Scharfe Schneide
Ich musste meine Aggression abbauen. Ich rannte in mein Zimmer und packte das Katana, welches in seiner Scheide auf meinem Schrank lag, ein Geschenk meines Karatemeisters zur bestanden Prüfung für den 1. DAN, den ersten schwarzen Gürtel. Ich packte die Scheide, stellte sie quer und zog die Klinge in einer einzigen, fließenden Bewegung und mit einem leicht singenden Geräusch, als die Luft schnell über die Schneide strich, aus ihrer schützenden Hülle. Ich hielt den Griff mit beiden Händen gepackt und die Klinge gerade vor mich, so dass ich
gerade so die Schriftzeichen auf beiden Seiten erkennen konnte, die in den Stahl geätzt worden waren. Das japanische Zeichen für Mut, darüber das Schriftzeichen für Ehre und als letztes das Zeichen für Stärke. Während ich den Griff fest umklammert hielt, spürte ich wie mich allmählich jene Ruhe überkam, die für einen leeren Kopf und gutes Training sorgte. Ich atmete bewusst tief ein, hielt die Luft ein paar Sekunden in den Lungen, bevor ich sie langsam und bewusst entweichen ließ. Dann begann ich langsam die erste Schwertfigur. Klinge gerade Kopf zur Seite Klinge über den Kopf heben Schritt - Nach unten schlagen, bis auf Bauchhöhe Kopf
zur Seite Klinge wieder über den Kopf... So ging das immer weiter, die ganze Zeit, immer im Kreis und immer im selben Rhythmus.Ich spürte nicht, wie meine Hände allmählich glitschig wurden vor Schweiß und meine Muskeln aus Protest zu zittern begannen. Ich war völlig taub für meinen Körper und seine Warnsignale und so passierte, was zwangsläufig passieren musste: Ich hatte stundenlang trainiert, wie eine Maschine, ohne Pause, ohne Essen oder Trinken. Plötzlich rutschte mir das Katana aus den schweißnassen Händen und fiel zu Boden, mit der Schneide voran. Es streifte mein Bein und schnitt prompt durch meine Jeans hindurch und
verpasste mir eine klaffende Schnittwunde, die sofort zu bluten begann. Völlig verblüfft und ohne den geringsten Schmerz zu empfinden wanderte mein Blick zwischen der mit ein paar Blutstropfen bedeckten Schneide und meiner klaffenden Wunde hin und her. Das Blut durchtränkte den Stoff und schließlich schaffte ich es, den Blick von der Klinge zu lösen. Doch noch bevor ich mich um mein blutendes Bein kümmerte, nahm ich die Klinge wieder fest in die Hand und schlug mit einem gekonnten Abwärtsschlag das Blut von derselbigen. Erst als ich die Klinge wieder in ihrer Scheide verstaut hatte, kümmerte ich mich um die Wunde und
verband sie. Dieser Tag hat mich eines gelehrt: "Sei dir immer deiner Selbst bewusst, sei dir bewusst, was du in jeder Sekunde tust. Nur dann lebst du wirklich und versinkst nicht in Apathie oder Verzweiflung." Dieses Mantra begleitet mich jeden Tag, jede Sekunde. Die Narbe an meinem Bein, erinnert mich jedes Mal daran, wenn ich es zu vergessen drohe...