Günther
Es war einmal ein Tannenbaum. Er war klein, nicht besonders fein und ohne Namen. Stand allein in einem von anderen Bäumen dicht besiedelten Wald. Jeden Tag sah er sich um, der kleine, unfeine, namenlose Tannenbaum und merkte wie unterlegen er doch den anderen war. Selbst seine kleinen Brüder waren hübscher anzusehen als er. Immer wenn er an sich heruntersah konnte er nur die Äste schütteln und die Augen wieder schließen, um dieses für ihn so furchtbare Bild nicht mehr sehen zu
müssen. Tag-ein-Tag-aus dachte er darüber nach, wie er sein Aussehen nur verändern könnte. Zuerst versuchte er es mit einer Diät, doch ehe der kleine, unfeine und namenlose Tannenbaum sich versah, sah er schlimmer aus als zuvor. Und das Rascheln der Bäume um ihn herum verriet, dass sie genauso dachten wie er selbst. So kam es, dass der kleine, unfeine, namenlose Tannenbaum sich immer unwohler in seinem Stamm fühlte und als wären seine hinunter hängenden Äste nicht schon Last genug, kam auch noch der Winter, der seinen gesamten Körper austrocknen, sowie das Grün seiner Nadeln allmählich verblassen ließ. Und mit dem Winter kam die
Weihnachtszeit. Eine Familie nach der anderen tauchte auf, stapfte lachend durch den Schnee. Jede von ihnen blieb vor dem einen oder anderen Baum stehen, beratschlagte sich kurz und schlug dann den größten und schönsten Baum, der noch stand. Obwohl der kleine, unfeine und namenlose Tannenbaum wusste, dass er keiner Familie gefallen würde, hoffte er doch tief in sich drin, dass ihn endlich jemand mitnehmen würde. Der Wald wurde kahler und kahler bis zuletzt nur er noch übrig war. Es waren nur noch 5 Tage bis Heiligabend und er stand immer noch allein im Schnee, dem Wind bis auf die Wurzeln ausgesetzt. Da kamen zwei
Männer herauf und schauten sich verwundert um. Sie hatten wohl mehr als nur einen kleinen zerrupften Baum erwartet. Nachdem sie begriffen hatten, dass es wirklich nur noch diesen einen Tannenbaum gab, traten sie näher und betrachteten den kleinen, nicht besonders feinen und namenlosen Tannenbaum näher. Sie diskutierten lange und hatten sich bereits halb abgewandt als sich einer von den beiden auf einmal umdrehte, mit der Axt ausholte und den Tannenbaum abschlug. Hätte der kleine, unfeine, namenlose Tannenbaum weinen können, so hätte er es wohl aus lauter Freude getan. Egal was kommen würde, alles war besser als alleine auf einer
großen Lichtung zu verenden. Und als der Tannenbaum, den niemand wollte, in die Geschichte einzugehen. Die beiden Männer trugen ihn fort und er begab sich auf eine lange Reise, von der er das meiste schnell vergaß, raste doch alles ungewohnt schnell an ihm vorbei.
Als er wieder richtig zu sinnen kam, fand er sich auf einem kalten Steinboden wieder, um ihn herum war es dunkel. Zunächst war der Tannenbaum erschrocken, doch als aufgeregte Stimmen ertönten, beruhigte er sich wieder, wohl wissend, dass auch er den Weg zu einer Familie gefunden hatte.
Und es dauerte auch gar nicht lange, da wurde er erneut hoch gehoben und stand
bald auf einem Sockel, hoch über dem Boden. Es war warm um seine Äste und jede seiner Nadeln erfasste ein süßlicher Duft, der ihm ganz und gar unbekannt war. Ehe er sich jedoch näher mit diesem Mysterium auseinandersetzen konnte, wurde seine Aufmerksamkeit anderweitig in Beschlag genommen. Einige Menschen hatten sich um ihn herum aufgebaut und beäugten ihn nun kritisch. Unter ihnen war keiner der beiden Männer und der kleine, unfeine, namenlose Tannenbaum wusste nicht, ob er sich recken und ins bestmögliche Licht stellen oder besser verstecken sollte. Ob er wollte oder nicht, er musste sich mit anhören wie einer nach dem anderen an seinem
Aussehen herum mäkelte. Zu klein, zu undicht, nicht schön gewachsen, nächstes Jahr wollen wir einen anderen. Es tat ihm weh, das zu hören, so weh, dass er fast die Worte überhört hätte, die ihn aus seinem Elend heraus holen sollten. „Also, ich finde, er hat was, er ist irgendwie einzigartig und ganz hübsch“. Wie Wasser sog der kleine, unfeine, Tannenbaum diese Worte in sich auf. Es war das erste mal, dass jemand solche Worte an ihn richtete und er konnte sich sicher sein, dieses Menschlein mochte ihn. „Ich finde wir sollten ihm einen Namen geben. Wie wäre es mit Günther?“ Der Tannenbaum glaubte sich verhört zu haben, wie konnte er so
einzigartig sein, dass man ihm sogar einen Namen gab? Den Rest der Diskussion unter den verschiedenen Familienmitgliedern bekam er nicht mehr mit, wusste nur, dass er nun ganz sicher Günther hieß und von allen so genannt wurde. Dieses Erlebnis veränderte den Tannenbaum total. Er erlebte wunderschöne Weihnachtstage mit einer wundervollen Familie. War dabei wenn sie sangen, wiegte dabei sanft im Takt mit, so dass es niemand merkte und lauschte gespannt, wenn wieder eine Geschichte vorgelesen wurde. Er erfuhr was es bedeutet, teil einer Gemeinschaft zu sein und dass die Liebe wirklich existierte. Zugleich merkte der Baum
aber auch, wie er immer schwächer wurde, seine Nadeln erst braun wurden und dann nach und nach abfielen. Irgendwann war die Zeit gekommen und er musste Abschied nehmen. Draußen am Straßenrand stehend hörte er wie sich die anderen Weihnachtsbäume miteinander unterhielten. Sie beklagten sich über den schweren Schmuck, den ihre Äste hatten tragen müssen, das andauernde Geschreie und die Ignoranz mit der sie behandelt worden waren.
Da konnte der Tannenbaum nur leise in sich hinein lächeln. Er hatte es gut gehabt, nur leichte Papiersterne hatten an seinen Ästen gehangen, er hatte einen Namen erhalten und die Verbundenheit
der Familie gespürt. Allein dafür hatten sich im Nachhinein die Jahre voller Unsicherheit und Scham gelohnt. Nun fühlte er sich in jeder einzelnen Zelle seines Körpers wohl, vom Stamm bis in die äußerste Nadel und von den Wurzeln bis zur Spitze. Er hatte nicht nur gelernt sich selbst zu lieben, sondern auch was es hieß, eine Familie zu sein und zusammen Weihnachten zu feiern. Bis zu seinem Ende behielt der Tannenbaum sein Lächeln und wer weiß vielleicht wird ein Teil von ihm wieder zu der Familie zurückkehren, der er all das zu verdanken hat.
Dies ist die Geschichte, wie aus dem kleinen, unfeinen und namenlosen Tannenbaum, der große, famose und einen Namen tragende Günther wurde.