten mich. Auch wenn ich an meiner Gefangenschaft nicht schuld

war, die Zeit danach auf der Straße war meine Idee gewesen. „Hm, ja, so ungefähr.” „Oh Mann, ich hatte ja keine Ahnung!”, stöhnte Stan da. Es war wohl im Moment die Zeit der Geständnisse, denn plötzlich sprudelte es aus ihm heraus: „Weißt du, auch für mich war das alles so überraschend. Zuerst warst auf einmal du da, eine hübsche dynamische Frau, noch dazu aus meiner Generation - sorry – also, du warst so von null auf gleich in Dads Leben, aber man sah sofort welche unheimlich tiefe Verbundenheit ihr euch teiltet. Na gut, damit konnte ich noch leben, eine Freundin ist ja was anderes als eine Vater-Sohn-Beziehung. Aber plötzlich war da … dieser Junge, der dann auch noch bei euch wohnte und ebenfalls furchtbar vertraut mit Dad tat. Mit meinem Vater! Upps.” Letzteres galt einem fetten Schlagloch auf der immer schlechter werdenden Straße, durch

welches wir gerade rumpelten und das uns arg die Bandscheiben stauchte. „'Tschuldigung. Ähm, wo war ich ...” „Niels und dein Vater”, sagte ich knapp. „Dazu muss ich sagen, ich meine, ich kann Dad keinen Vorwurf machen. Mum und ich lebten nun mal in London und er in Deutschland, er musste arbeiten, auf Tour gehen … Angesichts dieser Umstände hat er sich wirklich gut um mich gekümmert, das sagt auch Mum immer.” Ich lächelte stumm. Linda, seine Mutter, war eine inzwischen mollige Mitfünfzigerin, der man die wilden Jahre der Jugend so gar nicht mehr ansah. Wir hatten uns ein- oder zweimal bisher getroffen und ich fand, sie war eine Seele von Mensch. Vielleicht ein bisschen langweilig, aber das war gut so, denn so konnte zumindest bei mir keinerlei rückwirkende Eifersucht auf die frühere Affäre meines Mannes aufkommen.

Neben mir fuhr die Frucht dieser kurzen Beziehung fort „Trotzdem, es war nicht immer schön, so ohne den Vater im Haus aufzuwachsen. Und dann ist da plötzlich so ein junger Kerl, der sogar bei ihm wohnt! Der unheimlich viel Zeit mit ihm verbringen darf und sich sehr gut mit ihm versteht. Mit meinem Vater!” Unwillig schüttelte er den Kopf. „Ja, ich muss gestehen, ich bin von Anfang an rasend eifersüchtig gewesen. Auf Niels und irgendwie auch auf dich, anfangs!” „Oh”, machte ich. Ersteres hatte ich ja schon immer vermutet, aber letzteres … „Du … Du warst auch auf mich eifersüchtig?”, nuschelte ich fragend. „Du hast doch grad gesagt, dass das was anderes ist als eine Vater-Kind-Beziehung

...” „Klar, schon, aber ich war einfach auf jeden neidisch, der ein enges Verhältnis zu Jens hatte. Dass ich, hrrmpf, mich dann auch noch in dich verguckt habe, nach einiger Zeit, hat es nicht leichter gemacht. Tut mir leid, wenn ich da oft unausstehlich war und mich mit Niels gezofft habe.” „Jo, das ist mir oft tierisch auf die Nerven gegangen. Vor allem, weil ihr vor Jens selber dann immer ein Herz und eine Seele wart!” Jetzt guckte er überrascht. „Waren wir das?” „Oh ja”, stöhnte ich, „er hat mich deswegen schon für paranoid erklärt. Ich glaube, in diesen Momenten wart ihr euch in eurer Buhlerei um seine' Aufmerksamkeit einfach so einig, dass ihr keinen schlechten Eindruck durch eure Streiterei machen wolltet!” Stan bog nun von der miesen Hauptstraße auf

den noch schlechteren kleinen Weg ab, mehr ein Trampelpfad Richtung Dschungel, wie mir erst heute so richtig auffiel. „Buhlerei, interessant”, brummte er. „So hab ich das immer aufgefasst. Ich glaube, Niels ist seinerseits eifersüchtig auf dich, weil du einen Vater hast und das eben auch ein besonderes Verhältnis ist. Sieh mal, er hat ja im Grunde seinen Vater kaum gekannt und Jens kam für ihn neben Vince dem am nächsten ...” „Ja, das habe ich jetzt auch verstanden. Aber Catherine, ehrlich … Meinst du dann nicht auch, dass er nun mal allmählich Anspruch auf die ganze Geschichte hätte? Auf die Wahrheit?” „Auch, wenn er sich eigentlich nie die Mühe gemacht hat, sie selber heraus zu finden?”, fragte ich zweifelnd und mit seiner Antwort bewies Stan wieder einmal, von wem er abstammte. „Gerade deshalb. Das zeigt doch nur, wie sehr er

dir vertraut und dass er das nicht kaputt machen will. Also wage es und vertrau darauf, dass er mit der echten Geschichte klar kommt.” „Hm, vielleicht hast du recht”, brummte ich und starrte nachdenklich auf den Weg vor uns, der noch rumpeliger war als bei meiner ersten Fahrt hierher – kein Wunder bei all den tiefen Furchen, welche die Panzerfuhrwerke vor kurzem hier im Lehm hinterlassen hatten. Ich schauderte und dachte, wie viel würde ich Niels dann erzählen sollen? Von Judith hatte ich nämlich vorhin auch Stan gegenüber nichts erwähnt … aber das waren Sorgen, die ich mir erst später machen würde! Denn auf einmal riss es mich von meinem Sitz, ich ließ den Gurt aufspringen und richtete mich auf, hielt mich am Überrollbügel fest und spähte in die

Ferne. Dort, weit vor uns auf der Straße kam uns eine Gestalt entgegen, hochgewachsen in heller Kleidung und definitiv blond – es gab keinen Zweifel für mich, wer das war! Und, ich gebe es zu, ich war unheimlich froh, dass ich richtig gelegen hatte!! „Gib Stoff, Junge”, jubelte ich, „da vorne ist dein Vater!” Stan trat tatsächlich abrupt so stark aufs Gaspedal, dass der Jeep einen gewaltigen Satz nach vorne machte und es mich heftig wieder nach hinten in meinen Sitz haute, aber ich merkte das fast gar nicht, lachte nur und fieberte dem Moment entgegen, in dem die Gestalt endlich in Rufreichweite kam. Stan erledigte das, indem er noch vorher auf die Hupe drückte, worauf die Gestalt die Hand hob

und winkte. Oh ja, dieses Lachen, das er dabei zeigte, war einfach unverkennbar und ich sprang aus dem Wagen, noch bevor der richtig stand, flog förmlich in seine Arme. Jens rief fröhlich „Ich wusste, du würdest es checken!”und fing mich auf, drehte mich einmal im Kreis, wobei meine Beine wild herum schlenkerten bis ich es schaffte, sie um seine Taille zu schlingen. Mit beiden Händen umrahmte ich sein Gesicht und versuchte, jede Kleinigkeit darin aufzunehmen. Und dann … konnte ich einfach nicht verhindern, dass mir in Erinnerung an die vergangenen Tage die Tränen kamen. „Du lebst”, hauchte ich und schlang mit einem Schluchzer die Arme so eng um seinen Hals, dass ich ihn beinahe erwürgte.

Überrascht murmelte Jens leise an meinem Ohr „Kleines, was ist? Was hast du gesagt?! Bist du mir böse, weil ich-” „Nein”, krächzte ich, schniefte einmal kräftig, um Herrin über meine Stimme zu werden, brachte dann aber trotzdem nur abgehackt hervor „es ist nur, ... ich dachte, ... du seist tot ... Weil- der Schuss, die Plane, Sven ...” Ich spürte mehr als ich hörte, wie Jens scharf die Luft einsog, dann keuchte er „Du liebe Zeit, meine arme Kitty, du … ich …. Oh Gott, du Ärmste!” Ganz fest presste er mich an sich, murmelte unzusammenhängende Trostworte, während ich versuchte, mich zu beruhigen. Endlich konnte ich dann wieder durchatmen, es gab ja eigentlich keinen Grund zu weinen; er war hier, in meinen Armen, lebendig und nun mit großem

Schuldbewusstsein im Gesicht. „Himmel, Catherine, ich hatte ja keine Ahnung! Wenn ich das gewusst hätte, wär ich schon viel eher aus der Klinik abgehauen und wäre nicht hierher … Ich weiß, das war verrückt, kannst du mi-” „Halt die Klappe und küss mich endlich!”, unterbrach ich ihn und als braver Ehemann leistete er dem sofort Folge. Hinter uns hörten wir nun ein leises Räuspern. „Ähm Leute, vielleicht sollten wir dazu erst mal ins Hotel fahren ...” Jens sah auf und guckte seinen Sohn über meinen Kopf hinweg an, den Blick konnte ich nicht sehen, hörte nur, wie Stanley plötzlich protestierte „Oh no, schau mich nicht so an, keine Vorwürfe bitte, ich hab auch nicht gewusst, dass sie das

denkt!” Dazu nickte ich kräftig. „Stimmt, ich war etwas, ähm, weggetreten die letzten Tage … Aber er hat sich gut um mich gekümmert, wie du es ihm gesagt hast!” „Hm, na dann, danke, mein Junge, auch fürs Abholen.” „Apropos Abholen”, hakte ich da ein und stellte meine Beine zurück auf den Boden. Dann begann ich mit der flachen Hand fest auf Jens' Brust zu schlagen und schimpfte im Rhythmus meiner Schläge „Was – fällt – dir – eigentlich – ein, - nur – wegen -”, jetzt fasste ich ihn am Hemdkragen und schüttelte ihn heftig, „dieser blöden Kamera wieder hierher zurück zu kommen!?!?” „Aua aua”, machte Jens, schnappte meine Hände und fesselte sie mit seinen. „Die Kamera hab ich von dir, hast du das

vergessen?” „Ja, aber-”, empörte ich mich, doch mit treuherzigem Blick setzte er nach „Und die Fotos … irgendwo ganz vorne waren noch welche von uns, noch von vor der Ausstellung! Außerdem, hab ich doch gesagt, ich will sie mit dir teilen. Und ...” Jetzt seufzte ich, befreite eine Hand und strich ihm durchs Haar, vollendete seinen Satz „ ... und du wolltest ihnen diesen Triumph nicht gönnen, ich weiß.” Noch einmal zog er mich näher an sich ran, drückte seine Nase in mein Haar. „Ich wusste, du verstehst das. Du kennst mich so gut!” „Ihr habt doch einen an der Klatsche!”, grummelte Stan im Hintergrund, von dem wohl auch in diesem Moment die Last der letzten Wochen abfiel. Jens und ich sahen uns an und

brachen spontan in Lachen aus, dann packte mich Jens und schaufelte mich trotz meines Protests auf seine linke Schulter, den rechten Arm legte er um seinen Sohn. „Na, Mr. Vernünftig, dann bring uns mal nach Hause. Die Kleene muss ins Bett!” Dazu zappelte ich ein bisschen, weil das wahrscheinlich erwartet wurde und grollte „He, ich kann dich hören!”, aber die Art, wie seine Hand dabei auf meinem Po lag sagte mir, dass noch nicht Schlafenszeit war … Und eigentlich hätte mein Mann mich stundenlang so tragen können. Im Jeep gab es keine wirklich gescheite Rückbank, aber für mich reichte sie, ich quetschte mich drauf und ummantelte Jens auf dem Beifahrersitz wie ein zweiter Sicherheitsgurt; es was schön zu fühlen, wie er seinerseits meine Arme fest im Griff hielt und

immer wieder mit dem Daumen über meine Haut fuhr. Die holprige Strecke war schnell geschafft und zurück auf der Landstraße ergriff Stan das Wort. „Ehrlich gesagt, konnte ich es kaum glauben, als Katy mir sagte, was es mit deiner Nachricht auf sich hat, Dad. Dass du dich auf den Weg ins Lager gemacht hast, um deine Ausrüstung zu bergen!” „Na, sie hat es vorhin ganz richtig zusammen gefasst: Es ging mir weniger um den materiellen Wert, schon eher um die bereits darauf befindlichen Bilder. Aber am meisten darum, dass ich mich von … so einem Scheiß nicht unterkriegen lassen will! Sie wollten mich brechen, aber ich lache ihnen ins Gesicht: Mit mir nicht!” „Wird das ein neuer Liedtext?”, warf ich von

hinten ein und er drehte sich um. Unter seinem Blick erschauerte ich und er sagte „Nein, eher mein neues Lebensmotto!” Dann zwinkerte er mir zu und wandte sich wieder seinem Sohn zu, erzählte, wie er im Lagerhaus auf der Suche und tatsächlich fündig geworden war. Währenddessen konnte ich es nicht lassen, zu grübeln. Was hatte er gerade damit sagen wollen?

12. Kapitel

Die Rückfahrt kam mir total kurz vor, ich war überrascht, als Stan plötzlich vor einem Hotel stoppte und sagte „Das ist besser als die kleine Bude, schätze ich mal. Das Bett ist doch arg schmal dort, nicht wahr, Katy?!” Dabei zwinkerte er mir so anzüglich zu, dass ich irritiert zurück zuckte – und auch Jens seine Augenbrauen nach oben schnellen ließ. „Spaßvogel”, zischte ich und er lachte. „Ich guck mal, ob sie was frei haben”, meinte er dann und hüpfte aus dem Jeep. Jens drehte sich um. „Was war das denn?”, fragte er dann tatsächlich und ich hätte meinen Stiefsohn in diesem Moment erwürgen können. Was sollte man darauf sagen? In so einer Situation hat man das Gefühl, jede Antwort würde wie eine Ausrede klingen, egal, wie unschuldig man

ist! „Er spielt darauf an, dass er sich zu fein dafür war, auf dem Sofa in dem kleinen Redaktionsappartment zu pennen und sich deswegen neben mich aufs Bett gequetscht hat”, grollte ich. Das kam der Wahrheit am nächsten und schützte Stans 'Geheimnis' noch eine Weile. DAS war etwas, was er, wenn überhaupt, seinem Vater selber beichten sollte. „Ach so”, machte mein Mann, „ich dachte schon, du seist raus gefallen.” „Tja”, hakte ich nervös nach, „so wie die mich vollgepumpt haben, war das auch im Bereich der Wahrscheinlichkeit … Aber jetzt bin ich wieder fit, siehst du?” Zum Beweis kletterte ich hinten aus dem Jeep und wollte auf den Boden springen – und blieb natürlich prompt mit dem Fuß hängen. Nur der Überrollbügel, an dem ich mich festklammerte,

verhinderte, dass ich mich brutal auf die Fresse legte, statt dessen schwang ich im Halbkreis und klatschte platt gegen die Beifahrertür. In diesem Moment wollte sich Jens schier kaputt lachen! Irritiert sah ich ihn an, weniger, weil er mich auslachte, sondern mehr, weil er eben lachte – und nicht sofort besorgt rumgluckte! Aber eigentlich fand ich das ganz gut so, fiel in das Lachen mit ein, sammelte meine Knochen und hüpfte auf den Boden, während auch Jens ausstieg. Eine Minute später kam Stan zurück und wirbelte einen Schlüssel um seinen Finger. „Ich hab euch ein schönes Zimmer gemietet”, flötete er überflüssigerweise und warf das Ding in unsere Richtung. Jens fing es auf. „Danke, mein Junge. Aber kennst du hier in der Nähe auch ein Restaurant?”, fragte er dann unvermittelt. „Ich

hab einen Bärenhunger!” „Wirklich?”, machte Stan und zog die Stirn übertrieben kraus. „Ich hätte eigentlich gedacht, ihr wolltet lieber gleich das Zimmer begutachten! Na gut, hier entlang ...” Das reichte mir jetzt mit den Anzüglichkeiten! „Jens, kannst du dir eigentlich vorstellen, dein lieber Sohn hat doch echt nach deinem Zettel geglaubt, du wolltest mich verlassen!”, säuselte ich mit dem liebsten Lächeln der Welt. Auf Stans entsetzten Seitenblick hin streckte ich ihm einfach die Zunge raus. Jens dagegen machte ein Geräusch. „Hrrmpf, ja, ich glaube, da stand ich selber noch ein bisschen unter Drogen. Jetzt weiß ich wenigstens, wie sich Pfanni früher oft gefühlt haben muss! Im Nachhinein sehe ich ein, dass die Botschaft ein wenig, hm, kryptisch war

...” Dann fiel ihm etwas ein. „Aber – wieso verlassen? Junge?!” Der wand sich ein bisschen und musste nun bekennen, uns zuhause schon mal belauscht zu haben. Sein Blick traf meinen erneut und er nickte mir anerkennend zu. Nun waren wir quitt! Da wir in diesem Augenblick das Lokal erreichten, war Stan eh vorerst gerettet. Beim Essen erzählte Jens ein bisschen über seinen Trip in unser ehemaliges Gefängnis. Er war getrampt, was erstaunlich gut geklappt hatte. Die einfache Bevölkerung hielt hier zusammen, es gab anscheinend auch gute Seiten an diesem Land. Ich hoffte, mich irgendwann mit ihm versöhnen zu können, aber im Moment fieberte ich dem Moment entgegen, in dem unser

Flugzeug abheben würde. Aber da war noch etwas … „Wie … wie sah es dort aus?”, fragte ich leise, nachdem der Kaffee serviert worden war. Jens verstand. „Kaum noch was zu sehen. Alles ziemlich sauber aufgeräumt.” Er schluckte und ich dachte, dass er an jenem Tag sicher auch viele unschöne Dinge gesehen hatte. „Das letzte Stück bin ich gelaufen, der Weg war überdeutlich gut zu erkennen, das habt ihr ja sicher selbst gesehen. Im Dorf selber waren jede Menge Absperrbänder, aber keine einzige Wache. Dabei hatte ich mich schon auf so schöne Diskussionen eingestellt!” Da musste ich kichern, das war so typisch Jens – und auch etwas, was ihn mit der Kunstfigur Rollen D. Rubel tatsächlich verband.

„Ich konnte also einfach ins Lagerhaus rein marschieren und meine Sachen holen, gar kein Problem. Aber ich bzw. meine Füße waren echt froh, als ich euch mit dem Auto kommen sah!” Stan schüttelte tadelnd den Kopf, seufzte dann. „Ich muss mich wohl damit abfinden, dass ich von einem Verrückten abstamme. Der einfach so ins Feuergefecht läuft oder in tiefe Hafenbecken springt!” Jens guckte irritiert und ich zog entschuldigend die Schultern hoch. „Ich kam nicht umhin, ihm nach seinem Lauschangriff unsere Geschichte zu erzählen. So im wesentlichen”, setzte ich noch nach, fing seinen Blick auf und sah es darin glimmen. Wir zahlten, doch als wir wieder aufstanden, merkte ich, dass ich mir den Fuß doch stärker

gezerrt hatte, als ich dachte. Tapfer unterdrückte ich den Schmerz, zum Glück war es nicht weit zurück. Vorm Hotel trennten sich unsere Wege. Stan erklärte sich bereit, unsere über die halbe Stadt verteilten sonstigen Habseligkeiten einzusammeln. „Bist ein guter Junge”, lobte Jens ihn scherzhaft, „darfst dir auch zuhause was Schönes aussuchen!” „Nee lass mal”, meinte Stan da plötzlich ernst, bis ihm dann auf einmal wieder der Schalk durchs Gesicht fuhr, „die Exklusiv-Rechte an der Story reichen mir!” Dann war er in dem schnittigen Jeep auch schon davon gebraust, während Jens noch der Mund offen stand. Da musste ich spontan lachen und foppte ihn. „Tja, der Junge hat die Geschäftstüchtigkeit halt von seinem Vater geerbt, mach was dran!” „Tss”, machte dieser und wandte sich mir dann ganz zu. „Und jetzt, da er weg ist, darf ich dir

da helfen, du Humpelfuß?” „Mist, du hast es gemerkt”, seufzte ich. Plötzlich schaute er furchtbar schuldbewusst. „Sorry, dass ich dich vorhin ein bisschen ausgelacht habe.” „Nein, bitte, das war okay, ich fand es ja selber lustig. Und wenigstens warst du mal nicht so overprotective zu mir, als wäre ich, naja, ein kleines Kind ...” Auf einmal standen wir seltsam befangen da auf dem Bürgersteig irgendwo in Bogota. Bis Jens seufzte und die Augen verdrehte. „Naja”, machte er, „es war aber auch echt zum Schießen, als du plötzlich mit deiner Nase fast an meine geknallt bist ...” Einem plötzlichen Impuls folgend öffnete mein Schatz die Arme, ich warf mich hinein und er umschloss mich fest

darin. „Außerdem tut es mir im Nachhinein leid, dass ich dich … bei dem Angriff … dort allein gelassen habe-” „Nein, bitte! Das sollte es nicht, ich, also, ich habe dich wirklich aus vollster Überzeugung gehen lassen, weil ich wusste, du … du musstest das tun. So, wie du damals in den Hafen gesprungen bist und mich gerettet hast.” „Der Hafen, ja …”, murmelte Jens. „Aaaber”, setzte ich nach und stach mit dem Finger in Jens' Brust, „ich kann nur wiederholen, wie kann man nur so dämlich sein, sich noch einmal freiwillig in Gefahr zu gegeben? Wenn nun noch einer dort gelauert hätte …! Du Idiot!” „Autsch! Okay, ich sag ja, die Drogen ...” „Witzig”, grollte ich. Jetzt, da alles vorbei war, konnte ich ihm ja endlich genüsslich die

Meinung geigen. „Nein, ernsthaft, es tut mir auch leid, dass du deswegen noch mal an mir zweifeln muss-” Ich stöhnte auf. „Hab ich doch gar nicht! Stan war es. ICH wusste gleich, was du wolltest!” „Wirklich?” Ich sah zu ihm hoch. „Wirklich. So bist du nun mal und vielleicht liebe ich dich gerade deswegen? Außerdem hattest du es mir geschworen!” Nun sah ich den Schalk im Gesicht meines blonden Engels. Der lächelte nun und ich musste ihn einfach küssen. „Ja, das habe ich”, schmunzelte er. „Weil ich es endlich eingesehen habe. Du weißt, ich hatte die letzten Wochen reichlich Zeit zum Nachdenken. Ich hatte mich ja selber über mich im letzten Jahr gewundert. Und da ist mir klar geworden, was dahinter steckt! Nämlich dass ich ... nun ja, mit der Entwicklung, die du in den letzten

Jahren gemacht hattest, nicht ganz klar gekommen bin.” Er wurde jetzt etwas ernster. „Cat, versteh mich richtig; ich war und bin wahnsinnig stolz auf dich! Darauf, wie du dein Leben auf der Straße gemeistert hast, wie du überhaupt am Leben geblieben bist ...“ Seine Hand krallte sich plötzlich in meinen Rücken, er schien es nicht zu merken. „Wie du dich ins normale Leben zurück gekämpft hast und zu so einer unglaublich patenten, schönen und klugen Frau geworden bist ...“ Fast wurde ich rot unter seinem Lob, aber ich wusste, da kam noch was. „Catherine“, fuhr er fort und mehr denn je erschauerte ich dabei, „wirklich, zwischen der kleinen kratzbürstigen Streunerin, die damals von Anfang an meine Zuneigung und später mein

Herz erobert hat, und der kompetenten, allseits beliebten Zootierärztin liegen im Grunde Welten.“ „Mag sein“, krächzte ich, „aber ich hab das doch auch dir zu verdanken. Du hast mir die Starthilfe gegeben, die ich brauchte!“ „Ja, doch überleg mal, ich hab die Veränderung lange nicht begleiten können. Ganz am Anfang warst du ... warst du wie ein verletzter kleiner Igel, stachelig und widerborstig, aber doch hilfsbedürftig, was weder du noch der Igel eingesehen hätten.“ Wir grinsten uns einen Moment lang an und ich fühlte das altbekannte warme Gefühl in meinem Bauch. „Hm, der Vergleich ist vielleicht gar nicht so schlecht“, brummte Jens, dem es vielleicht genau so ging, „im übertragenen Sinne hab ich dich dann auch in die Freiheit entlassen.“ „Born free, free as the wind blows ...“, summte

ich leise und bekam einen Klaps. „Lass das, bei dem Lied wird mir immer ganz komisch!“ „Mir auch!“, staunte ich. „'Tschuldige, bitte erzähl weiter!“ „Und dann treffe ich eine taffe junge Frau wieder, die mit beiden Beinen im Leben steht und eigentlich prima ohne mich klar gekommen ist.“ Ich klappte den Mund auf, doch Jens legte den Finger auf meinen Mund. „Cat, dass du mir trotz allem, was bis dahin passiert war, deine Liebe geschenkt hast, war das Größte, was mir je im Leben passiert ist! Das war mir schon immer klar gewesen.“ Jetzt legte ich die Hände gegen seine Brust und legte meine Stirn dazwischen. Vielleicht, sogar ziemlich wahrscheinlich erregten wir zwei Weißbrote hier inzwischen eine gewisse Aufmerksamkeit, aber das war mir egal.

„Ach Jens, es mag so ausgesehen haben, als sei ich normal klar gekommen, aber, und das ist auch mir erst jetzt so richtig bewusst geworden, ich war die ganze Zeit über nur irgendwie ein halber Mensch. Ich hab gut funktioniert und ich hatte auf jeden Fall auch Spaß am Leben, ganz klar. Aber es hat etwas gefehlt, ein Teil meiner Seele war unvollständig ... Das ist wie mit einem Gericht, das einem gut schmeckt, doch kommt ein bestimmtes Gewürz dazu, merkt man erst, wie fad es vorher war, dass es erst jetzt perfekt ist! Ja, der Vergleich hinkt sicher, aber verstehst du, was ich meine?“ Jens wiegte den Kopf unsicher hin und her und ich konnte ihn gut verstehen. „Meine Entwicklung, verstehst du, die war damals noch gar nicht abgeschlossen! Erst,

nachdem wir endgültig zusammen gekommen sind, war ich endlich ein ganzer Mensch. Du hast mich komplettiert! Und erst dann konnte ich den Platz im Leben einnehmen, der mir vorbestimmt war.“ Mit dem Handrücken strich Jens über meine Wange. „Meine Cat“, murmelte er dabei, „das darfst du nicht sagen, du darfst dich nicht so abhängig von mir machen. Du bist viel stärker.“ Empört richtete ich mich auf. „Dass ich das bin, hab ich ja wohl in den letzten Monaten bewiesen. Aber Jens, Zusammengehörigkeitsgefühl mit seinem Seelenpartner ist doch eine Stärke, keine Schwäche!! DU bist mein Leben und selbst, wenn wir mal ab und zu entgegengesetzt ticken, gehören wir zusammen. Punkt.“ Zu meiner Erleichterung nickte er da. „Ja, das weiß ich jetzt auch. Deswegen hab ich dir schon

im Lager versprochen, nichts in der Richtung zu machen. Nein, dafür … Dafür liebe ich dich viel zu sehr. Du hast gesagt, ich sei ein Egoist, überhaupt daran zu denken, dich frei zu lassen. In Wahrheit bin ich ein noch größerer Egoist und will nicht ohne dich leben. Also, wenn du diesen alten Knacker weiter haben willst ...” Ich verdrehte die Augen, sah dann in seine, verlor mich in der Liebe, die sie ausstrahlten und hoffte, meine würden ihm das Gleiche sagen. Und vielleicht war es so, denn Jens sah in diesem Moment so glücklich aus … Als wir uns dann ganz langsam einander näherten, war das fast wie die Spannung der Jungfrau vor dem ersten Kuss. Hauchzart legten sich unsere Lippen aufeinander, bis sie sich enger aneinander saugten und unsere Zungen einen langsamen Tanz begannen.

„Vielleicht sollten wir uns jetzt mal unser Hotelzimmer ansehen”, murmelte Jens, als wir Luft holten, konnte es aber nicht lassen, weitere kleine Küsse auf meinem Gesicht zu verteilen. „Hmhm”, stimmte ich zu und Hand in Hand gingen, nein, liefen wir durch die Lobby und eilten die Treppe nach oben. Ich hatte gerade die Tür hinter mir geschlossen und mich umgedreht, da rummste ich auch schon wieder mit dem Rücken dagegen – weil Jens mich in diesem Moment so ungestüm küsste, dass es uns mit Schwung nach hinten warf! Sein Mund eroberte meinen, wie er es noch nie getan hatte, so fühlte es sich zumindest an, und

seine Hände waren überall. „Catherine, ich liebe dich”, keuchte Jens zwischen den Küssen und seine Leidenschaft überrollte mich, entfachte auch meine Begierde in nie gekanntem Ausmaß. Denn irgendwie … fühlte es sich diesmal anders an - erwachsener als sonst, ja – gleichberechtigt! Natürlich hatten wir uns schon oft geliebt, wunderbaren Sex miteinander gehabt, doch, das erkannte ich nun, erst heute, jetzt, ließ sich Jens so richtig gehen, wie es ein Mann in wilder Leidenschaft mit einer Frau tun sollte. Endlich waren wir wirklich Partner! Wir taumelten gemeinsam Richtung Bett, ließen uns darauf fallen, küssten und streichelten uns leidenschaftlich. „Und ich liebe dich”, schaffte ich es in einer Atempause endlich zu antworten. Einen Augenblick hielten wir inne, blickten uns

tief in die Augen. Dies war ein Moment fĂĽr die Ewigkeit, die heute fĂĽr uns begann!

~*~ EPILOG ~*~

„Und ihr kommt klar die nächste Zeit?”, fragte Jens und sprühte ein letztes Mal Haarspray über seine frisch gestylte blonde Bürstenfrisur. Ich konnte gerade noch zur Seite springen und schimpfte „Pass doch auf, die Kleine!” Ein niedliches Niesen von unten bestätigte mich und mein Mann schaute schuldbewusst runter. „Oh sorry”, sagte er, musste aber gleich wieder lachen über den Anblick, der sich ihm bot. „Meine kleine Kratzbürste”, grinste er mich dann an, „I'll miss you– nooot!” „Pfff”, machte ich, „so, wie das aussieht, können wir ja auch wir hier nur froh sein, wenn du jetzt auf Tour gehst ...” Ich hatte nicht erwartet, dass er meine Worte auf die Goldwaage legen würde, doch scheinbar

hatte ich einen Nerv getroffen, so ernst und böse, wie er da plötzlich schaute. Bedrohlich kam er näher und knurrte „Was soll das heißen, wirst du mich denn gar nicht vermissen?” Ein Blick in sein Gesicht machte mir jedoch schnell klar, Jens spielte nur mit mir. Entschlossen machte ich einen Schritt auf ihn zu und knöpfte das so sorgsam geschlossene schwarze Hemd mit einer fließenden Bewegung wieder auf. Mit den Fingernägeln der rechten Hand kratzte ich über seine bloße Brust, ließ die linke flach über seinen Bauch tiefer gleiten. „Doch doch”, grinste ich dabei wie eine Katze am Milchtopf, „glaub mir, ich werde dich sehr vermissen – so wie du hoffentlich auch mich!” „Cat!”, keuchte Jens. „Ich muss doch los, der Bus kann jeden Moment-” „Ach ja?”, schnurrte ich. „Willst du wirklich jetzt los?” Noch einmal strich ich über den

Reißverschluss seiner Hose. Seit unserer Rückkehr aus Südamerika hatte sich, um es mit Giuseppe di Lampedusa auszudrücken, nichts und doch alles geändert. Unsere Ehe war stabiler und inniger denn je, aber gleichzeitig waren wir mehr Partner als bisher – und ich persönlich war wesentlich mutiger als früher, was den Sex anging, übernahm nun viel häufiger die Führung, was Jens sehr gut gefiel – wie ich auch jetzt wieder an einem dunklen Glitzern in seinen wunderschönen Augen erkennen konnte. Und auch sein Körper reagierte auf mich, kein Zweifel! „Aber ich-”, nuschelte mein Mann und seufzte ihm nächsten Moment voller Begehren auf. Ich streckte mich, drängte mich an ihn und leckte einmal kurz über seine Lippen. „Oooch”, gurrte ich und sah unter meinen Wimpern

verführerisch nach oben mit einem Blick, der sofort weitere Wirkung zeigte. Mit einer geschickten Beinbewegung kickte mein Schatz die Badezimmertür zu und schloss damit den Rest unserer kleinen Welt aus. Einen Augenblick später hatte er meine Hüfte gepackt und mich auf den Waschtisch gehoben, wo er mich eng an sich zog. Wir küssten uns leidenschaftlich, zerrten an unseren restlichen Klamotten und starteten einen Abschiedsquickie! In einer kleinen Atempause strich ich ihm über die Brust und sah ihn an. „Also, wie war das jetzt mit Kratzbürste und Bus und so?”, fragte ich heiser. Verschmitzt grinste er da, raunte nur „Ach, ich dachte mir –: Scheiß drauf!” – und machte dann so geschickt weiter, dass ich laut keuchen

musste. Berauscht rasten wir der Ekstase entgegen und hörten das laute Hupen des Tourbusses sowie das stürmische Klingeln mit Sicherheit erst, als es schon mindestens 5 Minuten andauerte. Mit einem kleinen Stöhnen lösten wir uns voneinander und ich rechnete es Jens hoch an, dass er nicht sofort nach unten hetzte, sondern „Komm mal her!”, sagte und mich erst noch einmal eng in seine Arme zog. Erst dann seufzten mir leise und sammelten unsere Klamotten ein, die Jens sich hastig anzog. Und ja, ich habe ihm nicht verraten, dass er das Hemd falsch zuknöpfte. Sollten das Noten-Harem ruhig wissen, dass ich hier die Besitzrechte hatte … Nun wahrhaft getröstet und gestärkt öffnete ich die Badezimmertür, vor der wir natürlich

bereits erwartet wurden. Jens erwiderte die Begrüßung und seufzte dann. „Na ja, es nutzt ja nichts, ich muss los ...” In der Tat, die Klingel glühte wahrscheinlich schon! „Cat, du weißt Bescheid, wenn ich es auch nicht oft schaffen werde, mich zu melden, in Gedanken bin ich immer bei dir!” „Weiß ich doch”, lächelte ich und legte ihm die Hand kurz an die Wange. „Pass auf dich auf, ja?” „Pass du lieber auf dich auf! Ich weiß, du willst den Tiger operieren. Ja, denk nicht, ich wüsste das nicht, ich hör dir wirklich zu! Wenn da die Sedierung nicht passt ...” Es war kitschig, aber in diesem Moment rutschte mir ein spontanes „Ich liebe dich!” raus, was mir noch einmal einen innigen Kuss einbrachte. „Echt, mach dir keine Sorgen!”, beteuerte ich dann. „Ich hab doch Julia und Vince und Niels und Stan … Und zur Not kann

mich ja unsere Kleine beschützen!” Da lachte Jens laut auf. „Ja sicher!”, rief er, hob das kleine graue Fellbündel, das zur Feier des Abschieds eine rote Schleife trug, vom Boden hoch und legte es mir in den Arm. „Damit sie mir nicht nachläuft”, brummte er, aber ich wusste, eigentlich wollte er mir damit einmal mehr 'Ich liebe dich' sagen. Noch ein letzter Kuss und er rauschte die Treppe hinunter, ich selber verzichtete wie meistens darauf, ihn an der Tür zu verabschieden. Ich wusste, ich würde ihn wie immer vermissen, aber trotzdem war mein Herz leicht und beschwingt. Fröhlich drückte ich der kleinen Pudelwelpe in meinen Armen einen Kuss auf die feuchte Nase und fragte fröhlich „So, wollen wir dann auch ab in den

Zoo?!” Ihr begeistertes „Wuff!”, bedurfte keiner Übersetzung. „Na dann geht’s jetzt los, Tinkerbell!” ~*~ Ende ~*~

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Hörbuch

Über den Autor

QueenMaud
Bin Mitte 40, habe in Bonn Theologie studiert, arbeite aber jetzt was ganz anderes :-) Verheiratet ohne Kinder, habe aber trotzdem weniger Zeit zum Schreiben, als ich möchte.

Trotzdem habe ich es geschafft, ein ganzes Buch zu schreiben, DIN A4 doppelseitig bedruckt immerhin 240 Seiten. Und jetzt habe ich den Schritt gewagt und es als reines E-Book auf Amazon veröffentlicht ( http://www.amazon.de/Verrat-und-Vertrauen-ebook/dp/B007OH3DXI/ref=sr_1_1?s=digital-text&ie=UTF8&qid=1332863393&sr=1-1 ), vielleicht interessiert es ja den einen oder anderen ... Eine Leseprobe von "Verrat und Vertrauen" findet ihr auch in meiner Bücherliste.

Ansonsten gebe ich zu, eher einen Hang zum Happy-Ending zu haben, aber auch nicht immer, wie die Leser meines "Klassentreffen" sicher bestätigen können :-)

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exguesi Die Kapitel scheinen mir etwas gar lang zu sein. Mir gefällt es auch, wenn Kapitel Namen haben, habe aber selber mind. eine Geschichte, die auch keine Namen hat. Aber grundsätzlich bevorzuge ich dies.

Die Textstruktur sieht wunderschön aus, aber diese 400 Seiten sind mir definitiv zu lang. Vielleicht wäre es optimal, die Geschichte in verschiedenen Teilen zu veröffentlichen...
Vor langer Zeit - Antworten
QueenMaud Hallo und erst mal danke für den Kommi und die Coins!

Solltest du in Etappen lesen wollen, kein Problem:
http://www.mystorys.de/b124242-Romane-und-Erzaehlungen-Save-me--Teil-1.htm
Ab da geht es jeweils per Link weiter zum nächsten Kapitel.

Namen gibt es für die Kapitel leider auch dort nicht, es ist ja nicht so einfach, immer einen passenden zu finden :-)
LG
QueenMaud
Vor langer Zeit - Antworten
QueenMaud Hallo zusammen,
die Vorgeschichte dazu gibt es hier:
http://www.mystorys.de/b113998-Romane-und-Erzaehlungen-Lebensretter--Die-Gesamtausgabe.htm
Vielleicht schaut ihr ja mal rein, man sagte mir, es würde sich lohnen, jedenfalls auf anderern Plattform, hier ist es etwas untergegangen ...

Viel Spaß!!
LG
QueenMaud
Vor langer Zeit - Antworten
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