Kapitel 78 Rache an den Toten
Jiy ging mit gesenktem Kopf an den Zelten der Verwundeten vorbei. Sie hatte einmal wirklich gehofft, nie wieder so etwas sehen zu müssen? Es schien ihr jetzt wie ein ferner Traum. Das weiße Hemd, das sie trug wies einen breiten Blutfleck direkt auf der Brust auf. Die Wunde, die der Überfall bei ihr hinterlassen hatte war letztendlich doch versorgt worden und einen Moment war es erleichternd gewesen, die schwere Panzerung loszuwerden. Auch wenn sie ihr wohl das Leben gerettet hatte
Roland folgte ihr in einigem Abstand, war aber klug genug, fürs erste zu
Schweigen. Vermutlich würde er ihr ohnehin nur erzählen, es sei nicht ihre Aufgabe, Anteilnahme mit den Verwundeten zu nehmen. Doch für den Moment blieb der General auf Abstand, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.
Die Toten hatte man in einigem Abstand zum Lager, unter den kühlen Schatten der Bäume aufgebahrt. Zwar hatten einige Freiwillige bereits damit begonnen die ersten, flachen Gräber auszuheben aber es würde wohl noch bis weit in die Nacht hinein dauern, bis man genug Gruben hätte. Im Augenblick stand die Sonne noch hoch am Himmel und machte die Sache dadurch kaum
besser. Der Blutgeruch war hier praktisch überall. Nichts hätte Jiy lieber getan, als dem Lazarett zu entkommen und sich in das eigentliche Heerlager ein Stück Abseits vom Fluss zu retten, aber sie stemmte sich nach wie vor mit aller Macht gegen den Impuls. Sie wollte das hier sehen und es schürte bei ihr nur eines. Wut. Auf Andre, auf Jormund, auf Falvius…. Normalerweise war es ein Gefühl, dem sie nur selten nachgab.
Genau diesen Augenblick nutzte Roland jedoch um zu fragen : ,, Was soll mit Falvius und dem Körper von Jormund geschehen ?“
,, Ihr fragte die falsche, wenn ihr eine politische Antwort wollt. Ich schätze,
Jormunds Haus will den Leichnam wiederhaben…“
,, Sobald sie erfahren, das er in der Schlacht gefallen ist, ja.“
,, Dann sollen sie ihn bekommen.“ , erklärte die Gejarn ruhig. Aber in ihrem inneren brodelte es.
,, Ich werde einem Balsamierer…“
Jiy schüttelte den Kopf. ,,Lasst ihn am Waldrand liegen. Seine Familie kann holen, was die Tiere übrig lassen.“
,, Herrin ?“
,, Ihr habt mich gehört, Roland. Für Falvius Körper… gilt das gleiche. Ich will nicht, das er mit den Männern bestattet wird, die er ans Messer geliefert
hat.“
,, Ich… verstehe.“
So viele Tote gingen heute aus die Kosten dieser beiden Männer. Und er hatte nicht gehandelt, weil er es vielleicht für das Beste für alle hielt. Vielleicht konnten sich einzelne tatsächlich irgendwie davon überzeugen. Jiy konnte keine Gedanken lesen. Aber Falvius hatte sich gegen sie gewandt, nur um sich selbst einen Vorteil zu sichern. Noch mehr wie Jormund… Der Herr Lasantas war in die unendlichen Fehden und Intrigen des Adels Cantons hineingewachsen. Falvius hingegen hatte sich freiwillig dafür entschieden.
,, Ich habe genug gesehen.“ , entschied
sie und machte sich daran, den mittlerweile ausgetretenen Pfad über die Wiese zurück zu den Zelten der regulären Truppe zu folgen. Roland schloss sich ihr schweigend an, nachdem er ihre Befehle an die Totengräber weitergegeben hatte.
Die Zelte waren nach einer genau festgelegten Ordnung angelegt. Die Unterkünfte der Offiziere und Generäle befanden sich genau in der Mitte, während die übrigen in einem konzentrischen Kreis darum angeordnet waren. Dies schützte die Befehlshaber gleichzeitig vor einem Überraschungsangriff von außen und gleichzeitig konnte ein feindlicher
Kavallerieangriff nicht so einfach weiter in das Lager vordingen, ohne zu riskieren, dass ihre Pferde in dem Gewirr aus Seilen und Pflöcken stolperten. Es war die beste alternative, wenn man keine echten Befestigungswerke anlegen wollte. Nur einen flachen graben gab es, der die Zelte umlief. Dieser diente jedoch eher der Entwässerung, nicht als Verteidigungslinie. Banner mit dem Doppelwappen Cantons wehten am Zugangsweg und über den Offizierszelten im Zentrum. Als die Gejarn grade die Hälfte des gewundenen Wegs hinter sich gebracht hatte, kam ihr und Roland bereits eine Vertraute
Gestalt entgegen. Zyle hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und schien so tief in Gedanken, dass er sie erst bemerkte, als sie fast direkt vor ihm standen. Ein paar Soldaten, die im Schatten der Zelteingänge ihre Ausrüstung warteten oder ihr Mittagessen zu sich nahmen, sahen dem Hochgeneral fragend hinterher.
,,Zyle ?“ Jiy wusste nicht zu sagen, ob der Mann niedergeschlagen oder aufgeregt war.
,,Verzeiht, Hochgeneral, aber ihr seht schlimmer aus wie einige der Toten draußen auf dem Feld.“ , erklärte Roland seinerseits.
,, Kann sein.“ , murmelte der Gejarn. ,,
Ich… habe mich eine Weile mit Relina unterhalten.“
,,Heißt das ihr redet wenigstens wieder miteinander ?“
,, Es heißt gar nichts, Jiy. Sie hat mir von Maras erzählt. Offenbar… beruhigen sich die Dinge erst jetzt wirklich. In all den Monaten, die ich jetzt fort bin, gab es weitere Tote. Aber das wird mich auch nicht ablenken, falls ihr das befürchtet. Dennoch … sie ist die Frau die ich liebe… immer noch, Jiy . Mit meinem Kind wie es aussieht. Das ist schon verrückt.“
,, Und wo ist sie jetzt ?“ , wollte Jiy wissen, während sie und Roland Zyle wieder aus dem Lager hinaus folgten.
Der Gejarn schien selbst nicht wirklich zu wissen, wo er hin wollte und Jiy wollte besser in seiner Nähe bleiben. Das war wohl wirklich das seltsamste aller Wiedersehen. Und sicher nicht nur für Zyle.
,, Sie schläft jetzt. Ich habe ihr fürs erste mein Zelt gegeben. Da sollte sie es fürs erste bequem genug haben. Ich suche mir später irgendwo einen neuen Platz.“
,, Und wir können ihr trauen ?“ , fragte Roland. ,, Immerhin, ihr habt sie praktisch…“
,, Ja. Können wir.“ , unterbrach Jiy ihn einfach.
,, Ich will nur nicht gleich wieder eine
böse Überraschung erleben. Ihr habt auch gesehen, was sie anrichten kann.“
Sie hatten mittlerweile den Rand der Wiese erreicht und gingen am Waldrand entlang. Das Laub lag unter den überhängenden Zweigen bereits knöcheltief und raschelte bei jedem Schritt. Der Winter konnte nicht mehr allzu fern sein, dachte Jiy. Und wenn erst der erste Schnee die Straßen weiter im Landesinneren bedeckte würden vielleicht auch die Kämpfe bis aufs erste zur Ruhe kommen. Hoffentlich. Sie hätte nie vermutet, dass sich all das fast ein Jahr lang hinziehen würde. Und wenn Andre in diesem Jahr nicht bezwungen wurde, wie dann im nächsten, wenn er
wieder Truppen sammeln und sich neu organisieren konnte ?
Ihr schauderte bei dem Gedanken, dieser Krieg könnte sich noch über Jahre hinziehen, ohne eine Entscheidung zu finden.
Unter ihnen erstreckte sich sanft abfallend das Land bis zum Ufer des Flusses. Einige hartnäckige Blumen, die vom Sommer übrig geblieben waren, stachen als bunte Flecken aus dem Gelbgrün der Halme.
Jiy war stehen geblieben. Roland und Zyle taten es ihr gleich. Und trotzdem raschelte das Laub nach wie vor. Zuerst dachte die Gejarn an den Wind. Aber die Luft war völlig
reglos…
Ihren zwei Begleitern viel es ebenfalls sofort auf und sie wirbelten in Richtung Wald herum. Zwei Schwerter flogen aus den Scheiden, während Jiy weiter auf das Geräusch lauschte. Es waren Schritte. Irgendjemand näherte sich aus dem Wald. Die Bäume standen jedoch einen guten Steinwurf von der Lichtung entfernt so dicht, dass selbst die Gejarn nur Schatten erkennen konnte.
,, Ihr habt keine Späher ausgeschickt, oder ?“ , fragte sie leise.
,, Nein.“ Roland starrte angestrengt ins Zwielicht. ,, Wer immer da draußen ist , gehört nicht zu uns.“
Gespannt warteten sie darauf, während
die Geräusche näher kamen. Bis auf die wogenden Schatten der Blätter rührte sich eine Weile nichts. Dann jedoch stolperte eine Gestalt ins Licht, die Jiy sofort wiedererkannte. Der rote Mantel, den sie trug wirkte zwar etwas abgetragen und wenn sie sich bis hierher durchgeschlagen hatten, war das wohl kein Wunder, aber Eden grinste, als sie ebenfalls erkannte, wer am Waldrand auf sie wartete. Hinter ihr folgten bereits Erik, Cyrus und Zachary. Sie mussten tatsächlich zu Fuß bis hierhergekommen sein, dachte Jiy bei sich.
,, Jiy.“ Die Kapitänin zog in einer theatralischen Geste den Hut. Sie war sich nicht sicher, ob sie Eden schon mal
eine so schwungvolle Bewegung vollführen hatte sehen. ,, Ich glaube ihr könnt eine gute Nachricht gebrauchen, wie ?“
Edens Blick wanderte zu dem Blutfleck auf Jiys Brust, dem ebenfalls verletzten Roland und Zyle, der nach wie vor nicht ganz auf der Höhe war. Auch wenn das bei ihm andere Gründe hatte.
,, Das könnt ihr glauben. „ , meinte Roland. Der Schock war ihm nach wie vor anzusehen. Falvius war vor allem sein Freund gewesen. Einer, der ihn letztendlich töten wollte. Die anderen hatten ihn kaum so gut gekannt, aber auch Jiy ließ das ganze nach wie vor zutiefst beunruhigt zurück. Das sie
jemand derartig hintergehen konnte tat weh. ,,Wir sind Verraten worden, Eden. Es war Falvius… Er hat uns an Andres Männer verkauft. Zusammen mit Jormund.“
,, Verdammt.“ , fluchte Cyrus hinter ihr. ,, Und ausgerechnet der ist uns in Lasanta entkommen.“
Jiy konnte sehen, wie sich Zacharys Mine bei diesen Worten verfinsterte. Irgendwie schien der junge Zauberer Älter zu sein, als noch bei ihrem letzten Treffen. Auch wenn er nach wie vor die alte Schweigsamkeit und Zurückhaltung an den Tag legte.
,, Nun jetzt nicht mehr.“ , antwortete Zyle. ,, Er ist tot. Aber durch ihn haben
mehr als zweihundert Mann ihr Leben verloren.
,, Und wir haben die Stadt zurück.“ , meinte Cyrus, ,, Das wären dann wohl zumindest zwei gute Nachrichten.“
,, Nicht, wenn ihr Lasanta lange Vance überlasst.“ , fügte Eden hinzu. ,, Ist sonst noch etwas passiert, während wir weg waren ? Es gab ab und an Gerüchte, ihr wärt schon in Erindal und würdet das Gebiet um die Stadt unsicher machen.“
Jiy runzelte die Stirn. ,, Bisher haben wir nicht einmal Späher, die so weit voraus wären. Erindal ist immer noch ein gutes Stück südlich von hier. Aber…“ Die Antwort fiel ihr wie Schuppen von den Augen. Kellvian.
Natürlich. Er war dort irgendwo… Und wenn Stimmte, was Eden aufgeschnappt hatte, dann sogar ganz in der Nähe Erindals.
,, Ob etwas passiert ist ?“ fragte Zyle. ,, Relina ist hier.“ Die Rückkehr von Eden und den anderen hatte ihn offenbar auch endlich dazu gebracht, sich wieder zusammenzureißen. Dieser Mann konnte ohne mit der Wimper zu zucken sein Leben riskieren und eine Armee befehlen, aber wenn es um Relina ging zeigte sich eine ganz andere Seite an ihm. Und so erzählte der Schwertmeister gleich alles, was Eden und die anderen verpasst hatten, von der Reise durch die Herzlande, dem Moment, wo sie
Überfallen wurden, wie Relina aus dem Nichts aufgetaucht war bis zu dem Moment, wo die Kapitänin aus dem Wald gestolpert kam. Eden wiederum Berichtete ihrerseits alles, was in Lasanta vorgefallen war, bis sie die Stadt schließlich in der Obhut von Vance Livsey zurück gelassen hatten um sich ihnen wieder anzuschließen. Als sie jedoch davon erzählte wie die Knochenstarre einfach verschwunden war, wurde Jiy stutzig. Sie hatte, wie Roland, bisher nicht einmal gewusst, dass die Gejarn krank gewesen war und der General wirkte nicht weniger überrascht.
,, Ihr meint ihr seid… geheilt ? Wie
?“
,, Wenn ich das wüsste.“ , antwortete die Kapitänin. Die Luchsin strahlte beinahe und Jiy fragte sich, ob sie sie schon einmal so gut gelaunt gesehen hatte. Ein starker Kontrast zu Roland und Zyle, die beide nach wie vor düster dreinsahen, auch wenn zumindest der Gejarn ab und an wieder lächelte.
Vielleicht sollte sie selber später einmal nach Relina sehen, dachte Jiy. Sie hatte bereits einmal versucht ein gutes Wort für Zyle einzulegen. Aber die Zauberin schien seltsam kalt geworden zu sein. Kein Vergleich zu der entschlossenen, aber immer auch herzlichen Frau, die sie für kurze Zeit in Helike gekannt hatte.
Oder geglaubt hatte zu kennen. Das alles wirklich nur wegen dem Laos-Schwertmeister, der ihr gegenüber saß ?
Und über so etwas machte sie sich Gedanken… als jemand, die Rache an den Toten übte?
Sie waren mittlerweile zurück im Lager, über das sich bereits die Dämmerung senkte. Kochfeuer wurden entzündet und die Rationen für das Abendessen verteilt. Jiy, Eden, Zyle und die anderen hatten sich derweil in eines der großen Zelte in der Mitte des Heerlagers zurückgezogen, jeder eine Schale mit Suppe vor sich. Die Offiziere bekamen die gleichen Rationen wie die übrigen Soldaten, etwas, auf das Roland bestanden und das
Zyle nur zu gerne übernommen hatte. Und Jiy hatte sich letztendlich ebenfalls dafür entschieden. Es war eine Geste, welche die Garde nur positiv auffassen konnte. Die Wahrheit war jedoch, das ihr dieses Essen ohnehin mehr zusagte, als die überladenen Tafeln, die manche Adeligen sogar noch auf weiten Reisen mit sich führten.