weißer Traum in einem anderen land
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Mit ausgebreiteten Armen stand sie da, ganz vorn an der Mole. Dort wo der dicke Leuchtturm die Fahrt der Schiffe bewacht seit mehr als 100 Jahren nun schon. Unerschütterlich kündigt er dem Seemann die baldige Heimkehr an.
Wie oft hatte sie hier draußen gestanden, die würzige Seeluft durch ihre Lungen strömen und die Gedanken in die Ferne schweifen lassen. Wie oft waren ihre Grüße den Schiffen gefolgt, die den Hafen verlassend, an der Mole vorüber zogen in alle Herren Länder. Am wohlsten hatte sie sich gefühlt, wenn das Meer mit hohen Brandungswellen die Mole umtoste und der Wind ihre kurzen,
dunkelblonden Haare richtig zerzauste. Dann verirrten sich nur die Unentwegten auf die Mole, jene, die auch im Leben allen Stürmen trotzten. Solche wie Wolle, ihr Fels in der Brandung. Vor 3 Jahrzehnten hatte sie ihm ewige Treue geschworen, und sie hatte es noch keinen Tag bereut. Mit ihm hatte sie, fest verankert, alle Klippen umschifft, die das Leben ihnen zeigte.
Anna spürte noch immer ein Kribbeln in ihrem Körper, wenn Wolle, so wie jetzt, ihr sanft übers Haar strich und seine Lippen ihren Nacken berührten. Mit einem tiefen Seufzer lehnte sie sich gegen seine Schulter.
Laut tutend passierte ein Kreuzfahrtschiff die Mole. Die Passagiere an Bord winkten, Kinder
rannten aufgeregt umher den Platz mit der besten Sicht suchend, eine Bordkapelle intonierte „Time to say good by“.
Anna traten beim Anblick des weißen Riesen Tränen in die Augen. Warum stand sie noch immer hier?
Damals, ja das war eine andere Zeit, ein anderes Land, Annas erstes Leben. So einfach mitfahren auf der „Weißen Lady“, das ging nicht. Die Sehnsucht, mitzureisen hatte sie jedoch in all den Jahren nicht verlassen.
Ihre beste Freundin Ritschi hatte es gut, ihr Freund war Koch auf der „Völkerfreundschaft“. Immer, wenn das Schiff im Rostocker Hafen anlegte, wusste auch Anna deshalb Bescheid. Dann fuhr sie hinaus
nach Warnemünde, stellte sich auf die Mole, um es zu erwarten oder strich um den Bahnhof herum, von wo aus man den Passagierkai gut sehen konnte.
Ritschi hätte ohne weiteres die Möglichkeit gehabt, ihren Freund auf einer Reise zu begleiten. Doch leider musste sie sich im Augenblick genauso wie Anna mit Zucht und Fütterung landwirtschaftlicher Nutztiere und was das Studium sonst noch alles abforderte, befassen.
„Fräulein Burger, wenn Sie dann von Ihren gedanklichen Höhenflügen auf die Erde zurückgekehrt sind, lassen Sie es uns wissen.“, hörte sie plötzlich neben sich Ferdinand Drexlers spöttische Stimme und
zuckte zusammen. Die anderen Studenten kicherten.
Mann, konnte der manchmal eklig sein. Dabei war der junge Dozent und Tierarzt durchaus Annas Typ. Die dunklen Augen, die von einer metallenen Brille umrahmt wurden, braunes Wuschelhaar, das ihm meist etwas widerspenstig in die Stirn fiel, dazu ein athletischer Körper, der eine regelmäßige sportliche Betätigung, von Fitnesstraining sprach vor 35 Jahren noch niemand, vermuten ließ. Oja, Dr. Drexler gefiel Anna, keine Frage. Deshalb gab sie sich auch Mühe, mit guten Leistungen bei ihm aufzufallen. Vielleicht würde sie sich sogar beim Studienjahresball im Herbst überwinden und ihn zum Tanz auffordern.
Für heute standen erst mal das Nervensystem, genauer gesagt die Nervenbahnen auf dem Lehrplan des Dozenten. Und da er liebend gern experimentierte, verteilte er nun aus einem großen Behälter lebende Frösche an seine Studenten. Diese seien zu dekapitieren, das hießt, das Gehirn zu entfernen, dann die Tiere mit Salzsäure seitwärts zu bepinseln, zu beobachten und diese Beobachtungen zu dokumentieren. Der geköpfte Frosch kratzte sich an der Seite mit dem Fuß! Anna fand das faszinierend und spannend gleichzeitig. Die Geschichte vom Störtebecker kam ihr in den Sinn. Andere hatten weniger Verständnis für Ferdinands Versuch und schüttelten sich angewidert oder verließen den Seminarraum.
In der Pause entschuldigte sich Anna bei Ferdinand Drexler für ihre Unaufmerksamkeit. „Der Gedanke an die `Völkerfreundschaft` und dass ich dort einmal mitfahre ist eben gar zu schön.“, schloss sie. „Jetzt fehlt mir noch das nötige Kleingeld und natürlich die Zeit. Dauert ja immerhin 4 Wochen, die Reise. Aber es bleibt mein größtes Ziel.“
„Ja, da kann ich dich verstehen.“ Ferdinand duzte sie ganz selbstverständlich. „Mir geht es genauso. Und aus diesem Grund werde ich auch in den Sommerferien mit diesem Schiff nach Kuba fahren.“ „Sie?“ Anna bekam große Augen. Wer hätte gedacht, dass der junge, hübsche Dozent auch diese Sehnsucht mit ihr teilte. Ferdinand hatte sich ein beträchtliches Wissen über sein Reiseziel angeeignet, die
Pause reichte nicht, um alle Informationen an Anna weiter zu geben.
Nach diesem Gespräch lernte Anna noch intensiver, um Ferdinand zu imponieren. Ritschi indes versorgte sie stets mit den neuesten Informationen über die Route der „Völkerfreundschaft“. Und dann kam der letzte Tag des Studienjahres und damit der Abschied von Ferdinand Drexler. Anna sah ihn nicht mehr War die Sympathie bzw. Liebe doch nur einseitig? Es tat ihr weh, ihn so ohne Abschiedsworte fahren zu lassen.
Das neue Studienjahr begann pünktlich am 1. September und, anders als andere Jahre, mit einem Paukenschlag. Ferdinand Drexler war während seiner Reise in der Straße von
Dover von der „Völkerfreundschaft“ gesprungen und hatte versucht, schwimmend das gegenüber liegende Ufer zu erreichen. Republikflucht also! Man fischte ihn wieder aus dem Meer.
Alle Studenten hatten ein Papier zu unterschreiben, mit dem sie die Schändlichkeit dieser Tat bekundeten.
Anna war wie gelähmt. Den ganzen Heimweg über liefen ihr Tränen übers Gesicht, sodass sie kaum den Weg erkannte. Warum nur, warum hast du das getan? Sie fühlte sich verraten, um ihren Traum verraten. Gleichzeitig schnürte ihr die Angst um Ferdinand fast die Kehle zu.
Auch später konnte ihr niemand sagen, was aus ihm wurde.
„Du hast noch nicht unterschrieben.“, ermahnte Peter sie zwei Tage später. Anna schüttelte nur den Kopf. „Weißt du, wie hoch die `Völkerfreundschaft` ist? Würdest du da runter springen?“
„So `ne blöde Ausrede habe ich noch nie gehört.“ Peter ließ Anna stehen.
Wolle nahm Annas Hand. „Komm, es wird Zeit.“, sagte er zärtlich und zog sie hinter sich her, weg von der Mole. „Zeit wofür?“
„Wir sollten endlich deinen Traum Wirklichkeit werden lassen und mit einer „Weißen Lady“ fahren. Such dir das Ziel aus. Und zur Einstimmung gehen wir jetzt auf Rundfahrt im Hafen.“