Kapitel 75 Der Hinterhalt
Jiy betrachtete die bunten Blätter, die um sie herum zu Boden segelten. Ein stetiger regen aus Gold, Rot und Brauntönen, der den Heereszug begleitete und die Straße vor ihr bedeckten. Das Kopfsteinpflaster der großen Handelsstraßen, die Canton durchzogen, war teilweise Älter als das Kaiserhaus Belfare und manche Abschnitte hatten vielleicht sogar schon existiert, bevor es das Imperium in seiner jetzigen Form gab. Nun jedoch verschwand der verwitterte Stein zunehmend unter einer goldenen Schicht
aus Blättern.
Jiy fühlte sich unweigerlich an ihre Kindheit erinnert. Wenn im Herbst die Blätter in Lore zu fallen begannen, war das das Zeichen für sämtliche Dörfer in der Umgebung gewesen, das das große Fest der brennenden Bäume kurz bevor stand. Der obere Süd-Osten Cantons war eine eher spärlich besiedelte Region, aber in einem Abend im Jahr waren fast sämtliche Bewohner im Umkreis Lores dort zusammen gekommen. Es waren schöne Erinnerungen. Die langen Nächte, in der sich auch niemand darum scherte, wenn die Kinder ständig etwas von den reich gedeckten Tischen stibitzte und generell für einige Stunden die
Konflikte und die Härten des vergangenen Jahres vergessen waren. Das war natürlich alles bevor der Ort vor nun fast zwei Jahren bis auf die Grundmauern niedergebrannt worden war.
Seit gut einem Monat zogen sie nun durch das Land, über das sich langsam der Herbst ausbreitete und die Wälder entflammt hatte. Es war ein weiter Weg bis nach Erindal und irgendwann hatte Jiy tatsächlich zugestimmt, die restliche Strecke zu reiten. Sie traute dem Tier unter sich zwar nach wie vor nicht ganz, aber mittlerweile hielt sie sich sicher genug im Sattel um auch mit Roland und Falvius mithalten zu können. Zyle
hingegen hatte sich beim besten Willen nicht davon überzeugen lassen, auf ein Pferd zu steigen und lief zu Fuß neben ihnen her. Allerdings war es für einen ausgeruhten Gejarn auch keine große Sache, mit einem Pferd mitzuhalten.
Mittlerweile war ohnehin dichter Nebel aufgezogen, der es schwer machte, weiter als ein paar Schritte zu sehen und die Gruppe Reiter wurde langsamer.
Erindal war immer noch einige Tagesreisen entfernt, aber wenn es ihnen gelang, die Stadt zu erobern, hätten sie damit wieder den wichtigsten Seehafen an der gesamten Ostküste unter Kontrolle. Und nicht nur das. Mittlerweile gab es immer wieder
Berichte über Kellvian oder zumindest einem Mann, der ihm unglaublich ähnlich sehen musste, aus der Gegend. Vielleicht würden sie ihn endlich, nach all den Wochen wiederfinden. Ihr Herz schlug schneller bei dem Gedanken. Gedankenverloren strich sie über den Goldring an ihrer linken Hand, der nun jedoch unter einem Panzerhandschuh verborgen war.
Roland war es, der darauf bestanden hatte, das sie wenigstens während der Reise eine leichte Rüstung trug. Wobei leicht es nicht wirklich traf, dachte die Gejarn. Sie mochte das Gewicht des Stahls überhaupt nicht, das ihr auf die Schultern drückte und schnelle
Bewegungen fast unmöglich machte. Mochten die Geister wissen, wie Zyle es anstellte, aber sie wüsste nicht mal, ob sie darin rennen konnte. Noch ein Grund, aus dem sie sich doch langsam mit dem Pferd anfreundete.
Wenn sie bisher wirklich einmal in einen Kampf geraten war, hatte sie sich lieber auf ihre Beweglichkeit verlassen. Nur nützte einem das natürlich nicht viel gegen Kugeln, damit hatte der General wohl Recht.
Die Pferde schnaubten nervös, als sie weiter durch den stillen Herbstwald ritten. Vor ihnen beschrieb die Straße eine Kurve und mehrere hohe Bäume versperrten ihnen die Sicht. Ohnehin
konnte Jiy nicht viel erkennen. Durch den nach wie vor dichter werdenden Nebel hatte sie vielleicht ein Sichtfeld von wenigen hundert Schritten. Die Armee hinter ihr wurde bereits verschluckt und vor ihr gab es nur die offene Straße, die halb hinter einem weißen Vorhang verborgen war.
Irgendwo hinter ihr in der Kolonne aus Soldaten waren die Magier, die Quinn zu ihnen geschickt hatte. Sie fragte sich, was der seltsame Zauberer grade tun mochte. Es war eine Weile her, das die letzten seiner Schützlinge zu ihnen gestoßen waren. Jeder einzelne jedoch würde ihnen bereits eine große Hilfe sein. Gut zwei Dutzend Männer und
Frauen des Ordens, die die auffälligen , türkisfarbenen Roben mit neuem Stolz trugen. Das sie einmal froh sein würde, die Magier zu sehen hätte sie sich auch nicht träumen lassen.
Roland musterte das Stück weg, das vor ihnen lag misstrauisch.
,, Das gefällt mir gar nicht.“ , meinte er düster.
Falvius zuckte mit den Schultern. ,, Was soll passieren ?“
,, Genau...“ , gab Roland zurück. ,, Genau das frage ich mich grade.“
Jiy konnte sehen, wie er die Waffen überprüfte, die er trug. Ein schwerer Kavalleriesäbel und zwei Steinschlosspistolen, die in einem
Holster am Sattel befestigt waren. ,, Ich und Falvius reiten voraus. Ihr folgt uns in ein paar Minuten. Wenn es nicht sicher ist… Nun ich schätze, das werdet ihr hören.“
Jiy nickte. ,, Klingt nach einem Plan.“
,, Ich komme mit.“ , erklärte Zyle da. Der Gejarn prüfte ebenfalls den Sitz des Schwerts, das er trug. Dabei fielen ihm einige Blätter von den Schultern, die sich in seinem Umhang verfangen hatten. Es wäre wirklich leicht, sich hier irgendwo im Laub zu verbergen, überlegte Jiy. Vermutlich machten sie sich jedoch unnötig Sorgen
Roland schüttelte jedoch den Kopf.
,,Verzeiht… Hochgeneral, aber wir
können auch euch nicht einfach so verlieren.“ Diese Worte von dem Mann zu hören hatte Jiy eigentlich nicht erwartet. Aber spätestens seit der Erdwacht schien Roland echten Respekt vor Zyle zu entwickeln.
,, Also gut. Wir geben euch fünf Minuten Vorsprung, das sollte reichen, damit ihr die Gegend sichern könnt. Dann folgen wir euch. Wenn es Ärger gibt, gebt uns irgendein Signal. Ein Schuss in die Luft sollte ausreichen.“
Roland nickte, bevor er dem Pferd die Sporen gab und auch Falvius ihm nachsetzte. Die beiden Männer waren bald im Nebel verschwunden. Jiy lauschte, ob sie etwas hörte, oder auch
wittern konnte, aber da waren nur dumpfe Hufschläge, die sich bald verloren und der Geruch von Laub und Harz um sie herum. Zusammen mit Waffenöl und Schwefel, die Fährte, welche die Armee mit sich zog. Nichts Ungewöhnliches. Oder doch ?
Da war etwas, das jedoch harmlos schien. Irgendwo waren fremde Gejarn in der Nähe. Aber es konnten nicht mehr als einer, vielleicht zwei sein. Das war kaum eine Bedrohung für sie.
Trotzdem, auch Jiy tastete kurz nach dem Griff des Degens, den sie trug. Eine leichte Waffe, aber sie hatte nie wirklich gelernt, mit einem Schwert umzugehen. Jetzt bereute sie das. Vielleicht konnte
sie Zyle später darum bitten, ihr ein paar Kniffe zu zeigen.
,, Folgen wir ihnen.“ , sagte sie schließlich, als alles so ruhig wie eh. Sie zogen langsam weiter. Zyle an ihrer Seite sah sich nach wie vor misstrauisch in alle Richtungen um. Aber nichts rührte sich.
Eine Windböe ließ lediglich einen neuerlichen Schauer aus goldenen und roten Blättern über sie nieder gehen. Wenn sie die Küste erreichten würde davon nichts mehr zu sehen sein, wie Jiy gehört hatte. Die Bäume dort blieben immer Grün, selbst im Winter, der sich ohnehin meist nur Milde bemerkbar
machte.
Sie dachte noch darüber nach, was sie tun sollten, wenn sie Erindal schließlich erreichten, als der Wald um sie herum mit einem Schlag zum Leben erwachte. Wo eben noch nichts weiter als Laub, Erdreich und Zweige gewesen waren, wühlten sich plötzlich Gestalten aus dem Grund und schüttelten die Überreste von Netzen und Fellen ab, unter denen sie sich verborgen hatten.
,, Überfall!“ Zyle reagierte sofort und riss das Schwert aus der Scheide. Der Gejarn rief mehrere Befehle über die Schulter, worauf sich die nach ihm folgende Gruppe Soldaten in Bewegung setzte. Sie kamen jedoch nicht weit, als
auch der Wald hinter ihnen plötzlich in Bewegung geriet. Ein Ohrenbetäubendes Krachen und aufsteigender Pulverdampf aus Büschen und Hecken folgte und dutzende der Männer fielen verwundet oder Tod zu Boden. Die Überlebenden schossen aufs Geratewohl in die Zweige, ohne ihre Gegner auch nur sehen zu können. Und der Nebel machte es nicht unbedingt besser. Im Gegenteil. Er isolierte sie von der restlichen Truppe, die nur langsam nachrückte und ebenfalls bereits mit Gewehrsalven begrüßt wurde. Innerhalb weniger Herzschläge waren Waldboden wie Straße rot verfärbt. Jiy sah sich nach allen Richtungen um. Das Chaos war vollkommen. Und das obwohl
sie doch damit gerechnet hatten. Wo waren Falvius und Roland?
Die beiden mussten den Lärm doch mittlerweile auch gehört haben und schon auf dem Rückweg sein…
Und da näherten sich auch endlich Hufschläge, die sich über die Straße vor ihnen näherten. Im nächsten Moment kam auch schon Falvius in Sicht, das Schwert in der Hand und die Lage nur mit einem kurzen Nicken zur Kenntnis nehmend.
,, Wo ist Roland ?“ , rief Jiy ihm zu.
,, Ich habe keine Ahnung.“ , antwortete der General aufgebracht. ,, Eben war er noch neben mir und dann… keine Spur mehr von ihm. Im nächsten Moment höre
ich auch schon Schüsse.“
,, Was ?“
,, Er ist einfach verschwunden…“ Falvius blickte sich fassungslos um. Zyle war es mittlerweile gelungen, zumindest eine kleine Truppe Gardisten zu organisieren, die sich nun mit allem was sie hatten gegen die Angreifer zur Wehr setzten. Da diese sich jedoch weiterhin halb verborgen hielten, war das nicht viel. Immer wieder brachen Männer getroffen zusammen, während ihre Gegner noch kaum Verluste erlitten hatten, wie es schien. ,, Ich fürchte beinahe, er hat uns verraten.“
Falvius sah bei den Worten zu Boden.
,,Vielleicht ist es nur Zufall.“ ,
versuchte Jiy ihn zu beschwichtigen. Aber sie konnte sich jetzt nicht darum kümmern. Es gab wichtigeres. Sie mussten vor allem erst einmal Überleben.
Mittlerweile stürmten die ersten Angreifer, Schwerter und Keulen schwingend aus dem Wald und stürzten sich auf die vereinzelten Gardisten, die sich plötzlich in einem Handgemenge wiederfanden.
Die Angreifer trugen graue Uniformen. Jiy hatte bereits damit gerechnet. Einfache Banditen griffen keinen Konvoi aus Soldaten an.
Allerdings wirkten die Männer um einiges wilder, als Andres reguläre
Söldner. Vernarbte Gesichter, die bereits die Geschichte zahlreicher Kämpfe erzählten… Das waren nicht irgendwelche Kämpfer. Langsam befürchtete die Gejarn, das Falvius Recht hatte und jemand sie verraten haben musste. Sonst hätte Andre ihnen kaum derartig auflauern können.
,,Verdammt.“ , fluchte sie laut und versuchte sich durch das Durcheinander aus Einzelkämpfen zu Zyle durchzuschlagen.
Und dann geschah es. Sie drehte sich grade noch einmal um, um sich einen Überblick zu verschaffen, als sie irgendetwas direkt vor die Brust trat. Der Schlag presste ihr den Atem aus den
Lungen und warf sie rückwärts vom Pferd. Der Sturz kam ihr viel zu tief vor und als sie auf dem Boden aufschlug, nahm es ihr nochmal den Atem. Einen Moment blieb sie Betäubt liegen. Der Schock saß tief… Sie war tatsächlich getroffen worden. Erleichtert stellte sie jedoch fest, dass es mehr Überraschung als Schmerz war, der sie lähmte. Die Gejarn sah leicht zitternd an sich herab und entdeckte eine gewaltige Beule in der Brustplatte. Ein sauberes, kreisrundes Loch war in das Metall gestanzt worden. Die Wunde jedoch war nicht sehr tief. Jeder japsende Atemzug tat weh, aber die Panzerung hatte sie offenbar gerettet und die meiste Wucht
der Kugel abgefangen.
Jiy schüttelte einmal kräftig den Kopf und riss sich zusammen. Sie konnte unmöglich hier im Staub sitzen bleiben, selbst wenn um sie herum keine Schlacht toben würde. Nach wie vor mussten sie irgendwie aus dieser Falle entkommen. Mit einem Satz, der ihr noch einmal den Atem nahm und sie kurz taumeln ließ, kam sie auf die Füße und nahm grade noch rechtzeitig eine Bewegung an ihrer Seite war. In einem Bogen wirbelte sie herum, das Schwert bereits zu einem Streich erhoben. Die Waffe wurde ihr jedoch aus der Hand geprellt und landete weit außer Reichweite irgendwo auf dem Blutüberströmten Boden. Jiy schlug
sofort mit einer Krallenbewährten Hand nach dem Punkt, wo das Gesicht des Angreifers sein musste, doch erneut war sie zu langsam. Das ganze Metall war noch ihr Tod, fürchtete sie. Normalerweise wäre kein Mensch schneller wie sie…
Ihre Faust wurde im Flug abgefangen und mit einem Ruck verdrehte ihr jemand das Handgelenk. Sie sank auf die Knie, als sie spürte, wie das Gelenk knackte und Übelkeit erregende Schmerzen alles andere Ausblendeten. Und dann warf sie endlich einen Blick auf das Gesicht ihres Gegners.
Falvius…