Verzeihung
Ein aufgeregtes Getöne drang aus den kleinen Lautsprechern seines Laptops. In einem Video erzählte ein junges Mädchen witzige Dinge, sprach über ihr Leben und beantwortete Zuschauerfragen. Es war ein Brimborium von Aufgedrehtheit, geistiger Unbeschwertheit und Charme. Eigentlich war es viel zu albern... Für einen Mann, der auf die 40 zuging sollte es doch eigentlich symbiotischere Formen der Unterhaltung geben.
Doch genoss er den Anblick dieser jungen Frau. Die Leichte mit der sie ihre Gedanken formulierte gleicht einem Schwarm Schmetterlinge, welche
auflebend durch einen Hauchen warmen Abendwinds in die Höhe stiegen. Es war das Gegen zu den bedeutungsschweren Gedanken, welche seinen Geist belasteten und ihn umhüllten, festhielten... wie einen Mensch, der am Boden eines Schwimmbeckens zu laufen versucht. Jeder Schritt wird getan gegen den Widerstand des Wassers, die Füße finden keinen Halt, der Beckenrad ist fern, der Sauerstoff in den Lungen verwandelt sich stetig in Kohlenstoffdioxid... tödlich.
Der Akkumulator des alten Rechners hatte inzwischen eine deutlich spürbare Temperatur erreicht und zog den Mann aus seinen Gedanken, wieder in den
Sessel seines kleinen Wohnzimmers. Der helle Bildschirm schien plötzlich viel zu hell, es war dunkel vor den Fenstern. Er klappte den Bildschirm zu und schob auf dem Tisch einige Gläser und volle Aschenbecher beiseite, damit das Gerät seinen Platz finden konnte.
Die Dunkelheit füllte das Zimmer aus; wie das schwärzeste, weichste Tuch legte sie sich über das sichtbare. Der Mann ließ seinen Augen hin und her fegen. Und sah... nichts. Ein Stück finsterer, kalter, rauer, schwerer Stein schien sich in ihm zu lösen und er atmete es in einem leichten Atemstoß hinfort, ins Nichts. Bevor sich seine Augen all zu sehr an die Dunkelheit
einstellen konnten, verließ er das Wohnzimmer und ließ sich in sein Bett fallen. Sein Gesicht fühlte die weiche und wärme des Kissens und sein Rücken dankte ihm die Entlastung. Bis morgen früh.
Ein Geräusch in hoher Tonlage, drei mal in kurzen Abständen aufeinander folgend, dann Pause.
An die verspürte Erleichterung konnte er sich nicht erinnern. Langsam realisierte der Mann, dass es sein Wecker war, der diese Geräusche verursachte. Ohne den Rest seines Körpers zu bewegen bewegte er blind sein Arm Richtung Geräuschursache und drückte einen
kleinen Klappschalter an der Seite des runden Weckers in seine untere Position. Er setzte seine Füße auf den Holzfußboden und belastete sie mit dem Gewicht seines restlichen Körpers. Auf dem Weg in das Badezimmer ergriff er einen vollständigen Satz sauberst gefalteter Kleidungstücke.
Eine einzigartige Erscheinung in dieser Wohnung.
Früher hatte es dem Mann gefallen, wenn ihm der Duft seiner neuen Kleidung und seines frisch gereinigten Körpers in die Nase stieg, wenn er seinen Kopf neigte um sich die Krawatte zu binden. Doch hatte dies keinen Reiz mehr. In welchem Zustand er sich auch
Befand, er ist Bedeutungslos.
Die Tür fiel in ihr Schloss und ein lauter Hall dessen donnerte durch die Stockwerke.
Er betrat den gepflasterten Gehweg vor der Haupttür. Seinen feinen Schuhe klackte und der Straßenschmutz knirschte bei jedem Aufsetzen unter den Sohlen.
Wenige Minuten verstrichen, da durchquerte er ein eisernes Eingangstor und ging einen Moment ein schmalen Sandpfad entlang. An seinem Ziel angekommen hob er zum ersten mal seit der Durchquerung des Tores seinen Blick. Was anblickte ließ ein leicht zusammenzucken , nicht so stark, dass
es irgendjemandem auffallen würde, doch fühlte es sich für ihn an wie ein tiefer Fall.
Er fiel. Auf die Knie, vor dem Grabstein, welchen er jetzt anstarrte. Seine, wie vor entsetzen, weit aufgerissen Augen füllten sich langsam mit Tränen und das unbegreifbare war wieder zum Greifen nah. Es griff ihn und zog ihn zu Boden. Sein gekämmtes Haar lag nun in der frisch aufgetragenen Erde vor ihm, welche sich mit seiner Trauer benetzte. Etwas zerrte an seinen Gedanken, dem er sich nicht widersetzen konnte. Seine Augen wandten sich an einen Brief, welcher am kalten Marmor lehnte. Häufig hatte er sich davon zu
überzeugen versucht er wisse nicht was in diesem Brief stehe. Die Vorderseite des Umschlags verzierte sich mit einem Herzen aus gewöhnlicher blauer Tinte. In seinem Inneren stand in krakeligen Lettern ein Wort geschrieben. MAMA.
Mit aller Kraft, die er aufbringen konnte riss er sich von diesem Wort los und schloss die Augen.
Doch seine Erinnerungen zwängten sich seinen Gedanken auf und es war ihm unmöglich sich von dieser Qual zu lösen.
Plötzlich ist er wieder hier, in diesem Gebäude, in diesem Zimmer. In dem großen Bett vor ihm liegt eine kleine Gestalt, die eine ihn aufzehrende
Hilflosigkeit ausstrahlt. Er nähert sich so still wie er kann und nimmt neben dem geräumigen Bett platz. Die Hand des kleinen Menschen in dem Bett wird von seiner vorsichtig umfasst. Mit seinem Daumen streichelt er sanft über die weiche Haut und spürte die angenehme fremde Wärme an seiner Handinnenfläche. Kalte, dunkle Kabel und Schläuche führten von der seichten Erscheinung zu Geräten und Monitoren. Ihre Anzeigen bedeuteten den baldigen Tod. Er sah zu wie der Mann einen Stift ergriff und behutsam in die Hand des Sterbenden legte und sie umfasste. Gemeinsam, so sagt er sich, führen sie den Stift über ein kleines Stück
Papier.
Nässe befreite ihn aus dieser quälenden Wiedererfahrung. Er kniete wieder vor dem Grab und atmet schwer, als die kühlen Regentropfen sich mit seinen Tränen vermengen und braune Erde zwischen seine Finger spülten. Er spürte wie Kraft seinen Körper verlässt. Langsam sackt er zu Boden und unter Schmerzen in seiner Brust beginnt er zu lächeln. Wie oft hatte er sich danach gesehnt dieses Grab zu teilen?
Mit dem letzten Kraft spendenden Atemzug streckt er seine Hand aus und scheint etwas fassen zu wollen. Sein lächeln wandelt sich in ein ein stilles lachen und erstirbt kurz danach.
Der Regen hielt an und durchnässte das Umschlagpapier. Es wurde ein kleines Zettelchen sichtbar auf dem deutlich etwas geschrieben stand. ICH VERZEIHE DIR.