Kurzgeschichte von Peter H. Carlan
Ich will euch aus dem Leben meines Vaters berichten, will euch Kenntnis geben von einem ungewöhnlichen Ereignis, das meinem Vater im Jahre 1912 widerfuhr, als der Kaiser noch Wilhelm Zwo hieß und die großen Windjammer noch über die Weltmeere schipperten. Ich will nichts verschweigen und nichts hinzufügen, will kein Seemannsgarn spinnen, ich will die Geschichte meines Vaters so weitergeben, wie ich sie von ihm hörte.
Mein Vater wurde im Juni des Jahres
1899 in einem Fischerdorf in der Nähe von Husum geboren. Er wurde, wie seit Menschengedenken alle männlichen Erstgeborenen unserer Familie, in der nahen Dorfkirche auf den Namen Christer Christiansen getauft.
Sein junges Leben stand unter einem unglücklichen Stern. Schon wenige Monate nach seiner Geburt verstarb seine Mutter. Sie war barfuß zum nahen Strand gelaufen, um auf die Rückkehr unseres Fischerbootes zu warten und war in eine scharfkantige Muschelschale getreten. Sie maß der Verletzung keinerlei Bedeutung bei und verstarb wenige Tage später an einer Blutvergiftung.
Christer hatte seine Mutter nie kennengelernt. Er kannte ihre feinen, sanften Gesichtszüge nur von einem alten, vergilbten Foto, das auf dem Tisch in der Stube stand, aber in seinen Träumen war sie ihm nahe.
Sein Vater trug schwer an dem Verlust seiner geliebten Frau. In der Stube unserer Kate hing der zarte Geruch ihrer Haut, in der Stille der Nacht hörte er sie atmen, im Rauschen des Meeres rief sie ihn beim Namen.
Wenige Monate nach ihrer Grablegung verließ er seine Familie und heuerte als Seemann auf einem der großen
Segelschiffe an.
Noch zweimal, als Christer 6 und als er 9 Jahre alt war, kehrte sein Vater in das vertraute Fischerdorf zurück. Christer erinnerte sich gut an ein von Sonne und Salzwasser gegerbtes Gesicht mit tiefliegenden traurigen Augen, die ebenso blau waren wie die wogenden Wasser der See, wenn sich der blaue Himmel darin spiegelte und an die warme, dunkele Stimme, die sich sacht auf die Wellen der Nordsee legte, wenn sein Vater an Deck ihres Kutters die alten Seemannslieder sang. Die Dreimastbark, auf der er fuhr, soll später vor Kap Horn in einem der
schweren Herbststürme gesunken sein. Man hat nie wieder von ihm gehört.
Der Mai des Jahres 1912 war freundlich. Die Sonne stand schon hoch am Himmel und hatte den Sand der Dünen kräftig erwärmt. Ein leichter, auflandiger Wind kam vom Meer her herauf und strich sanft über das blonde Haar des Jungen, der sich auf dem Kamm einer Düne niedergelassen hatte und mit geschlossenen Augen die wärmenden Strahlen der Sonne genoss.
Christer war 12 Jahre alt, aber bereits in wenigen Wochen würde er 13 werden. Dann würde er die kleine Dorfschule, in
der er Rechnen, Lesen und Schreiben gelernt hatte, verlassen und mit seinem Großvater, einem alten Küstenfischer, hinaus auf die Nordsee auf Heringsfang fahren dürfen. Der Junge sehnte den Tag herbei, denn er liebte die unendliche Weite des Meeres mehr als die Enge des staubigen Klassenraumes.
Mit verschlossenen Lidern stellte er sich vor, wie sie auf dem „Alten Pitter“ die Husumer Bucht an den vorgelagerten Halligen vorbei verließen und draußen auf dem weiten Meer, das bis zum Horizont reichte, die Fischernetze auswerfen und spät abends im Sonnenuntergang mit reichem Fang
wieder in die heimatliche Bucht einlaufen würden.
Nach einer Weile öffnete Christer die Augen, blinzelte, als die helle Sonne ihn blendete, dann blickte er hinaus auf die Nordsee. Andere Jungen in seinem Alter winkten den vorbeifahrenden Fischerbooten zu, Christers Blick aber folgte auch den Möwen am Himmel, die über den Schiffen kreisten, dem schnellen Zug der Wolken oder den Wellenschlag bei Flut, er lauschte dem Glucksen des Wattenmeeres, den Säuseln des Windes oder dem Brausen der Stürme. Er liebt seine See, das Gefühl der Freiheit, wenn sie auf dem alten
Segelkutter dem Horizont entgegen segelten.
Schließlich erhob sich der Junge, klopfte den feinen Sand der Düne aus seiner Kleidung und schlenderte gemächlich zum Strand hinunter.
Jorge Jörgensen, der Dorfschullehrer, war ein großer, hagerer Friese, einer der Menschen, die nicht viele Worte machten, schweigsam, wie der Menschenschlag an der Küste allgemein, aber ein Mann, der geradeaus dachte und auch so redete. Die Bewohner des Dorfes vertrauten ihm und seinem Urteil, denn er hatte neben einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn ein gewisses ausgleichendes Wesen, das ihm half, Streitigkeiten unter den Menschen zu schlichten.
Er galt als strenger, aber ebenso gerechter Lehrer, den die fleißigen Schüler liebten und die weniger fleißigen fürchteten. Christer mochte seinen Lehrer, denn dieser hatte ihn das Lesen gelehrt, und ihm so eine neue Welt erschlossen, die weitaus größer war als das kleine Dorf am Nordseestrand und den küstennahen Fischgründen.
Alles andere aber, all das Wissenswerte über die Vögel der Luft, das Leben im Wattenmeer und über die Fische im Wasser oder über den Wechsel der Gezeiten hatte Christer von seinem Großvater gelernt, von dem die Leute im
Dorf behaupteten, er, der Alte, habe im Laufe seines mehr Zeit auf dem Wasser als am Land zugebracht.
Christers Großvater, der alte Seebär, navigierte nachts nach dem Stand der Sterne, er kannte die Strömungen des Meeres, die Untiefen und all die Gefahren der See im Schlaf, und er kannte die Fischgründe besser als jeder andere Fischer im Dorf, denn der kleinste Schatten an der Wasseroberfläche, der Flug der Vögel oder schon ein leises Rauschen unterhalb des Wellenkamms verriet ihm den Weg der Heringsschwärme.
Jörgensen hatte Christer das Lesen von Büchern gelehrt, sein Großvater hingegen hatte ihn gelehrt, das Meer zu lesen.
Der Dorfschullehrer hatte sich auf den Weg gemacht, um den alten Fischer in seiner abseitig gelegenen Kate aufzusuchen. Die beiden Männer waren grundverschieden, hatten sich aber im Laufe der Jahre zu schätzen gelernt, umso schwerer fiel Jörgensen der heutige Gang, denn das Anliegen, das er dem Alten vorzutragen gedachte, konnte durchaus geeignet ein, die freundschaftliche Verbundenheit wenn
nicht zu zerstören aber zumindest seitens des Alten in Frage zu stellen.
Je näher er dem reetgedeckten ärmlich anmutenden Fachwerkhaus, das sich hinter den Dünen hinduckte, kam, desto langsamer wurde sein Schritt; Jörgensen hatte sogar kurzzeitig darüber nachgedacht, umzukehren. Noch wusste er nicht, wie er dem Freund sein Ansinnen würde nahebringen können und ein unbedachtes Wort im falschen Moment konnte dem grantigen Seebären die Zornesfalten in die Stirn treiben. Dann wäre alles verdorben.
Sein Weg hatte Christer an den Strand der Nordsee geführt. Es war Ebbe, das Wasser hatte sich weit zurückgezogen und mitten im Watt lag trockengefallen ein einsamer Segelkutter.
Es war der „Alte Pitter“, ein einmastiger Ewer mit Gaffeltakelung in der Bauart eines Plattbodenschiffs, dass Christers Großvater vor etlichen Jahren im heruntergekommenen, fast maroden Zustand erworben und in mühevoller, schweißtreibender Arbeit von Grund auf überholt hatte.
Anders als andere Segelschiffstypen verfügte der Ewer nicht über einen Balkenkiel, sondern über ein breites, flaches Unterwasserschiff, so dass er sich, selbst wenn er bei Ebbe auf Grund lief, nicht auf die Seite legte. Zudem konnte der alte Christiansen wegen des geringen Tiefgangs auch bei Niedrigwasser das Wattenmeer vor der Küste befahren. Außenbords war an der Steuerbord- und auch an der Backbordseite je ein Seitenschwert zur Verminderung der Abdrift angebracht. Stolz flatterte eine kleine Flagge am Mast im Wind.
Langsam stapfte Christer übers Watt auf das Schiff zu. Der Schlick war feucht und die Füße des Jungen hinterließen eine einsame Spur.
Endlich hatte er den Kutter erreicht. Behände kletterte er an Bord. Er überprüfte sorgfältig die beiden Anker, denn in zwei Stunden würde die Flut einsetzen, dann ließ er sich am Heck nieder und blickte in die endlose Weite der Nordsee hinaus, träumte wie so viele Jungen in seinem Alter von einem Leben als Freibeuter der Meere, als furchtloser Pirat auf dem „Alten Pitter“,
dem Schrecken der Kauffahrer, von dessen Mast die Totenkopfflagge grüßte, wohl wissend, dass der alte Kahn zu langsam und schwerfällig war, um im Gefecht mit den großen Windjammern bestehen zu können.
Der Tag war schon fortgeschritten und Christer spürte eine leichte Müdigkeit in sich aufsteigen. Schließlich öffnete er die Luke zum Niedergang, stieg hinab in kleine Kajüte und legte sich in seine Koje. Schnell nickte er ein.
Christers Großvater saß derweil auf der Bank in dem kleinen Garten und prüfte gewissenhaft die Maschen des Fischernetzes auf schadhafte Stellen, die er mit geübten Fingern neu verknotete.
Im Gegenlicht der untergehenden Sonne sah er den Besucher schon von weitem. Er legte das Netz beiseite, nahm seine Meerschaumpfeife, die griffbereit auf der Fensterbank lag, zog den ledernen Tabakbeutel aus der Tasche seiner Latzhose, stopfte etwas Tabak in den Pfeifenkopf und setzte dann den Tabak
mit einem Streichholz in Brand.
Gemütlich schmauchend wartete er auf die Ankunft des Lehrers, der gemeinhin mit schnellem, ausgreifendem Schritt den Weg herauf kam, diesmal jedoch auffallend langsam ging, einmal, zweimal kurz innehielt, sich umblickte, als wolle er umkehren, um schließlich doch seinen Weg zur Kate des Fischers fortzusetzen.
„Moin, moin, Dorfschullehrer!“ begrüßte Christers Großvater den Ankömmling, als dieser die Gartenpforte erreicht hatte. Jörgensen erwiderte den Gruß höflich und ging, zögerlicher als gewöhnlich,
auf den Alten zu, der auf der Bank etwas zur Seite rückte, um seinen Gegenüber Platz anzubieten. Jörgensen setzte sich, zog seinerseits die Pfeife aus der Brusttasche seines alten karierten Jacketts und versuchte ein Schwefelhölzchen zu entflammen, das jedoch vom kühlen Abendwind gelöscht wurde. Erst im zweiten Anlauf, als der Lehrer die Flamme geschützt in seiner hohlen Hand an den Pfeifenkopf geführt hatte, gelang es ihm, den Tabak zu entzünden und nach einigen tiefen Zügen blies er den Rauch in den Abendhimmel.
„Abends kühlt es ab.“ sagte er knapp und
der Alte nickte. Eine kurze Weile saßen sie stumm beieinander, dann zeigte Christers Großvater mit dem Pfeifenhals in Richtung Sonnenuntergang.
„Siehst du die kleinen Wölkchen, Jorge, morgen gibt´s eine feine Segelbrise, dann geht´s mit dem „Alten Pitter“ wieder hinaus.“
Dann saßen sie wieder schweigend da und genossen in Ruhe ihr Pfeifchen.
„Da hast dich doch nicht auf den Weg gemacht, um dich mit mir über das Wetter zu unterhalten, Jorge!“ stellte der alte Fischer schließlich fest.
Jörgensen schüttelte den Kopf, aber er schwieg.
„Irgendetwas bedrückt dich, alter Freund. Aber komm erst mal herein. Ein klarer Korn lockert die Zunge.“ meinte Christers Großvater und führte den Gast in die Kate. Sie setzten sich an den Tisch in der Stube. Der alte Fischer legte einige Holzscheite in den Kamin und steckte sie in Brand. Als das wärmende Feuer loderte, stellte er eine Flasche mit selbstgebrannten Korn auf den Tisch, schenkte zwei Gläser ein, und fuhr dann fort zu fragen: „Nun mal raus mit der Sprache. Was treibt dich zu
mir?“
Jörgensen stürzte den Korn ein einem Zug herunter, dann nahm er seinen ganzen Mut zusammen und sagte: „Unser Dorf braucht einen Arzt.“ „Das stimmt, Dorfschullehrer,“ erwiderte der Fischer, „aber ich bin dafür wohl zu alt.“
Jörgensen nickte. Dann ließ er langsam die Katze aus dem Sack. „In wenigen Wochen wird Christer unsere Dorfschule verlassen ...“
Weiter kam er nicht, denn der Alte
unterbrach ihn abrupt. „Der Junge wird Fischer, so wie alle Christiansens. Er kennt das Meer schon heute besser als viele andere aus dem Dorf. Er liebt die See. Schlag dir das ganz schnell aus dem Schädel, Jorge.“
„Christer hat einen klugen Kopf auf seinen Schultern. Er ist der beste Schüler meiner Schule. Er ist gewissenhaft und fleißig. Ich möchte, dass er die weiterführende Schule in Husum besucht, dass er studiert und dass er als Arzt in unser Dorf zurückkehrt.“
„Christer ist auf See groß geworden. Tagein,
tagaus ist er mit mir hinausgesegelt, das Leben auf dem Wasser ist Freiheit – die Enge eines Studierzimmers wäre ein Gefängnis für ihn. Nein, Dorfschullehrer, für nichts in der Welt würde der Junge seine Freiheit aufgeben wollen.“
„Wenn wir einen Arzt im Dorf hätten, könnte deine Frau noch leben, Christiansen. Und Christer, er hätte noch seine Mutter.“
*
Der Schrei der Möwe weckte Christer. Er fuhr hoch in seiner Koje. Die Öllaterne auf dem Tisch warf nur ein gespenstisch mattes Licht in die Kajüte des „Alten Pitter“, der leicht schwankend nahe der Küste vor Anker lag. Alles war ruhig, nur gelegentlich schlugen die Wellen der Nordsee leise gegen die Planken des Kutters. Christer stieg aus seiner Koje und begab sich zum Niedergang. Langsam stieg er die schmalen Stiegen hinauf, öffnete vorsichtig die Luke und blickte beunruhigt in die Nacht. Längst hatte die
Flut eingesetzt.
Das Meer war schwarz, es lag wie ein blanker Spiegel vor ihm, und ebenso schwarz wie das Meer war der Nachthimmel, nur leicht erhellt von einem fahlen Vollmond, der sich dem Horizont nahe im Wasser spiegelte.
Vom Land her, dort wo hinter den Dünen das Dorf lag, trieb eine einzelne Nebelschwade auf das Wasser hinaus und näherte sich dem einsamen Schiff. Stille, atemlose Stille lag über der See, kein Windhauch glitt mehr über die schwarzen Wasser.
„Hab keine Furcht, Christer!“ flüsterte eine Stimme aus dem Nebelstreif, ,,hab keine Furcht.“
Aus dem lichten Nebelstreif trat eine Gestalt heraus. Sie trug einen dünnen, weißen Umhang über weißem Haar und schmalen Schultern und ein weißes, ärmelloses Sommerkleid aus Leinen.
Und: es schien als habe der Nebelstreif die Gesichtszüge seiner Mutter aus dem Bildnis angenommen.
„Mutter?“ fragte Christer und seine Augen leuchteten im Mondlicht.
„Oh, Christer, „ sagte die Stimme sanft, „ich habe mich so nach dir gesehnt, wie lange ist es her, dass ich dich in meinen Armen hielt, komm her zu mir.“
Furchtlos ging Christer der Gestalt entgegen und glitt willig in ihre ausgebreiteten Arme. Er spürte ihre Nähe, die Wärme ihres Herzens.
„Auch ich habe mich alle Tages meines Lebens nach dir gesehnt, Mutter. Warum nur bist du von mir gegangen?“
„Der Tod, mein Junge, ist stark. Er - hat mich dir genommen.“
„Aber nun bist du zurück. Bleibe bei mir. Du darfst mich nie wieder verlassen.“
„Uns ist nur dieser kurze Augenblick vergönnt, Christer, behalte ihn in deinem Gedächtnis. Die Liebe, die unsere Herzen verbindet, kann der Tod nicht zerstören. Aber seine Macht ist groß. Wenn der Schrei der Möwe ein weiteres Mal ertönt, werde ich gehen müssen. Aber vergiss nicht: Solange du mein Bild in deinem Herzen trägst, werde ich bei dir sein.“
Kaum hatten die leisen Worte ihre
Lippen verlassen erglühte ein kurzes Elmsfeuer über dem Mast des „Alten Pitter“, huschte über Christer hinweg, glitt über die Leinen und Taue hinunter zur Reling und fuhr hinab in die Tiefe des Wassers.
Und der Schrei der Möwe erklang ein zweites Mal.
Christer sah sich um. Noch eben hatte er in den Armen seiner Mutter gelegen, sich an sie geschmiegt, nun stand er mutterseelenallein auf dem hölzernen Deck des Segelkutters.
„Ich werde dich nie vergessen, Mutter!“ rief Christer mit Tränen in den Augen in die Nacht hinaus und leise fügte er hinzu: „und ich werde dein Bild für immer im Herzen tragen!“
*
Jörgensen ließ nicht locker. „Die Menschen im Dorf brauchen einen Arzt. Sie wollen aber keinen überkandidelten Quacksalber aus der Stadt, sondern einen Menschen, den sie kennen, dem sie vertrauen können. Christer könnte das eines Tages sein.“
Doch der Großvater wollte nicht nachgeben. Es wand sich wie ein Aal in der Reuse, führte auch das Schulgeld an, die Kosten des Studiums, und das Christer ihm auch wegen seines Alters auf Dauer eine unentbehrliche Hilfe auf
See sei.
„Der Junge hat mich, er hat alles, was er zum Leben braucht, Freiheit, Salzwasser unter den Planken seines Schiffes, Luft zum Atmen. Er wird all das nie aufgeben. Er wird mit mir zusammen auf dem „Alten Pitter“ auf Fischfang gehen. Das ist mein letztes Wort! Punktum.“
Er sprach´s und knallte die Flasche mit dem selbstgebrannten Korn so heftig auf den Tisch, dass das Glas splitterte.
*
Christer stand zitternd am Bugspriet des „Alten Pitters“.
- Großvater,- dachte er, -ich muss es Großvater erzählen, was ich soeben erlebt habe. -
Dann riss er sich das Hemd vom Leib, sprang über die Reling des Kutters und schwamm mit kräftigen Zügen dem Land zu bis er Grund unter seinen Füßen spürte. So schnell ihn seine Beine trugen lief er der heimatlichen Kate entgegen durch die Nacht.
*
Christers Großvater stand mit der zersplitterten Flasche am Tisch, als die Tür aufgerissen wurde.
Christer stürzte herein, triefend vor Nässe, atemlos und schreckensbleich stand er im Türrahmen, keuchend brach es aus ihm heraus:
„Ich habe meine Mutter gesehen.“
*
Während der alte Christiansen den Jungen mit einem Leinentuch trockenrieb berichtete Christer stockend, was er auf dem „Alten Pitter“ erlebt hatte. Als er geendet hatte, blickten der alte Fischer und Jörgensen sich ungläubig an.
„ Ich weiß nicht, was du gesehen hast, Christer, aber deine Mutter ist vor vielen Jahren gestorben. Vielleicht hat dir deine Fantasie einen Streich gespielt.“ bemerkte Jörgensen und Christers Großvater ergänzte:
„Die Toten kehren nicht zurück, aber sie leben in unserer Erinnerung weiter.“
„Ich habe sie genau erkannt. Es war Mutter.“ rief Christer und zur Bekräftigung seiner Worte wies er auf das Bild seiner Mutter, das auf dem Tisch der Stube stand.
Doch die Gesichtszüge auf dem Foto waren verblasst.
Stumm blickten die drei auf das gesichtslose Bild bis Christer die Stille brach:
„Ich will einmal Doktor werden.“
Überrascht starrte Jörgensen in das Gesicht seines Freundes. Er erwartete ein Donnerwetter oder zumindest eine scharfe Zurechtweisung, denn während ihrer Unterhaltung hatte der alte Seebär ihm wieder und wieder versucht zu erklären, dass er zusammen mit dem Jungen auf dem „Alten Pitter“ auf Heringsfang gehen wolle und mit jedem Wort die Christers Liebe zur See beschworen.
Nun aber zog der Alte den Jungen an sich, drückte ihn an seine Brust, und sagte, während ihm die Tränen über das faltige Gesicht liefen, nur einen Satz:
„Wie du es willst, mein Junge.“
Und so geschah es. Christer besucht die höhere Schule, studierte und kehrte schließlich als Arzt in unser Dorf zurück.
*
Noch im hohen Alter von fast 90 Jahren hat mir mein Vater bestätigt, er habe seine Mutter getroffen. Selbst auf dem Sterbebett sagte er mir mit ausgehendem Atem:
„Du musst mir glauben. Ich habe sie gesehen. Ich habe ihre Wärme, ihre Liebe gefühlt.“
Er sah mich an, drückte noch einmal schwach meine Hand, dann schloss er die Augen und schlief ganz ruhig ein.
Das alte, vergilbte Foto steht nun auf
meinem Schreibtisch. Seit Vaters Tod zeigt es wieder das Bildnis seiner Mutter. Er hatte es zeitlebens im Herzen getragen.
- ENDE -
© Peter H. Carlan 2014