Während ich aus dem Fenster schaute und den dicken Schneeflocken zusah, wie sie still und heimlich die Blumen und Büsche bedeckten, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, was mir früher Heimat bedeutete.
Geboren wurde ich in einer malerischen, anheimelnden Kleinstadt, in einem Tal gelegen, umrandet von Tannen- und Mischwäldern die sich an den Berghängen entlang zogen. Um dieses Städtchen schlängelte sich die Ruhr, ein ruhiger Fluss, der doch einen Stadtteil vom Rest teilte. Irgendwann hatte man einen Stausee mit einer Staumauer angelegt und über diese Brücke mussten wir immer, um meine Großeltern zu
besuchen. Dort verbrachte ich meine ersten acht Lebensjahre, den glücklichsten Teil meiner Kindheit. Damals, gut behütet und in einer intakten Familie aufwachsend, wurde sicher der Grundstein für mein jetziges Ich gelegt.
Jedes Mal, wenn ich, wie gerade jetzt, aus dem Fenster schaue, dabei den Schneeflocken träumend nachblicke, stellen sich mir sofort die Erinnerungen an die damalige Winterzeit ein. Damals kannte ich nur Winter mit Schnee, der mir als Kind manchmal bis an die Hüfte reichte.
Unweit unserer Wohnsiedlung gab es
eine Weide in Hanglage, die unten an einem Wäldchen endete und im Winter als Rodelbahn genutzt werden durfte. Tagsüber fuhren wir Kinder mit unseren Schlitten und am frühen Abend gesellten sich unsere Väter dazu. Auch an manche Abende erinnere ich mich, wo uns unsere Oma beaufsichtigte, weil sich auch die Erwachsenen dort im Schnee tummelten, jedenfalls nach ihren Erzählungen.
Kurz vor der Schlafenszeit erzählte sie meinen Geschwistern und mir Märchen oder las uns vor.
Auch an die anderen Jahreszeiten, denke ich gern zurück, in denen die Familie vieles gemeinsam unternahm, wie die sonntäglichen Spaziergänge entlang der
Ruhr.
Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals weit fahren mussten, um die Verwandtschaft zu besuchen. Immer, wenn ich heutzutage in diesem Städtchen (heutzutage leider eingemeindet) oder in seiner Umgebung Verwandte besuche, plane ich immer Zeit ein, nur damit ich besondere Orte aufsuchen kann. Nicht nur, um in Erinnerungen zu schwelgen, sondern weil sie mir irgendwie am Herzen liegen, ich mich dort besonders wohl fühle.
Zu meinem Erstaunen hat sich seit unserem Umzug im Jahr 1971, in den für mich interessanten und bekannten Bereichen an den Äußerlichkeiten wenig
geändert. Sicherlich haben Inhaber und Geschäfte gewechselt, aber das Flair ist geblieben.
Bei unserem letzten Besuch zeigte ich meiner Tochter die Straße und das Gebäude, in dem wir damals gelebt hatten. Zwar waren inzwischen teilweise Wiesen und Felder durch Wohnsiedlungen ersetzt worden, aber den Bauernhof hinter unserem Wohnhaus, nur noch durch eine Ausfallstraße getrennt, den gab es noch. Kopfschüttelnd entdeckte ich, als wir im Wendekreis parkten, ein kleines uraltes, aber noch immer gut lesbares Schild „Betreten des Rasens verboten“. Ich musste so lachen, dass mich meine Tochter fragte
„Was gibt es zu lachen?“
Ich zeigte auf das Schild und meinte:
„Wir haben uns damals schon nicht daran gehalten, hoffentlich auch die Kinder heutzutage nicht“.
Ich besuche immer wieder sehr gerne meinen Geburtsort, denn auch die Menschen sind offen und herzlich. Nach unserer Umsiedlung nach E...., wo meine Eltern ein Eigenheim gebaut hatten, verbrachte ich dort den Rest meiner Kindheit. Mit Anfang Zwanzig übersiedelte ich in die Schlossstadt Brühl, in welcher ich mich vierzehn Jahre wohl fühlte, kehrte jedoch im Jahr 2003 nach E..... zurück, aber nur, weil
wir uns dort unser so genanntes kleines Paradies errichteten.
Bei meinen Gedankengängen, was mir meine Heimat oder der Geburtsort noch bedeuten, wo genau meine Heimat ist , und ob ich sie überhaupt brauche, kam ich zu folgendem Schluss:
Für mich bedeutet Heimat, dass diese nicht direkt an einen Ort, eine Stadt gebunden ist, denn dort, wo ich glücklich und zufrieden leben kann, empfinde ich dies als Heimat. In all meinen Stationen der Orte, in denen ich lebte, fühlte ich eine Verbundenheit, sicher auch durch das Umfeld. Heimat bedeutet für mich
nicht unbedingt meine Geburtsstadt, denn das Licht dieser Welt hätte ich überall erblicken können. Aber unsere Verbundenheit zu den Menschen, die wir gern haben, und zu unserem persönlichen Umfeld sagt viel mehr aus.