Kapitel 77 Verlust
Endlich ließen sie die Halbschatten des Waldes hinter sich. Zyle trat ins Sonnenlicht, wo der Spähtrupp, den sie vorausgeschickt hatten, bereits damit begann, ein Lager zu errichten. Vor ihnen lag eine große Wiese, die zum Ufer eines Flusses hin leicht abfiel. Das musste wohl der große Grenzstrom sein, der einst Canton und die lange untergegangenen freien Königreiche getrennt hatte. In den letzten Wochen hatte er mehr Karten des Kaiserreichs zu sehen bekommen, als in den ganzen
Jahren davor zusammengenommen. Und vermutlich hatte er auch mehr Tote gesehen…
Wie viele von ihren Leuten heute ihr Leben gelassen haben wollte er gar nicht wissen. Roland hatte die Verluste jetzt schon auf weit über zweihundert Mann geschätzt. Zweihundert zu viel für seinen Geschmack. Keiner von ihnen hätte mit dem Verrat rechnen können, den der zweite General an ihnen verübt hatte, trotzdem… Er war der Hochgeneral der Garde. Diese Männer unterlagen jetzt seiner Verantwortung und Zyle wurde das Gefühl nicht los, sie im Stich gelassen zu haben.
Und doch auch der Schock des Tages
konnte seine größte Sorge nicht beschwichtigen. Er musste Relina sehen. Die Rückkehr der Zauberin war vielleicht das Seltsamste, was ihm heute passiert war.
Überall auf der Wiese wurde bereits gearbeitet. Männer errichteten Zelte, hoben Gruben aus oder legten pferche an, damit man die Pferde dort unterbringen konnte. Unten am Fluss wiederum wurden die Verwundeten abgeladen, damit man ihnen gleich Wasser geben und die Verbände auswechseln konnte. Die Verletzungen mancher waren schrecklich und Zyle wusste, das nicht einmal die Ordensmagier manchen davon würden
helfen können.
Das dutzend Magier, das hier war, war ohnehin völlig damit überfordert, für beinahe zwanzigtausend Mann einzustehen, die sich auf sie verließen.
Blumen und Gräser wurden unter den Stiefeln der Gardisten rasch plattgetreten und bildeten so erste Wege. Roland hatte sich bereits aus dem Sattel geschwungen und erteilte weitere Anweisungen, während Jiy einige Heiler abwehrte, die sich die Schussverletzung ansehen wollten, die sie sich zugezogen hatte.
,, Mir geht es gut.“ , erklärte sie aufgebracht. ,, Kümmert euch um die, die eure Hilfe wirklich brauchen. Das war ein Befehl, wenn ihr einen
braucht.“
Die Heiler zerstreuten sich.
Zyle amtete auf. Offenbar kamen der General und sie im Moment auch gut ohne ihn zurecht. Jetzt musste er Relina in dem ganzen durcheinander nur finden. Er hätte ohnehin keine Ruhe, bis er nicht wenigstens kurz mit ihr gesprochen hätte. Das heißt, wenn ihm nicht wieder die Worte im Hals stecken blieben.
Er sah sich einen Moment um und lenkte seine Schritte dann hinab zum Fluss. Es war ein warmer Herbsttag und nicht nur ihn zog es, nachdem die Zelte aufgeschlagen waren, erst einmal zum Wasser.
Einige vereinzelte Bäume, deren
Blätterwerk sich ebenfalls bereits Bunt verfärbt hatte, spendeten etwas Schatten und ragten am Flussufer entlang auf. Auf der anderen Seite des Wassers stand ein weiterer Baum, im Gegensatz zu denen auf dieser Flussseite , war dieser jedoch tot und verdorrt oder wirkte auf den ersten Blick zumindest so. Die Rinde war längst abgefallen und hatte nur ausgebleichtes, beinahe schneeweißes Holz zurück gelassen und in den dürren Zweigen hingen kleine Windspiele und Amulette, die bei jeder Brise leise Klimperten. Obwohl Zyle noch über hundert Schritte vom Wasser entfernt war, konnte er das seltsame Glockenspiel hören, fast so, als würde es überhaupt
nicht durch anderen Lärm überlagert werden, sondern eher alles durchdringen.
Ein Geisterbaum. Zyle hatte zwar davon gehört, aber noch nie einen gesehen. Nun vermutlich gab es überall welche.
In der Ferne, den Fluss hinauf konnte er wiederum eine eingefallene Brücke erkennen, die den Abgrund zwischen zwei hoch aufragenden Felsklippen überspannte. Offenbar war der Grenzfluss, Keel wenn er sich richtig an den Namen erinnerte, an über einhundert Stellen über Brücken überquerbar. Viele waren bereits uralt und wurden selten repariert. Diese hier jedoch sah aus, als sei sie schon vor Jahrhunderten
zusammengebrochen.
Also wohl nichts, worum er sich Sorgen machen musste. Zyle hatte im Augenblick ganz andere Gedanken. Mehrere Gardisten schleppten bereits Eimer und Feldflaschen voll Wasser hinauf zum langsam Gestalt annehmenden Lager, aber nach wie vor keine Spur von Relina. Laos, wenn sie einfach wieder gegangen war, nachdem sie ihn gesehen hatte ? Er beruhigte sich damit, dass sie das nicht tun würde. Aber die Relina die er kannte… Die Relina die er kannte, brachte auch nicht eiskalt Menschen um. Oder ?
Er liebte sie, nach wie vor. Die kurze Begegnung hatte ausgereicht um ihn
wieder daran zu erinnern, waren seine Gefühle in den letzten Monaten doch wenigstens etwas in den Hintergrund getreten.
Schließlich jedoch, fand Relina ihn, bevor er sie finden konnte.
Zyle war bis ganz hinab ans Flussufer gegangen, wo das Wasser einen Kiesstrand überspülte. Ab und an blitzten die Schuppen eines Fischs in den klaren Fluten auf. Es war seltsam ruhig hier geworden, nachdem die ersten Soldaten wieder abgezogen waren. Nur weiter Stromabwärts, wo man die Verwundeten unterbrachte, ging es nach wie vor alles andere als ruhig zu… Er konnte aus der Ferne nur schemenhafte
Gestalten erkennen, die weitere Zelte aufschlugen und geschäftig hin und her eilten. Aber mehr musste er auch nicht sehen. Bevor die Nacht hereinbrach, würden sich ihre Verluste vielleicht noch einmal Verdoppelt haben.
Zyle hockte sich ans Ufer und schöpfte selber etwas Wasser mit der Hand. Er fühlte Durst bestenfalls als Unannehmlichkeit, aber im Augenblick war ihm danach, irgendetwas zu tun, das ihn wenigstens kurz auf andere Gedanken brachte.
,, Was machst du hier ?“ Die Frage wurde ohne sonderliche Neugier gestellt, sondern klang einfach nur kühl. Trotzdem erschreckte sie ihn genug, das
er einen Moment das Gleichgewicht verlor und mit dem Gesicht voran im flachen Wasser landete. Die plötzliche Kälte war wie ein Schock und der Schwertmeister war praktisch sofort wieder auf den Beinen. Wasser troff ihm aus den Haaren und der Kleidung. Das kurze Lachen hinter sich, entging ihm jedoch trotzdem nicht. Ein glockenheller Klang, der jedoch so schnell wieder verstummte, wie er gekommen war. Relina versuchte es hinter einem Räuspern zu verstecken. Aber das war wieder mehr die Gejarn gewesen, die er zu kennen geglaubt hatte.
Zyle drehte sich erst zu ihr um, als er sicher war, seine eigenen Züge wieder
unter Kontrolle zu haben. Genauso nichtssagend, wie Relina ihn musterte, sah er auch zurück.
Er fürchtete, es könnte vor allem seine Schuld sein, das sie sich so verändert hätte. Aber… hatten sie sich letztendlich nicht beide verändert?
Sie saß auf einem Baumstumpf, keine zwanzig Schritte vom Ufer entfernt und hatte die Hände in den Schoß gelegt. Den dunklen Wollmantel den sie trug, hatte sie dicht um den Körper und die deutlich erkennbare Rundung ihres Bauchs geschlungen.
Zyle schmunzelte innerlich, als er sie so sah, auh wenn ihm nach wie vor tausend Fragen durch den Kopf schossen.
Ihm war anfangs ebenfalls furchtbar kalt gewesen, als er das erste Mal in Canton gewesen war. Ein Land, das für die Bewohner der Steppen und Wüsten in Laos wohl in jeder Hinsicht und Jahreszeit Winterlich war.
,, Nun, warum bist du hierhergekommen ?“ , erwiderte Zyle. Es waren die ersten klaren Worte, die er ihr sagen konnte und gleichzeitig fürchtete er schon, sie wären genau falsch.
,, Ich habe Kellvian ein Versprechen gegeben, wenn du dich erinnerst…. Und ich glaube den anderen Grund kannst du sehen, oder?“
,, Und du…“ , setzte er zu einer Frage an.
Relina kam ihm zuvor. ,, Mindestens drei Monate. Vielleicht vier.“
,, Moment, heißt das…“ Er rechnete rasch nach und das Ergebnis war eindeutig. Vor vier Monaten war er noch… durchaus lebendig durch die Straßen Helikes gewandert. Und zwar mit Relina.
,, Ich war mir erst nicht sicher. Zuerst schob ich es auf Seekrankheit, dann auf was auf Maras geschah nur… Ich war mit keinem anderen Mann zusammen, Zyle.“
,, Das habe ich auch nicht behauptet…“ Zyle versuchte seinen Gedanken zu ordnen. Er hatte damit gerechnet, oder? Dass das Kind von ihm war, war nur
logisch gewesen. Aber nach und nach wurde ihm klar, dass das Wirklich der Fall war. Es kam selten genug vor, das Gejarn verschiedener Stämme ein Kind zeugten. Und wenn es doch einmal der Fall war, überwog ohnehin die Art der Mutter. Und dann traf es ausgerechnet sie. ,, Das ist doch Wunderbar.“
Auch wenn sich ein Teil von ihm bereits fragte, ob ein solches Kind auch Relinas ungewöhnliche Begabung erben würde…
Natürlich hatte er wieder das Falsche gesagt, dachte Zyle sofort, als er Relinas Gesichtsausdruck sah. Für sie ganz sicher nicht.
,, Nein Zyle, das ist überhaupt nicht wunderbar.“ , rief die Gejarn. ,, Du hast
mich hintergangen.
Deine Freunde mögen das vergessen haben. Ich nicht. Hast du eine Ahnung wie oft ich in den letzten Wochen darüber nachgedacht habe, dieses Kind einfach los zu werden? Wenigstens bevor ich dir wieder gegenüberstehe? Und doch habe ich es nicht getan. “ Sie schloss einen Moment die Augen. ,, Hör zu… das war dumm. Vergiss das. Ich… ach verdammt.“
,, Wir haben beide in den letzten Monaten einiges durchgemacht.“
,, Heuchle jetzt bloß kein Mitleid.“ , erwiderte Relina. Trotzdem nickte sie. ,, Die Machtkämpfe auf Maras sind nach eurer Abreise nicht wirklich abgeflaut.
Bis vor wenigen Wochen habe ich darum gekämpft die Kontrolle zu behalten. Es gab weitere Tote. Verletzte… Wir hatten endlich Häuser für alle errichtet, als ein Feuer wieder über ein Dutzend Zerstört hat.“
,, Und doch bist du gekommen…“
,,Nachdem sich die Dinge etwas beruhigt hatten, ja. Ich habe seit meiner Abreise einige Nachrichten erhalten. Von den Magiern, sowie von den… normalen Bewohnern. Sie lernen es langsam Zyle. Zusammenzuleben. Aber unser Überleben hängt von dem Cantons ab. Vielleicht kann ich, wenn das hier alles vorbei ist, endlich in etwas zurückkehren, was den Namen Heimat
verdient.“
,, Du hast hart genug dafür gearbeitet.“
,, Und du beinahe alles ruiniert. „ Erneut schüttelte sie hastig den Kopf. ,, Verzeih, das wollte ich nicht sagen, ich… Ich habe in den letzten Monaten Dinge getan, die ich von mir selbst nie erwartet hätte. Auf weniger als die Hälfte bin ich wirklich stolz. Der Rest… Und jetzt Sitze ich hier und erzähle ausgerechnet dir das alles. Ich weiß im Augenblick wirklich nicht, was ich für dich empfinde Zyle. Und ich rede viel zu viel.“
Das war immerhin noch mehr, als er erwartet hatte, dachte er. Auch wenn es nichts bedeutete. Er musste sich
zusammenreißen um diese seltsam entschlossene Frau nicht einfach in die Arme zu schließen. Das hätte ihm vermutlich selbige gekostet.
,, Du hilfst uns immerhin.“ Zyle wusste nicht wirklich, was er sonst sagen sollte. Relina schaffte, was sonst kaum etwas fertig brachte. Sie verunsicherte ihn zu tiefst. Und das nicht einmal absichtlich, dachte er. Aber so wie sie nicht wusste, was sie für ihn empfand, wusste er das selber noch immer viel zu gut. Bewunderung war noch das Geringste. Sie hatte sich verändert. Aber irgendwo unter der abgehärteten Mine war sie immer noch die Frau, die er so einfach lieben gelernt hatte. Und umso schwerer
loslassen konnte. Vielleicht wenn einige Jahre vergangen wären, dachte er und wusste gleichzeitig, dass es eine Lüge war.
Relina nickte. ,, Wie gesagt , das Überleben von Maras… ist von eurem Abhängig. Deshalb bin ich hier Zyle. Genau dafür.“
,, Und du bist sicher, dass du in deinem Zustand wirklich noch kämpfen solltest ?“
,, Was genau ist den mein Zustand Zyle ?“ , knurrte sie plötzlich wieder aufgebracht. ,, Ich bin nicht krank, falls dir das entgangen sein sollte.“
,,Ich…“ Konnte er denn auch einmal das richtige sagen? Wie es schien
nicht…
Relina winkte ab. ,, Verzeih. Götter helft mir ich hab keine Ahnung was ich eigentlich sage. Ich will mich grade wirklich nicht streiten. Ich bin nur schrecklich müde, Zyle.“
,, Dann suchen wir dir besser ein Zelt.“ Zyle hielt ihr eine Hand hin. Er wusste nicht, ob das schon wieder verkehrt war, aber die Gejarn zögerte. Einen Moment lang fürchtete er, sie würde den Angebotenen Arm einfach ignorieren. Dann jedoch nahm sie die Hand und ließ sich auf die Füße helfen.
,, Das wäre nett, ja…“
Es bedeutete überhaupt nichts, sagte Zyle sich. Und um sich davon zu
überzeugen musste er nur Relina betrachten, die ihn nach wie vor misstrauisch beäugte, wann immer sie glaubte, er sähe nicht hin. Es bedeutete nichts… und doch war es wenigstens ein winziger Schritt in die richtige Richtung. Was er getan hatte, war nicht wieder gut zu machen. Und Relina würde es nie vergessen. Aber vielleicht konnte sie irgendwann darüber hinwegsehen. So oder so…