Flucht aus Afrika
„Mama, sind wir bald da?“, hörte Fatima ihren 4-jährigen Sohn fragen. Sie war nur kurz in einen unruhigen Schlaf gefallen. Das monotone Geräusch des Außenbordmotors dieser kleinen Patera, auf der sie sich mit 40 anderen Passagieren befand, hatte sie eingelullt. Erschöpft wie sie war, konnte sie für einen Moment ihre Augen nicht mehr offen halten. Sie legte ihren Arm um Hassan, zog ihn näher zu sich heran und flüsterte ihm ins Ohr: „Bald, mein Sohn, versuche, weiterzuschlafen.“ Müde kuschelte er sich in ihren Arm und sie teilte ihren Mantel, um die nächtliche Kälte ein wenig von ihm abzuhalten.
Es war still auf dem Holzboot, das eigentlich nur für acht bis zehn Personen bestimmt und somit weit überladen war... Männer sowie Frauen mit ihren Kindern lagen eng beieinander und niemand wagte sich zu bewegen, da die Außenwände der Patera gefährlich tief die Wasseroberfläche erreichten. Sie kamen zum Teil aus Algerien, Nigeria und Marokko oder wie sie selbst aus der Westsahara und waren verzweifelt genug, für viel Geld, das sie an eine Schleuserbande zahlten, die Flucht aus Afrika zu wagen.
Eine ungeheure Anspannung war auf dem Boot zu spüren, Angst, vielleicht nicht das rettende Ufer von Gibraltar
auf der anderen Seite zu erreichen. Dahin, wo sie sich alle Sicherheit und einen neuen Anfang erhofften. Die schrecklichen Überfälle der Milizen auf ihre Stammesgenossen, die ganze Dörfer terrorisierten, ja, nicht einmal Halt vor Kindern und Frauen machten, eher im Gegenteil, hatten jeden Einzelnen von ihnen traumatisiert. Islamistische Terrorgruppen, die besonders auch in Nigeria Christen verschleppten, sie unter Todesandrohungen zwangen, zum Islam zu konvertieren, all diese Unruhen, Gewalt und Kriege hatten sie in Angst und Schrecken leben lassen. Die Staatsgewalt dieser Länder reichte nicht aus, die Gebiete und ihre Bewohner
zu schützen. Sie wollten doch nur endlich in Frieden leben, ohne das schreckliche Gefühl der Machtlosigkeit und die Furcht, nicht zu überleben... Fatima wünschte sich nur eine Zukunft für sich und ihre Kinder.
Sie versuchte durch den Nebel zu blicken, der die Landschaft gespenstisch erscheinen ließ. Die kleine Bootslaterne reichte nicht aus, irgendetwas erkennen zu lassen. Der Bootsführer konnte sich wohl nur nach dem Kompass richten. Sie spürte die feuchte Kälte, die ihren Körper klamm und steif werden ließ.
Es war Mitte April und das herrliche Frühlingswetter der vergangenen Tage hatte die Schleuser heute zur Überfahrt
veranlasst.. Es ging plötzlich alles ganz schnell. Als sie die Nachricht erreichte, blieb ihr kaum Zeit sich zu verabschieden. Sie ließ ihre Verwandten und Freunde zurück. Auch ihre wenigen Habseligkeiten musste sie zurücklassen...nur was sie am Leibe trugen, war erlaubt.
Über die Straße von Gibraltar wollten sie Motril - eine kleine Hafenstadt in Andalusien - erreichen. Die Küsten waren alle streng bewacht. Aufgegriffene Flüchtlinge wurden meist sofort wieder zurückbefördert nach dem Schengen-Abkommen war das möglich. Alle hier hofften, nicht von der Guardia Civil aufgespürt zu werden.
Sie dachte an Mohamed…. Daran, dass er vor vier Monaten versucht hatte, nach Europa zu gelangen, um dort eine Arbeit zu finden und ein Heim für seine Familie zu beschaffen. Fatima und Hassan sollten dann nachkommen. Bei dem Versuch, mit einer Gruppe von Flüchtlingen an die Küste von Europa zu kommen, war er ertrunken. Um der Kontrolle einer Küstenwache zu entgehen, sahen sich die Schleuser damals gezwungen, auf den Atlantik auszuweichen; sie wollten auf einer der Kanarischen Inseln anlegen. Der Wellengang im Pazifik war jedoch hoch, und da die Patera zu viel an menschlicher Fracht geladen hatte, war
das Boot in den Wellen versunken. Alle 55 Personen waren dabei ums Leben gekommen.
Fatima war anfangs sehr verzweifelt gewesen und wusste nicht, wie sie ihr Leben ohne ihren Mann gestalten sollte. Sie zog zu ihren Eltern, die sie in dieser schweren Zeit unterstützten, wo sie nur konnten. Aber ihr war klar, dass die zusätzliche Belastung für sie nicht lange tragbar war...sie hatten selbst kaum genug zum Leben. Immer mehr reifte in ihr der Entschluss, nach Spanien zu gelangen. Sie hatte erfahren, dass Mütter mit Kindern dort nicht ausgewiesen wurden… Sie wollte die
Flucht versuchen. Nur so sah sie eine Chance für sich und ihre Kinder, zu überleben und ihrer schrecklichen Misere zu entkommen.
Sie dachte an ihre Eltern, die sie zurücklassen musste. Ihr Vater hatte eine seiner Ziegen verkauft und ihr den Erlös für die Überfahrt gegeben, als er schweren Herzens feststellen musste, dass sich seine Tochter, obwohl sie im sechsten Monat schwanger und erst kürzlich Witwe geworden war, nicht von ihrem Fluchtplan abbringen lassen wollte. So wurde ihr und ihrem Sohn die Überfahrt möglich gemacht. Sollten sie heil in Spanien ankommen, würde sie alles versuchen, um auch ihren Eltern
das Leben zu erleichtern.
Sie wusste nicht, wie lange sie schon durch die gespenstische Nacht gefahren waren; jedes Zeitgefühlt war ihr verloren gegangen. Sie wagte sich nicht zu bewegen, aus Angst, das Boot könnte kippen. Ihr kamen plötzlich Zweifel, ob es richtig war, sich und ihre Kinder so einer Gefahr auszusetzen…Sie wollte doch nur Sicherheit für sich und ihre Kinder und dass ihnen ein besseres Leben ermöglicht wurde. Tränen liefen ihr die Wangen hinab, so viel hatte sich in ihr aufgestaut. Aber sie musste stark sein, ihrer Kinder wegen.
Plötzlich umhüllte greller Lichtschein das Boot und aus dem Lautsprecher
eines Polizeibootes, das plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht war, wurden sie aufgefordert, dem Schiff in den naheliegenden Hafen von Algeciras zu folgen. Sie waren entdeckt worden…
Nichts regte sich auf der kleinen Patera. Fassungslos und still starrten die Flüchtlinge dem Polizeiboot nach, dem sie folgen mussten...War ihr Traum von Freiheit nun vorbei? Angst und Trauer lähmten sie, breiteten sich wie ein Leinentuch über sie aus, als die den Hafen erreichten und aufgefordert wurden, an Land zu kommen. Die Flüchtlinge waren vor Unterkühlung und Erschöpfung kaum in der Lage, das kleine Boot alleine zu verlassen…Einige
folgten zitternd den Sanitätern, andere mussten auf Tragbahren an das Ufer gebracht werden. Fatima hielt Hassan fest auf ihrem Arm und versuchte, die helfenden Hände, die sich ihr entgegen streckten, zu erreichen... Doch sie griff ins Leere ….ihr wurde plötzlich schwarz vor Augen.
Sie erwachte in einem Bett einer provisorischen Krankenstation. Die Schwester eine Afrikanerin reichte ihr lächelnd einen Becher köstlichen Trinkwassers. „Du hast es geschafft!“, sagte sie leise…“Ihr habt es geschafft!“, mit Blick auf Fatimas Sohn und ihren hochschwangeren Leib. „Viele müssen wieder zurück….Sie werden es sicher
irgendwann wieder versuchen…- Ihr könnt bleiben. Ihr werdet hier Hilfe bekommen!“
Fatima schloss, von ihren Gefühlen überwältigt, für einen Augenblick ihre Augen. Zärtlich blickte sie in das Gesicht ihres kleinen Sohnes. Wie ein warmer Frühlingsregen, der ihr Herz wie eine Welle erfüllte, fühlte sie tiefes Glück und Dankbarkeit in sich aufsteigen…sie waren angekommen..
@Sonja Rabaza