Kurzgeschichte
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"Story Battle: Life changing Story"
Veröffentlicht am 06. Januar 2015, 70 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Der deutsche Kurzgeschichtenautor Jonas Kissel wurde 1995 in Worms geboren und lebt nun im Ruhrpott, wo er Englisch und Mathematik studiert. Seit seinem sechzehnten Lebensjahr werden Geschichten von ihm regelmäßig in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht.
Story Battle: Life changing Story

11 Stunden

Elf Stunden

Montagmorgen verliefen bei uns immer ziemlich gleich. Im Wesentlichen begannen sie damit, dass um sechs Uhr mein Wecker klingelte, ich ihn abstellte, mich umdrehte und weiterschlief. Eine halbe Stunde später donnerte meine Mutter dann so fest gegen meine Tür, dass ich fürchten musste, meine Poster fielen herunter, weil die Reißzwecken durch die Erschütterung aus der Wand schossen. Das passierte natürlich nicht nie und manchmal glaube ich, dass das zu den traurigsten Elementen der Geschichte zählt, die ich euch jetzt erzählen werde.

  Meinen Sprint zum Bus und den ätzend langweiligen Anfang eines jeden Montags in der Schule können wir überspringen. Die eigentliche Chemiestunde von diesem Montag ist auch nicht so interessant, obwohl der Chemieunterricht für mich damals das absolute Highlight der Woche war. Nur über den Chemielehrer, Prof. Erikson, muss ich euch noch etwas erzählen, bevor wir mit meiner Geschichte fortfahren können: Er gehörte zu den Lehrern, die jugendlich geblieben waren, und machte einem die Dinge auf seine eigene, witzige Art klar. Seine Strafen waren lächerlich und reine Formsache, das wussten alle. Eigentlich

lachte Prof. Erikson genauso über unsere Witze und Streiche wie wir selbst und die Streber, die waren bei ihm außergewöhnlicherweise nicht die Lieblingsschüler. Das alles lag wohl daran, dass er in Wirklichkeit nie zum Lehrer ausgebildet worden war, sondern als Seiteneinsteiger aus der Forschung begonnen hatte, und es machte ihn zu einem der beliebtesten Lehrer der gesamten Schule. Auch ich mochte ihn wirklich sehr.

  Deshalb freute ich mich normalerweise, wenn ich ihn nach der Schule in der Ghettobäckerei traf. Ghettobäckerei war natürlich nur ein Name, den meine Freunde und ich uns

für den Laden ausgedacht hatten, weil er in einer engen Gasse, in die nur wenig Tageslicht gelangte, lag. Der Putz bröckelte stellenweise von den Häusern dieser Gasse und Wäscheleinen waren von einem Balkon zum gegenüberliegenden gespannt, sodass die Wäsche daran wie ein nach unten gerichteter Torbogen wirkte. Wirklich, wäre die Ghettobäckerei nicht die günstigste von allen in der Nähe der Schule gewesen, hätte sich wohl nie ein Schüler dorthin verirrt. Was ein Lehrer dort zu suchen hatte, erschien uns umso unbegreiflicher.  

  Trotzdem begegnete man Prof. Erikson ab und an dort und ausgerechnet an

diesem Montag fand ich das alles andere als toll, denn ich konnte zu diesem Zeitpunkt nur im Ghetto sein, weil ich den Sportunterricht schwänzte. In der Hoffnung, nicht von ihm gesehen zu werden, versteckte ich mich hinter einer Mülltonne vielleicht war das der Fehler, der uns beide ins Unglück stürzen sollte; ich weiß es nicht…

  Die Männer müssen von der anderen Seite der Gasse gekommen sein. Sie holten Prof. Erikson genau vor meiner Mülltonne ein, umstellten ihn von drei Seiten und flüsterten: „Mitkommen, dann passiert nichts.“

  „Wenn ich schreie?“, erwiderte Erikson.

  „Wirst du nicht.“

  Jedes einzelne Wort, jede einzelne Nuance der Stimmen hat sich in mein Gedächtnis gebrannt und ich kann euch gar nicht sagen, wie kalt die Welle der Angst war, die sich in mir breitmachte: Ich wurde gerade Zeuge einer Entführung! Mein Herz begann zu rasen, der Schweiß schoss aus meinen Achseln und von meiner Stirn und bevor ich auch nur daran denken konnte, einen Notruf abzusetzen, schritten die Männer an der Mülltonne vorbei.

  Der erste bemerkte mich gar nicht. Ich hielt die Luft an und unterdrückte das Zittern, wartete auf Prof. Erikson und die anderen Entführer. Sie liefen auf

einer Höhe mit ihm, jeweils einer auf beiden Seiten. Dadurch waren sie so breit, dass sich der rechte von ihnen in der engen Gasse unweigerlich den Ellenbogen an der Mülltonne anschlug. Fluchend drehte er sich in meine Richtung und entdeckte mich.

  Ich sagte gar nichts. Langsam und mit erhobenen Händen stand ich auf.

  „Was…“, setzte Prof. Erikson an, doch die beiden anderen Männer zerrten ihn so grob weiter, dass er verstummte.

  „Arme runter“, flüsterte der mich entdeckt hatte.

  Ich gehorchte und zitterte dabei so stark, als stünde ich nass im Schnee. Das ist ein Vergleich, den mein Vater

immer benutzt hat, und erst jetzt beim Erzählen bemerke ich, wie passend er eigentlich ist. Glaubt mir, mein Vater hat das hervorragend beschrieben: Ich fühlte mich auch, als stünde ich nass im Schnee, wirklich ganz genau so.

  „Handy.“

  „Ha…“ Meine Stimme klang so erstickt, dass ich sie selbst kaum hören konnte, also räusperte ich mich, „Hab ich nicht dabei.“  

  „Handy“, wiederholte der Mann nachdrücklicher. Weil er seine Kapuze tief nach unten gezogen und einen Schal über Kinn und Mund gelegt hatte, konnte ich von seinem Gesicht nur die Augen und die Nase erkennen, doch das

genügte. Mehr als das bösartige Funkeln seiner Augen musste ich nicht sehen, um zu wissen, dass ich besser gehorchte.

  Vor lauter Zittern ließ ich das Handy fast fallen, als ich es aus der Jackentasche zog. Nicht, dass es einen Unterschied gemacht hätte. Der vermummte Kerl schmiss es sowieso nur in die Mülltonne, dann brachte er mich zu einem Transporter, der am Eingang der Gasse wartete. Seine Kameraden standen bereits dort und beobachteten die Umgebung. Mit einem stinkenden, roten Tuch verbanden sie mir die Augen, dann wurde ich in den Laderaum des Transporters gestoßen.

  „Wo…“

  „Schnauze!“

  Ich war sofort still. Als sich das Tuch vor meinen Augen mit Wasser vollsog, bereute ich es, zu weinen begonnen zu haben. Die Tränen, die sich unter dem Tuch herausdrückten, kitzelten mich auf der Nase und den Wangen, doch ich konnte mich nicht bewegen, um sie wegzuwischen. Ich war wie gelähmt und brauchte all meine Kraft und Konzentration, um mir nicht in die Hose zu machen. Wenn ihr wissen wollt, wie sich Todesangst anfühlt, versucht euch eine totale Starre vorzustellen, kombiniert mit dem schreienden Verlangen nach einer Toilette, das trifft es ganz gut.

  Irgendwann fing ich an, die Sekunden zu zählen, wusste nicht mehr, wo ich war, begann von vorne, verzählte mich wieder und kam schließlich bis zweitausendzweihunderteinundvierzig. Dass diese Zahl irgendeine tiefere Bedeutung hat, glaube ich nicht, aber sie schwirrte in meinem Kopf herum, als der Transporter endlich zum Stillstand kam, und auch dieses Detail hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt.

  Meine Beine fühlten sich wie heißer Wackelpudding an. Bei jedem Schritt schienen sie unter mir wegklappen zu wollen, taten es allerdings nicht und so trieb man mich immer weiter geradeaus, bis ich stolperte Stufen. Ich musste

Stufen erklimmen. Nach der dritten stolperte ich wieder, weil ich das Bein für eine vierte gehoben hatte, die nicht kam.

  „Verdammt, nimm ihm das Ding ab, sonst bricht er sich noch den Hals!“, brüllte jemand weiter vorne und sofort wurde mir die Binde von den Augen gerissen. Das Sonnenlicht brannte in ihnen wie Salz. Reflexartig schlossen sie sich, nur um ganz langsam wieder aufzugehen.

  Ich befand mich auf einem Kiesweg, an dessen Seite in regelmäßigen Abständen Blumenkübel aus Stein standen. In keinem davon wuchs etwas. Zwischen den Blumenkübeln gab es

immer drei Stufen, insgesamt vier Mal. Auf der allerletzten Stufe stand ein Mann mit einer Handfeuerwaffe und schaute mich an. Er befand sich bereits unter dem flachen Vordach der riesigen Villa, zu der der Weg führte. Gigantische Granitsäulen stützten dieses Vordach. Für einen genauen Blick auf das, was sich darauf befand, hatte ich keine Zeit, denn der Kerl hinter mir knurrte, ich sollte mich gefälligst bewegen und das tat ich. Glaubt mir, spätestens wenn ihr die Waffe in der Hand des Typen weiter vorne gesehen hättet, hättet ihr auch jeden Gedanken an Flucht vergessen und gehorcht.

  Links und rechts von mir wucherte das

Gras lange nicht mehr gemähter Rasenflächen auf den Weg. Neben dem Gebäude schienen sie in eine Garten- oder Parkanlage überzugehen, doch der Unterschied zwischen Rasen und Garten war aufgrund der Vernachlässigung nicht mehr allzu groß. Überhaupt hing eine bedrückende Verlassenheit über dem gesamten Grundstück.

  Zögernd betrat ich die Eingangshalle. Das einzige Licht fiel zwischen den Brettern hindurch, mit denen die Fenster vernagelt worden waren. In seinem Schein tanzten aufgewirbelte Staubkörnchen ihren wirren Tanz, doch noch viele von ihnen lagen unbeteiligt auf dem Boden. Mich banden die beiden

Männer an einer verdreckten Heizung unter einem der Fenster fest, bevor sie die Villa wieder verließen. Kurz darauf kamen alle drei Entführer mit Prof. Erikson zurück. Sie schleiften ihn mehr, als er selbstständig ging, und trotz der schlechten Lichtverhältnisse glaubte ich, getrocknetes Blut auf seinem Hinterkopf zu erkennen.

  Zum ersten Mal keimte neben der Angst auch Wut in mir auf. Ich zerrte an dem Seil, das meine Hände mit dem Heizkörper verbunden hielt, und erschrak fast, als es sich tatsächlich etwas lockerte. Sofort schrien alle meine Instinkte durcheinander: Die Angst sagte zuerst, dass ich mich auf

keinen Fall bewegen, dem Kerl mit der Waffe bloß keinen Anlass geben sollte, mich zu erschießen. Dann korrigierte sie, das wäre Unsinn, der Kerl mit der Waffe wäre ja gerade die Treppe nach oben verschwunden, ich sollte mich also verdammt nochmal losreißen und so schnell rennen, wie ich nur konnte. Losreißen, das fanden das Mitgefühl mit Erikson und der Zorn auch gut, aber sie wollten, dass ich mein Überraschungsmoment ausnutzte und die Entführer überrumpelte, meinem Chemielehrer half.

  Ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr, welchem der letzten beiden Rufe ich folgen wollte, als ich mich erhob. Den

Knoten im Seil öffnete ich mit einem einzigen Ruck, dann stand ich wankend in der Eingangshalle, hin- und hergerissen zwischen dem Ausgang und der Treppe, die man Prof. Erikson hochgezwungen hatte. Es war stickig und mein Kopf begann zu schmerzen Müdigkeit. Eine heftige Müdigkeit übermannte mich… Wach bleiben, einfach nur wach bleiben, ich musste… Diese verdammte, stickige Luft! Mir wurde schwindelig.

  Nervös torkelte ich etwas von der Heizung weg, tastete mich dabei an der Wand entlang. Plötzlich erwischte meine Hand eine Türklinke. Sie glitt hinunter und ich stolperte in einen Raum. Mit dem

Fuß schob ich die Tür hinter mir zu. Staub schwirrte in schwachem Licht, Staub brannte mir in Hals und Augen und Staub kitzelte mich in der Nase. Es war warm und stickig, ich konnte kaum atmen und überall war Staub…

  Mein Blick verschwamm und mein Kopf sank auf den Boden. Dann war alles schwarz.  

Ein Schock ließ meine Gedanken durcheinanderwirbeln, ich wusste nicht, wer ich war, wo ich war, was mich so erschreckt hatte, da war einfach nur ein höhnisch grinsendes Gesicht vor dem Abendhimmel, es blickte auf mich herab. Nachdem ich ein paar Mal

geblinzelt hatte, erkannte ich eine Art Dachterrasse um mich herum. Ich saß in einem Liegestuhl, meine Kleidung war nass und als ich an mir herunterschaute, sah ich Staub und Dreck darauf kleben. Da kam die Erinnerung an alles zurück.

  „Wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht“, sagte der Mann vor mir, während er einen Eimer neben sich auf den Boden stellte, „In der Halle warst du nicht mehr und diesen Dschungel hier kann man unmöglich durchsuchen. Zum Glück bist du nur ins Garderobenzimmer geflüchtet.“

  „Wieso?“, stöhnte Prof. Erikson hinter mir schwach.

  Sofort zischte eine andere Stimme:

„Sei still!“

  Es folgte ein Schlag und ein Aufschrei, der mich zusammenzucken ließ. Mir kamen die Tränen, aber ich drehte mich nicht um.

  „Wusstest du, dass dieses Anwesen hier Professor Erikson gehört?“, fragte der Mann vor mir unbeeindruckt. Obwohl ich nicht reagierte, nickte er bekräftigend und fuhr fort: „Ja, ja! Als wir ihn kennenlernten, hieß er auch noch Erik Mann und nicht Manuel Erikson, aber das ist gar nicht so wichtig. Abgesehen davon, dass es völlig unkreativ ist und ihn so jeder gefunden hätte.“ Der Kerl verdrehte gespielt die Augen und winkte ab. „Glücklicher

Zufall, dass er ausgerechnet Lehrer geworden ist und ihr Schüler ihn so achtet. Weißt du, irgendwie hat er es geschafft, aus seinem Zimmer rauszukommen und hier hoch aufs Dach zu rennen. Ich frage mich, ob er wirklich Selbstmord begehen wollte, um nicht das Mittel verabreicht zu kriegen, das er mit uns damals entwickelt hat, oder was zur Hölle er nur im Sinn hatte. In jedem Fall hätte er dich mit uns alleine gelassen, hätten wir ihn nicht wieder eingefangen, kannst du dir das vorstellen?“

  Ich konnte es wahrscheinlich nicht. Heute beschäftigt mich diese Frage manchmal, aber damals auf dem Dach

prallten die Worte des Entführers einfach an mir ab wie Gummibälle. Sie ergaben keinen Sinn, sie ergaben absolut keinen Sinn. Ich ließ ihn reden und probierte ganz vorsichtig aus, wie beweglich ich war. Auf dem Tisch neben meinem Liegestuhl lagen Ampullen und eine Spritze und ich fürchtete, die Kerle hätten mich irgendwie gelähmt. Doch ich schien die volle Kontrolle über meinen Körper zu haben.

  An den Typen vor mir käme ich mit einem geschickten Satz heran… Aber ich hatte Angst, glaubt mir, ich hatte Angst. Obwohl ich in der nassen Kleidung fror, schwitzte ich und das Pochen meines Herzens verursachte

Schmerzen in der Halsschlagader ich glaube nicht, dass ihr so etwas schon mal gespürt habt.

  Nach einer kurzen Pause fuhr der Mann fort: „Paradoxerweise war das Erste, das er uns erzählte, als wir ihn dann wieder einfingen, dass du ein bemerkenswerter junger Mann bist und wir dich aus der Sache raushalten sollen. Du hättest noch dein ganzes Leben vor dir und sowieso wäre es doch nur ein blöder Zufall, dass du überhaupt hier bist. Wenn du dich nicht hinter der Mülltonne versteckt hättest, hätten wir ja gewusst, dass es in der Gasse einen Zeugen gibt und ihn gar nicht erst entführt. Idiotischer Gedanke, oder?

Aber warum hast du dich versteckt?“

  Zuerst wollte ich nicht antworten. Vermutlich konnte ich nicht einmal. Mein Hals war trocken und fühlte sich etwas geschwollen an. Doch der Typ starrte mich erwartungsvoll an. Und er redete einfach nicht weiter… Ihr kennt das, oder? Wenn man nur lange genug angeguckt wird, muss man irgendwann etwas sagen. Es geht dann einfach nicht anders.

  „Wollte nicht erwischt werden“, antwortete ich heiser.

  „Bitte?“

  „Beim Blaumachen. Hab blaugemacht und wollte nicht erwischt werden.“

  Das ließ den Kerl laut auflachen. „Na,

sieh einer an, du hattest doch Recht, Erik! Weißt du, dass du Angst hattest, von ihm erwischt zu werden, hat dein Lehrer auch schon vermutet. Mann, müsst ihr eine Achtung vor ihm haben…“ Plötzlich schwang die Stimme des Mannes in einen eiskalten Tonfall um: „Das wird sich heute ändern. Dreh dich um und sieh ihn dir an.“ Mit dem Kopf deutete er in die Richtung, aus der vorhin Prof. Eriksons Stimme gedrungen war.

  Vorsichtig bewegte ich meinen Oberkörper etwas, um besser nach dort blicken zu können. Mein Lehrer stand zwischen den beiden anderen Entführern. Sie hatten ihn fest gepackt,

er selbst war schwer zugerichtet: Seine Lippe blutete, über sein ganzes Kinn und den oberen Teil des Hemdes hatte es sich verteilt, der Nase ging es nicht viel besser. Lila Schatten umgaben sein linkes Auge und er zitterte am ganzen Leib.

  Mit aufeinandergepressten Lippen wandte ich mich wieder dem Kerl vor mir zu. Er hielt auf einmal eine Waffe in der Hand, ganz lässig, als wäre es ein Handy oder so etwas. In diesem Moment dachte ich wirklich, ich würde sterben, vollkommen unabhängig davon, dass ich diesen Schweinen die ganze Zeit gehorcht hatte, würden sie mich gleich umbringen. Mein Bauch zog sich

zusammen, der Geschmack von Blut breitete sich in meinem Mund aus und hören konnte ich nur noch ein lautes Rauschen und der Drang, aufs Klo zu gehen, der war natürlich auch wieder da. Ich kann euch das Gefühl tausendmal beschreiben und jedes Mal wird es etwas anders klingen und kein einziges Mal würdet ihr es verstehen. Versucht euch an die schlimmste Angst zu erinnern, die ihr jemals empfunden habt, und macht es noch dreimal schlimmer, dann kommt ihr vielleicht bei dem an, was ich an diesem Tag durchmachen musste.  

  Der Entführer beugte sich über mich. Todernst meinte er: „Wie du siehst, haben schlagfertige Argumente nicht viel

gebracht. Deswegen machen wir das jetzt anders. Du hältst still, Junge. Glaub ja nicht, dass ich nicht gesehen hab, wie du deinen Bewegungsfreiraum getestet hast. Aber du wirst dich nicht bewegen, keine Sorge, bei dem kleinsten Zucken drück ich ab.“ Damit legte er mir die Waffe an die Schläfe. Mit der linken Hand setzte er eine Spritze an meinem Arm an. Ich spürte die Nadel ganz schwach auf der Haut. „Du hast jetzt drei Chancen Erik“, wandte der Kerl sich an Prof. Erikson, „Vor der ersten tue ich gar nichts, aber wenn du uns nicht hilfst, werde ich vor der zweiten die Injektion vornehmen müssen. Du weißt, was in der Spritze ist,

oder? Und vor der dritten… schieße ich, vielleicht erst in die Schulter des Jungen, wenn ich ein bisschen zufrieden mit deiner Antwort bin, aber wenn ich gar nicht zufrieden mit deiner Antwort bin…“

  Da brach das Arschloch einfach ab. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie mein Herz raste, ich bekam kaum noch Luft, traute mich aber nicht, richtig zu atmen, da war einfach nur dieser eine Gedanke in meinem Kopf: Beweg dich nicht, beweg dich ja nicht, wenn du dich falsch bewegst, erschießt er dich, er bringt dich einfach um, er macht dich kalt!

  Was der Entführer Prof. Erikson fragte,

hörte ich gar nicht. Plötzlich herrschte Stille um mich herum und Leere in mir. Die Angst war verschwunden, von einem Augenblick auf den nächsten. Übrig war der Gedanke: Scheiß drauf, du überlebst das eh nicht also wehr dich!

  Ruckartig ließ ich meinen Kopf nach oben schießen, spürte förmlich, wie die Nase des Entführers meiner Stirn nachgab. Er schrie auf und stolperte nach hinten und er schoss, ja, er schoss, aber beim Stolpern schoss er weit daneben und der Schuss ließ ihn vollends umfallen. Ohne nachzudenken, griff ich nach der Spritze, die er neben mir auf dem Liegestuhl verloren hatte, und sprang nach vorne. Ich rammte ihm

das Ding in den Hals und drückte ganz herunter. Alles, was er für mich aufgezogen hatte, ließ ich in seinen eigenen Körper laufen. Noch ein Schuss löste sich, doch das nahm ich nicht mehr wirklich wahr. Die Welt um mich herum schien hinter getöntem Glas zu liegen, das so dick war, dass kaum Geräusche hindurchdrangen. Ich griff in Zeitlupe nach der Pistole, richtete sie mit Händen, die nicht mir gehörten, auf den schreiend herbeirennenden Mann. Erst als ich abdrückte, da kam die Realität zurück.   

  Die Wucht des Schusses ließ mich genauso schnell zu Boden gehen wie der Mann, auf den ich geschossen hatte auf

den ich geschossen hatte! Ich hatte auf einen Menschen geschossen, verdammt! Der Gedanke ist entsetzlich und bis heute belastet mich nicht nur, was mir in dieser Nacht widerfahren ist, sondern auch, was ich selbst alles getan habe und gesehen und gehört.

  Schmerzensschreie stiegen von überall um mich herum in den Abendhimmel, Schreie des Mannes mit der Spritze im Hals und Schreie des Angeschossenen. Ich richtete mich auf und sah ihn keine zwei Meter von mir entfernt auf dem Boden liegen, beide Hände auf seinen rechten Oberschenkel gepresst, dunkles Blut quoll zwischen den Fingern heraus. Als hätte ich mich daran verbrannt,

schnickte ich die Pistole weit weg von allen Leuten auf dem Dach, dann rannte ich, rannte ich einfach nur zur Treppe, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, Prof. Erikson zu helfen.

  Heute weiß ich, dass sein Faustkampf mit dem verbliebenen Entführer ein mehr oder weniger gutes Ende nahm, trotzdem schäme ich mich manchmal für diese Entscheidung. Die beiden prügelten sich sehr nah am Rand des Dachs und es hätte genauso gut Erikson sein können, der später hinunterfiel. Nur wäre es Blödsinn, in meiner Erzählung von den Fakten abzuweichen, um mich selbst besser darzustellen. Ich befand mich schon längst wieder in der

Eingangshalle, als die nächsten Schüsse auf dem Dach ertönten. Den toten Mann sah ich nur noch ein kurzes Stück stürzen, als ich den Weg zwischen den beiden Rasenflächen herunterrannte.

  Wo ich hin wollte, weiß ich selbst nicht so genau. Wahrscheinlich wäre ich einfach weiter geradeaus von dem Grundstück weggelaufen, hätte nicht plötzlich der Transporter der Entführer neben mir gehalten. Am Steuer saß Prof. Erikson und bedeutete mir mit einem unmissverständlichen Blick einzusteigen.

  „Hast du deinen Geldbeutel noch?“, fragte er, sobald ich saß.

  Schweigend tastete ich meine Taschen

ab, dann schüttelte ich den Kopf.

  „Hattest du ihn überhaupt dabei?“

  Ich nickte.

  „Verdammt Max, ich beiß dich nicht!“

  Beim Klang meines Namens zuckte ich zusammen. „Was passiert hier?“, fragte ich eingeschüchtert.

  Erikson antwortete nicht sofort. Sein Blick war starr auf die Straße geheftet, seine Stirn lag in Falten. „Stefan hat Frank erschossen, damit das klar ist“, sagte er irgendwann, „Ich habe da oben niemanden umgebracht…“

  „Wieso fahren wir nicht zur Polizei?“ Die Adresse, auf die das Navi eingestellt war, befand sich irgendwo in der Nähe der Schule. Mehr als zwei

Stunden würden wir bis dahin fahren. Die nächste Polizeistelle musste deutlich näher liegen.

  Prof. Erikson stöhnte gequält. „Weil ich aus anderen Gründen nicht dahin kann… Hör zu, was war alles in deinem Geldbeutel? Ich will nichts wissen von Fotos oder Kondomen oder großen Scheinen, aber war irgendein Ausweis drin, deine Busfahrkarte, irgendetwas, wo deine Adresse draufsteht?“  

  Natürlich, mein Personalausweis… Die Typen konnten rausfinden, wo ich wohnte, und das hieß… „Meine Eltern!“, rief ich erschrocken.

  Fluchend schlug Prof. Erikson auf das Lenkrad. „Das heißt, wir müssen sie

mitnehmen. Geb deine Adresse ins Navi… oder warte. Wie weit wohnst du von der Schule entfernt?“

  „Mit dem Auto nur eine Viertelstunde.“

  Kurz dachte Erikson nach. Dann nickte er. „Okay, wir haben genug Vorsprung, wir holen sie dann ab. Du hast auch kein Handy mehr, um sie anzurufen?“

  Ich schüttelte den Kopf. Hätte ich eins gehabt, hätte ich ohnehin schon längst die Polizei geholt.

  Einen Augenblick lang schwiegen wir. Es war neunzehn Uhr zweiundzwanzig, mein Entschluss, die Sportstunde zu schwänzen, lag gerade einmal sieben

Stunden in der Vergangenheit und jetzt stand mein ganzes Leben Kopf.

  „Wohin wollen Sie meine Eltern mitnehmen?“, fragte ich leise.

  „Sag du. An einen sicheren Ort.“

  „Bei der Polizei würde ich mich am sichersten fühlen.“

  Prof. Erikson seufzte. „Hör zu, ich kann dich gut leiden, Max, aber ich kann es mir nicht leisten, dass mein Name in diesem Zusammenhang fällt. Und du kannst dich nicht von der Polizei beschützen lassen, ohne irgendwann meinen Namen in den Mund zu nehmen. Ganz abgesehen davon, bin ich mir nicht sicher, ob es bei der Polizei wirklich sicher für dich ist.“ Hier wollte ich

protestieren, doch Eriksons Stimme verschärfte sich sofort und ließ keine Unterbrechung zu: „Diese Männer haben Geld, also haben sie Macht. Was sie haben wollen, ist ein Medikament, das wir in der Vergangenheit gemeinsam entwickelt haben. Über ein Dutzend Wissenschaftler waren wir, Biologen, Chemiker und Pharmazeutiker, jung, aber vielversprechend. Und in Geldnot, am Anfang waren wir wohl alle in Geldnot.“

  Verbitterung schwang im letzten Satz mit und Eriksons Augen wurden traurig. Eine Weile schwieg er. Ich wollte gerade etwas sagen, ich weiß gar nicht mehr, was, wahrscheinlich nichts Geistreiches

es sollte einfach nur die drückende Stille durchbrechen , da sprach er selbst weiter: „Und jetzt stell dir diese Rüstungsfirma vor, diese verdammt reiche Rüstungsfirma, die unbedingt etwas Revolutionäres auf den Markt bringen will. Du kennst die ganzen Science-Fiction-Filme mit Wunderdrogen, die Menschen zu Supersoldaten machen? Das wurde unsere Arbeit und so viel Geld, wie wir dafür bekamen, und so geheim, wie wir es halten mussten, konnte es eigentlich nur durch und durch illegal sein. Forschen vielleicht nicht unbedingt, aber an irgendwem muss man die Mittel testen und irgendwie muss man

feststellen, ob sie wie gewünscht wirken.“

  So leise, dass ich mich selbst kaum hörte, fragte ich: „Was heißt wie gewünscht?“

  Erikson warf mir einen kurzen Blick zu, dann schaute er wieder auf die Straße. „Unsere… Stell dir vor, ein Schuss aus der Pistole hätte dich getroffen und du hättest es gar nicht gespürt, obwohl du ansonsten zu hundert Prozent leistungsfähig warst. Ein Superschmerzmittel ohne einen Hauch von Nebenwirkung sozusagen. Und… Und etwas, das etwas kniffliger ist, ein Stoff, der… den Zustand jeder einzelnen Zelle im Körper speichert und bei

Veränderung während der Wirkungsdauer sofort wiederherstellt, das heißt, keine Alterung findet statt, weil der Prozess sofort wieder umgekehrt wird, und das heißt, du guckst ganz erstaunt darüber, dass du nichts von dem Schuss gespürt hast, zum Einschussloch und siehst die Wunde schon fast nicht mehr, weil sie sich bereits wieder geschlossen hat und gerade verheilt. Eine Verletzung, die den Soldaten nicht auf der Stelle tötet, sollte auch keine größeren Auswirkungen auf ihn haben. Und damit das klar ist, so ein Mittel kann man auch im Gesundheitssektor gebrauchen, denk nur an die Krebsvorsorge, zum Beispiel.“

  „So ein Mittel haben Sie?“, hauchte ich. Die Ehrfurcht in meiner Stimme konnte ich kaum verbergen.

  Wieder antwortete Erikson für eine quälend lange Zeit nicht. Dann meinte er einfach nur: „Wir haben viele Mittel entwickelt. Einen relativ frühen Versuch hast du vorhin Marek injiziert. Wir waren noch… Solltest du nicht eigentlich du sagen?“

  „Ihr wart noch?“   

  Mit gequältem Gesicht atmete Erikson durch. „Hör zu, machst du schon deinen Führerschein und traust dich, das Ding hier zu fahren? Mir geht es nicht gut, wirklich nicht, die haben mir zugesetzt, aber wir können keine Pause…“

  „Nein“, unterbrach ich ihn, „Tut mir leid.“ Und das tat es auch. Ich mochte Erikson, immer noch, trotzdem wäre es mir lieber gewesen, zur Polizei zu gehen. Deshalb sollte seine Geschichte, die dagegen sprach, besser überzeugend sein. Wie sie weiterginge, fragte ich etwas schroffer, als ich gewollt hatte.

  Erikson hatte die Zähne fest zusammengebissen und verbarg kaum noch den schmerzerfüllten Ausdruck auf seinem Gesicht. Als ich schon glaubte, er würde jetzt gar nicht mehr reden, sagte er plötzlich, als wäre er nie unterbrochen worden: „Wir waren noch in einem frühen Stadium der Forschung und konzentrierten uns noch auf den

Schmerzaspekt, aber irgendetwas mussten wir furchtbar falsch gemacht haben. Das Mittel war erstaunlich: Es wirkte quasi sofort, aber statt schmerzunempfindlich zu machen, simulierte es Schmerzen. Sehr, sehr schlimme Schmerzen. Und weißt du was? Das Unternehmen liebte es, es verkauft es wahrscheinlich heute noch unter der Hand an Regierungen und Terroristenvereinigungen und wen auch immer als Foltermittel. Diese… Skrupellosigkeit? Mir fällt kein besseres Wort dafür ein, tut mir leid. Sie ließ die ersten Kollegen von dem Projekt abspringen und das löste eine Art Welle aus. Von da ab schrumpfte das Team

eigentlich kontinuierlich… Aber die Bezahlung für die verbliebenen Mitglieder wurde besser, immer besser. Ich war einer von den Verbliebenen, aber damit das klar ist: Was ich dir jetzt gleich erzählen werde, habe ich selbst erst sehr spät erfahren.“

  Ich nickte, obwohl Erikson gar nicht in meine Richtung sah. Seit er mich gefragt hatte, ob ich das Steuer übernehmen konnte, stierte er unentwegt geradeaus. Sein Genick war absolut starr, sein Kopf bewegte sich kein bisschen und irgendwie zweifelte ich daran, dass sein Blick sonderlich viel von dem wahrnahm, was auf der Straße passierte. Vermutlich ist es pures Glück,

dass ich hier noch sitzen und meine Geschichte erzählen kann. Wäre damals auf der Straße mehr los gewesen, hätten wir mit ziemlicher Sicherheit einen Unfall gebaut und unseren Tod gefunden wenn nicht bei dem Unfall, dann durch Marek und Stefan, die uns spätestens im Krankenhaus ausfindig gemacht und besucht hätten.  

  „Wir nahmen nur die Injektionen bei den Probanden vor, das ist das Erste“, fuhr Erikson ununterbrochen fort, „Wo sie herkamen und wie weiter mit ihnen verfahren wurde, wussten wir nicht. Man hätte sich denken können, dass es mit Verletzungen und Gewalt einhergehen musste, aber wir waren

Forscher und wir brauchten Geld. Vielleicht wollten wir ja gar nicht darüber nachdenken… Es sickerte aber zu uns durch, irgendwie… Wir standen kurz vor dem Durchbruch. Wir hatten fast das Mittel der Sofortheilung, ein Mittel, das beinahe unsterblich macht! Da fand irgendwer heraus, dass sie Waisenkinder und Bettler für die Tests aufgriffen. Man stopfte ihnen den Mund mit Geld und brachte sie irgendwo unter. Es gab Gerüchte über Zellen, aber die glaube ich bis heute nicht. Wahrscheinlich ging es den Testpersonen ziemlich gut, bis sie diese Parcours laufen mussten. Militärparcours natürlich, aber auch das

wäre für das Geld noch verantwortbar gewesen. Was so gut wie alle verbliebenen Wissenschaftler von dem Projekt abspringen ließ, war das Gerücht, dass während der Parcours auf sie geschossen wurde…“ Erikson räusperte sich und als ich zu ihm herüberschaute, sah ich Tränen seine Wangen herunterkullern.

  Draußen kam langsam unsere Schulstadt in Sicht, es war einundzwanzig Uhr neunzehn und wir würden laut Navi noch weniger als eine halbe Stunde fahren. Mein Lehrer konnte die Weinerlichkeit in seiner Stimme beim Weiterreden kaum verbergen: „Wir bekamen nach den

Testläufen immer Beschreibungen von Verletzungen und ihrem Heilungsverhalten, damit wir wussten, woran wir noch arbeiten mussten, aber vor diesen Gerüchten ist es jedem irgendwie gelungen, die Augen davor verschlossen zu halten, wo diese Verletzungen herkamen… Aber es passte ins Bild, die Schüsse auf die Probanden passten verdammt nochmal ins Bild. Deswegen wollten die letzten Abspringer zur Polizei gehen. Am nächsten Morgen waren sie tot. Ich weiß nur, dass Ralf und ich unschuldig waren, aber den drei übrigen Kollegen, Marek, Stefan und Frank, konnte ich nicht mehr trauen… Du wirst vielleicht verstehen,

dass Ralf und ich nicht aufgehört haben. Wir kapselten uns aber ab, arbeiteten unabhängig von den anderen weiter und, ich gebe es zu, wir arbeiteten mit Begeisterung. Ich meine, wir waren leidenschaftliche Forscher und standen kurz vor der Entwicklung des unglaublichsten Medikaments, das es auf dieser Welt jemals geben wird, verstehst du das? Wir mussten das Projekt einfach zu Ende bringen, einfach nur um es geschafft zu haben… Die Tests führten wir an uns selbst durch, mit einem Messer schnitten wir uns in den Arm. Ein einziger Schnitt ist nicht verheilt, bevor… bevor ungefähr das passierte, was ich dir vorhin beschrieben

habe. Nicht ganz so schnell und das Heilen der Wunde juckte tierisch, aber es funktionierte.“   

  „Sie meinen…“, fragte ich mit großen Augen, „…, Sie, äh… Du bist unsterblich?“

  Erikson schüttelte den Kopf. „Das Mittel beginnt erst zwei Stunden nach der Injektion zu wirken und wirkt nur für etwa elf Stunden. Aber das reicht einem Rüstungskonzern schon, nicht wahr? Also mussten wir uns jetzt der Frage stellen, wie mit dem Ergebnis umzugehen ist. Und wir entschieden uns dafür, alle Ampullen zu zerstören und mir der Formel zur Herstellung unterzutauchen. Was von unserem Lohn

nicht schon für große Häuser oder schnelle Autos draufgegangen war, investierten wir in neue Identitäten. Ralf fand es von Anfang an zu gefährlich, in unseren alten Forschungsgebieten zu bleiben, und scheinbar hatte er Recht. Ich… verdammt!“ Plötzlich begann der Transporter zu ruckeln und langsamer zu werden.

  „Was ist los?“, fragte ich erschrocken.

  „Wir hätten tanken müssen!“

  Während mein Gehirn versuchte, die Folgen dieser Information zu erfassen, blickte ich mit großen Augen auf die ersten Häuser der Stadt. Es war halb zehn und noch nie in meinem Leben hätte ich den allabendlichen Rat meiner

Mutter, jetzt schon ins Bett zu gehen, so gerne befolgt wie an diesem Tag. Überhaupt bereue ich mehr Dinge, die ich nicht getan habe, als welche, die passiert sind. Wirklich, es ist so rum und nicht anders.

  Neben mir fluchte Erikson und lenkte den Wagen an den Straßenrand. Wie lange das schmerzverursachende Mittel wirkte, das ich dem Entführer gespritzt hatte, wollte ich fragen, doch mein Lehrer kam mir zuvor: „Du kennst die Bäckerei in der Nähe der Schule? Wo wir uns manchmal begegnen? Geh da hin. Nimm am besten das Navi mit, präg dir aber den Weg ein! Die Bäckerei gehört Ralf. Sag ihm, Erik Mann und

Manuel Erikson brauchen beide seine Hilfe, dann wird er dir zuhören. Komm mit ihm zurück hierher. Ich schaff den Weg nicht zu Fuß… Wir holen deine Eltern dann zusammen.“

  Ich konnte nur stumm nicken. Beim Aussteigen hätte ich das Navi fast vergessen, dann war ich geistig völlig abwesend. Mir begegneten um diese Uhrzeit nicht mehr viele Leute und erst bei der zweiten Person regte sich in meinem Hinterkopf so etwas wie die Idee, jemanden nach einem Handy zu fragen, um meine Eltern anzurufen oder die Polizei zu… bevor die Idee wirklich Gestalt angenommen hatte, war die Person schon wieder aus meiner

Reichweite verschwunden.   

  Bei jedem Geschäft, das noch geöffnet hatte, passierte in meinem Kopf etwas Ähnliches, aus irgendeinem Grund unternahm ich aber nie etwas. Wie in Trance folgte ich den Weisungen des Navis durch eine Stadt, die zwar noch weit entfernt von ihrem Schlaf war, sich jedoch immer weiter abschottete. Irgendwann stand ich vor der Bäckerei. Die Ladenräume waren bereits dunkel, doch in den Zimmern obendrüber brannte noch Licht. Ich klingelte Sturm.

  Erst wackelten die Gardinen nur ganz leicht. Dann wurde das Fenster aufgerissen und der sonst so freundliche Bäcker bellte: „Was!?“

Eine Viertelstunde später saß ich in einem Lieferwagen mit dem Namen der Bäckerei auf der Seite und hatte eine Kurzversion dessen, was ich euch gerade erzähle, wiedergegeben. Meine Unterhaltung mit Ralf beschränkte sich auf die Weganweisungen, die ich gab. Nur einmal war ich mir über eine Abbiegung nicht sicher, wir schafften es aber zurück zu Erikson, ohne uns zu verfahren. Um zweiundzwanzig Uhr sechsundvierzig brachen wir zu meinen Eltern auf.

  Den Streit der beiden Wissenschaftler, weil Ralf als erste Reaktion auf meine Geschichte die einzige existierende Anleitung zur Herstellung des

Wundermittels zerrissen und in seinen Backofen gestopft hatte, bekam ich nur am Rande mit. Prof. Erikson hielt es für einen entsetzlichen Fehler, Ralf verteidigte sein Verhalten mit religiösen und politischen Argumenten, die Namen der drei Entführer fielen auch mehrmals.

  Ich kann das Gespräch für euch nicht genau rekonstruieren, meine Gedanken hingen damals viel zu sehr bei meinen Eltern. Sie mussten bereits wahnsinnig vor Sorge sein. Das fing schon an, wenn ich nur fünf Minuten zu spät nachhause kam. Dann ließen sie sich allerdings mit einem geschickten Verdrehen der Augen und dem dazu passenden Kommentar in genervtem Tonfall zufriedenstellen. An

diesem Tag hätte das wohl nicht gereicht.

  Aus der Sicht meiner Eltern hätte ich schon vor fast neun Stunden zuhause ankommen müssen, in Wirklichkeit dauerte dieser Albtraum nun schon über zehn an. Und wie sollte ich ihnen erklären, dass wir fliehen mussten?

  Diese ganzen Überlegungen machten mich unachtsam, als ich auf unser Haus zuschritt. Damit möchte ich mich nicht herausreden, wirklich nicht. Manchmal mache ich mir Vorwürfe, weil ich das Auto nicht vor Ralf bemerkt habe. Manchmal frage ich mich einfach nur wertungslos, was passiert wäre, hätte ich das Auto vor Ralf bemerkt. Und manchmal denke ich, dass es keinen

Unterschied macht, dass ich es ohnehin nicht mit unserer Situation in Verbindung gebracht hätte. Das Kennzeichen war es wohl, das Ralf schließlich alarmierte. Doch da war es schon zu spät. Als er sich herumdrehte und schrie, ich sollte auf keinen Fall klingeln, öffnete mein Vater bereits. Wir sahen erst uns erstaunt an, dann den Bäcker, der brüllend aus dem Vorgarten auf uns zurannte. Dann fiel der erste Schuss.

  Ein feiner roter Sprühnebel verbreitete sich um Ralfs Kopf, bevor er stürzte. Sofort drückte ich mich an meinem Vater vorbei ins Haus und versuchte, die Tür hinter mir zuzuziehen,

doch er stand im Weg, mein Vater stand im Weg! Oh, hätte er nur schneller reagiert. Aber er starrte fassungslos auf den toten Mann vor seiner Haustürtreppe, unfähig sich zu bewegen, und dann lautlos wie die erste kam die zweite Kugel und ließ ihn zu Boden gehen.

  Im nächsten Augenblick stand meine Mutter da. In meinen Träumen sehe ich sie immer und immer wieder vor meinem Vater auf die Knie fallen und ihre Arme um ihn schlingen. Ihre Tränen regnen auf ihn herab, doch er rührt sich nicht. Und dann taucht Marek auf.

  „Was ist hier los!?“, schreit er, seine Stimme die perfekte Imitation

unschuldigen Entsetzens, während sein Blick mir befehlt, die Tür zu schließen was ich tue. Damit sind wir von der Außenwelt abgeschlossen.

  Ich möchte etwas zu meiner Mutter sagen, kann es aber nicht. Bei dem Versuch verwandelt sich mein Gesicht in eine unkontrollierbar zuckende Muskelmasse voll Tränen. Bis heute frage ich mich, was wohl aus meinem Mund gekommen wäre oder was die letzten Worte meiner Mutter hätten sein können, wäre sie nicht auf dem Boden hinter ihrer Haustür hingerichtet worden.

  „Das war für Frank“, zischte Marek, als er mir danach ins Zwerchfell boxte. Gnadenlos schleifte er mich an den

Leichen meiner Eltern vorbei und stieß mich ins Wohnzimmer. Ich hatte einfach keine Kraft für Gegenwehr, da waren nur Tränen und Entsetzen in mir. „Stefan konnte nicht so gut zielen mit einer beschissenen Kugel in seinem Bein. Aber wie du siehst, hat er die Waffe jetzt wieder im Griff und trifft die Richtigen.“   

  Die Richtigen. Das weckte den Zorn in mir. Wankend rappelte ich mich vom Boden auf, ballte die Fäuste. Mein Blick fiel auf meine Schultasche. Zusammen mit meinem Geldbeutel lag sie auf dem Fernsehtisch vor der Couch. Das ist ein Detail, dem ich erst heute Bedeutung beimessen kann. Damals gab es in der

ganzen Welt nur noch Marek und mich.

  Mehr als Erschöpfung fand ich nicht auf seinem Gesicht, als er die Waffe hob und fragte: „Wo ist dein Lehrer?“

  Ich überlegte wirklich, ihn mit bloßen Händen anzugreifen. Auf die krumme Nase hätte ich eingeschlagen, wieder und wieder. Alleine das Wissen, dass ich es nicht lebendig bis zu ihm schaffen würde, ließ mich stehen bleiben nicht die Angst vor der Waffe, nein, so etwas empfand ich nicht mehr; es war eine kühle Form nüchternen Denkens. Nur weil ich keine Angst mehr hatte, erschrak ich auch nicht über den Lärm draußen auf der Straße. Und das gab mir die Sekunde Unachtsamkeit, die ich

brauchte, um durch die zweite Wohnzimmertür in die Küche zu hechten.

  Ich riss ein Messer aus dem Messerblock, stieß die Tür zum Gang auf und trat sofort zurück ins Wohnzimmer. Wie gehofft war Marek in Erwartung einer Attacke zu der Tür herumgewirbelt, die sich hinter ihm öffnete, und stand so jetzt von mir abgewandt. Er begriff zwar, dass ich ihn hereinlegte, und drehte sich wieder zu mir um, allerdings nicht schnell genug. Das Messer schlitzte seinen Bauch auf, er ließ die Waffe fallen und ging zu Boden.

  Erikson las mich schließlich weinend

neben den Leichen meiner Eltern auf. Wir hatten ihn in dem Bäckereiwagen zurückgelassen und er musste mindestens den Schuss auf Ralf mitbekommen haben. Danach hatte er auf der Lauer gelegen, bis Stefan aus seinem Versteck heraus über die Straße humpelte. Der Lärm, der Marek so tödlich abgelenkt hatte, hatte auch seinen Kumpanen das Leben gekostet. In diesem Augenblick war er nämlich überfahren worden.   

  Wieder stahl Erikson für unsere Flucht einem toten Entführer den Schlüssel des Fahrzeugs, das sie selbst benutzten. Mit dem Sportwagen, der sie an Ralf verraten, es ihnen gleichzeitig aber

ermöglicht hatte, uns trotz unseres Vorsprungs zu überholen, rasten wir davon, bevor Polizei und Rettungswagen am Tatort eintrafen. Elf Stunden waren zwischen diesem Zeitpunkt und meinem Entschluss, den Sportunterricht zu schwänzen, vergangen. Elf Stunden, die mein Leben für immer verändert haben. Wir sind untergetaucht, legten uns neue Identitäten zu, wurden Vater und Sohn.

  Heute kann ich diese Geschichte relativ frei erzählen, weil ich etwas Abstand zu den Geschehnissen gewonnen habe etwas. Nachts suchen mich die schrecklichsten Momente immer noch manchmal heim. Das ist auch der Grund, warum ich meine

Geschichte jetzt endlich mit jemandem teile. Nun, nicht der einzige… Letzte Woche ist der Mann, der einmal Prof. Manuel Erikson hieß, gestorben und das befreit mich wohl von meinem Versprechen an ihn, niemandem unsere Geschichte zu erzählen.

  Ich will damit nicht sagen, dass ich mich über Eriksons Tod freue, wirklich nicht. Es hat einfach nur gutgetan, mir die Last von der Seele zu reden, das ist alles.  

  

 

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Hörbuch

Über den Autor

JKissel
Der deutsche Kurzgeschichtenautor Jonas Kissel wurde 1995 in Worms geboren und lebt nun im Ruhrpott, wo er Englisch und Mathematik studiert. Seit seinem sechzehnten Lebensjahr werden Geschichten von ihm regelmäßig in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht.

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schnief Eine spannende gut geschriebene Geschichte.
Liebe Grüße Manuela
Vor langer Zeit - Antworten
JKissel Vielen Dank! =)
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Sophia ...eine spannende Gesichte, super geschrieben...habe ich gerne gelesen. Lieben Grup Sophia
Vor langer Zeit - Antworten
JKissel Danke =)
Vor langer Zeit - Antworten
Gaenseblume Prima zu lesen. LG Marina gaenseblume
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JKissel Vielen Dank! =)
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Caliope Viel Erfolg!
Vor langer Zeit - Antworten
JKissel Vielen Dank! =)
Vor langer Zeit - Antworten
Andyhank Ich hätte nicht gedacht, 70 Seiten am Stück zu lesen! Bei deiner Geschichte hat's geklappt. Spannend, spannend, muss ja mal gesagt werden, ob nun real, oder ausgedacht! :)
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JKissel Vielen Dank für das Lob! =)
70 mystorys-Seiten sind ja aber auch deutlich weniger als 70 echte Seiten :P Die Word-Datei hat mit Arial 12 und 1,5 Zeilenabstand, Seitenränder Word 2010 Standardformat ...Moment... (*nachguck*) 16 1/2 Seiten, also weniger als ein Viertel der mystorys-Zahl ;-)
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