Silvester.
Wir feiern in diesem Jahr bei meiner Tochter, heißt bei meiner Lütten. Sie hat definitiv die Wohnung, von der man das gesamt südliche Berlin überblicken kann. Aus der 20.Etage des Hochhauses in Lichtenberg sollte doch mal ein ordentliches Feuerwerk zu sehen sein.
Mein Sohn hat sich ausgeklinkt. Er hat morgen früh Dienst. Rettungsassistent bei der Feuerwehr, die Schnapsleichen aufsammeln. Armer Kerl. Also nichts mit feiern.
Mein Mann hat keine Lust mit drei durchgeknallten Weibern in einer Einraumwohnung auf das neue Jahr zu warten.
So sind wir allein, Brunhilde, eine Bekannte
aus Brandenburg, meine Tochter und meine Wenigkeit.
Der Fernseher läuft auf voller Lautstärke, damit auch keiner unser schiefes Mitsingen hören kann. Das ist dann aber auch schon der einzige Lärm, den wir machen. Wir sind seeeeehr gesittet.
In der Küche steht ein kleines Buffet mit herzhaften Sattmachern, süßen Leckereien und diversen Knabbereien. Die Bar weist jede Menge anti-alkoholische Getränke auf. Außer, dass wir alles in uns rein stopfen, was das Buffet zu bieten hat und lauthals singen, sitzen wir brav vor unseren Laptops und sind munter im Netz unterwegs. Na gut, manchmal wackelt die Couch ganz schön, weil wir schunkeln und sitzend im Rhythmus mit
müssen. Aber sonst, wie gesagt.
Ich chate mit ein paar mir sehr lieben Leuten bei myStorys. Die sind wohl auch mehr oder weniger allein zu Hause. Traurig aber wahr. Aber wenn ich ehrlich sein soll, ich bin froh, dass sie hier sind. Hier bei mir.
Wenn heute nicht Silvester wäre, würde ich höchstwahrscheinlich an der StoryBattle schreiben oder an der ForumsBattle. Manchmal frage ich mich schon, warum ich das mache. Natürlich um mich mit anderen zu messen, zu sehen, wie gut beziehungsweise schlecht ich wirklich bin, um ein Feedback meiner Leser zu bekommen.
Meine Leser. Wie sich das anhört.
Vor einem dreiviertel Jahr hätte ich noch nicht
einmal im Traum daran gedacht, irgendjemanden mein Geschreibsel zu zeigen. Damals habe ich mit meinem ersten Buch angefangen und dies nur meiner Tochter gezeigt. Als diese dann der Meinung war, man könne das ja ins Internet auf Fanfiction oder in einem Blog einstellen, dachte ich noch: 'Die spinnt wohl.'
Aber wie Kinder so sind. Sie lassen einfach nicht locker und so bin ich dann bei myStorys gelandet. Ich und Internet, das ist wie das Schwein im Uhrwerk oder die Kuh auf dem Eis.
Mühselig habe ich mich da durchgekämpft, hab mich mit diesem und jenen angelegt. Das ganze mit dem Ergebnis, ich bin die Neue, ergo die Doofe und muss mich den anderen
unterordnen. Kurz bevor ich schon aufgeben wollte, kamen die ersten positiven Resonanzen auf meine eingestellten Kapitel.
Wenn meine wenigen Leserinnen mir geschrieben haben: 'Mir gefällt dein Schreibstil. Du schreibst ausdrucksstark, ich hoffe noch ganz viel von dir zu lesen. Ich wünsche dir mehr Leser für dein Buch. …', dann geht das schon runter wie Öl und ich habe mich gefreut, wie ein kleiner König. Königin.
Sollte es wirklich möglich sein, dass ich schreiben kann? Vor allem, dass andere dies auch lesen wollen und das noch dazu klasse finden. Ich habe weitergeschrieben. Immer wieder gespannt, aufgeregt. Ich bin seither nicht mehr von meinem Laptop
weggekommen. Ich habe das erste Mal an einem ForumsBattle teilgenommen und hatte gleich einen Durchmarsch aufs Siegertreppchen. Unfassbar. Total happy.
Ich begann an den verschiedenen Spielchen im Forum teilzunehmen. Schließlich sollten mich ja viele Mitglieder von myStorys kennen lernen.
Was soll ich sagen. Habe ich vorher meine gesamte Aufmerksamkeit dem Facebook zuteil werden lassen und anderen Spielplattformen, so besaß mein Laptop von fort an nur noch eine Internetseite.
MyStorys.
Da lernte ich, was ein Drabble ist und versuchte mich auch gleich daran.
Erfolgreich.
Ich nahm an einem Projekt „30 Tage – 30 Briefe“ teil. Erfolgreich.
Ich suchte ständig nach Herausforderungen. Meine Bücher, die Schätze meiner häuslichen Bibliothek blieben unangetastet.
Hatte ich doch hier genug zu lesen. Ich las mich durch alle Neuerscheinungen und hinterließ hin und wieder einen Kommentar, ein paar Coins oder favorisierte eines der Bücher. Abonnierte „Schreiberlinge“. Markierte mein Revier. Machte mich bekannt. Dann geschah etwas mit mir, in mir, um mich herum. Ein total neuer "Bekanntenkreis“ tat sich mir auf.
Niemals im Leben hätte ich mit so etwas gerechnet.
Jetzt sitze ich sogar an Silvester vor dem
Laptop und bin in myStorys unterwegs. Ich glaube, ich kann gar nicht mehr ohne.
Hier habe ich auch Brunhilde kennengelernt. Es war wie eine Fügung des Schicksals. Nicht nur, dass wir beide hier schreiben. Nein. Wir haben auch ähnliche Erfahrungen mit dem männlichen Geschlecht vorzuweisen. Brunhilde. Bei dem Gedanken umspielt ein wehmütiges Lächeln meinen Mund.
Ich schiele vorsichtig zu ihr hinüber und sehe, wie sie glücklich „Du hast mich tausend Mal belogen, du hast mich tausend Mal verletzt, ich bin mit dir so hoch geflogen ...“ von Andrea Berg mit schmettert.
Ich muss lachen und dann denke ich zurück, als ich Brunhilde das erste Mal getroffen hatte. Sie sah mich und meinte, du bist die,
der ich meine Geschichte erzählen möchte, will und muss. Ich war ganz erstaunt.
Warum ich? Will ich das hören?
… und noch ehe ich etwas einwenden konnte, begann sie zu erzählen.
Weißt du, ich bin in einem behüteten Elternhaus aufgewachsen. Vielleicht zu behütet. Ich fühlte mich einfach nur eingezwängt zwischen den vielen Vorschriften, Pflichten und möglicherweise auch Elternliebe. Alles was ich wollte, war ausbrechen aus diesen Verhältnissen. Nur wusste ich nicht wie. Dann traf ich IHN. Er wollte mich und ich sah endlich meine Chance, mein eigenes Leben zu leben. Es störte mich nicht, dass er trank, dass er
bereits mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, dass er dies und jenes Zipperlein hatte. Ich sagte mir, wenn er mit mir zusammenlebt, dann wird sich das sicherlich ändern. Ganz sicher. Es hat sich geändert. Er trank nicht mehr jeden Abend, sondern er wurde zum Quartalssäufer. Dann jedoch soff er bis zur Bewusstlosigkeit, bis er einfach umkippte. Ich habe ihn liegen lassen. Nach solchen Momenten beteuerte er mir stets, wie sehr er mich doch lieben würde. Wann hat mir das mal einer gesagt? Also klammerte ich mich an diesen dünnen Strohhalm und sah darüber hinweg. Er tat mir leid und so habe ich ihn nicht verlassen. Dann kamen unsere Kinder und die liebten ihren Papa. Heute fragen sie sich wieso? Aber damals, als sie noch klein
waren ... und ich habe ihn nicht verlassen. Im Laufe der Jahre habe ich mir ein dickes Fell wachsen lassen. Ich habe die familiäre Harmonie über alles gestellt. Ich hatte meinen Vollzeitjob, die Kinder, den Haushalt und den Mann, mit dem mich außer dem gemeinsamen Namen, der Wohnung und den Kinder nichts verband. Mein Mann hatte seine Arbeitslosigkeit und ich habe ihn nicht verlassen. Jeder lebte sein Leben, in dem ich mich Stück um Stück selbst aufgab und er sich Stück um Stück mehr gehen ließ. Okay, er trinkt nicht mehr, das Geld war knapp, auch wenn er jetzt wieder einen Job hat, aber ... Hm. Von allem was mich ausmachte, wofür ich lebte, ist mir nur der Mann geblieben. Der Job ist weg, ich trauere ihm nicht nach. Die
Kinder sind aus dem Haus. Die besten Jahre … vergeudet. Nun sitze ich hier und heule mich bei dir aus.
Warum?
Das was ich dir bisher erzählt habe, ist nicht das Schlimmste. Ich habe jemanden kennengelernt. Ich war hin und weg. Mit ihm konnte ich reden, schreiben, wir hatten so viele Gemeinsamkeiten. Und dann ... beim letzten Treffen erzählte er mir … Ich habe nicht mehr zugehört. Es war wie ein Déjà vu. Ich sah ihn an und hatte urplötzlich das Gefühl, meinen Mann vor mir sitzen zu haben, nur um zwanzig Jahre jünger. Alles von vorn? Es ist nicht so, dass ich ihn nicht mehr mag. Es ist einfach …
Was soll ich tun? Mit wem kann ich reden?
Fange ich wieder an, alles in mich hineinzufressen? Wer hätte wohl Verständnis für mein Handeln?
Vom Regen in die Traufe.
Eine Rakete fliegt dicht an unserem Fenster vorbei und holt mich zurück in die Realität. Ich schrecke zusammen und hätte beinahe den Sekt verschüttet, den meine Tochter nach geschenkt hatte. Ganz unter uns, es ist nur „Kindersekt“. Lächelnd proste ich den beiden zu.
Mittlerweile ist es kurz vor Mitternacht. Schnell schreibe ich noch ein paar Neujahrsgrüße, um diese dann Punkt 24:00 oder 0:00Uhr an mir besonders liebe Menschen zu verschicken. Mit unseren
Sektgläser stellen wir uns ans Fenster, um zu sehen, wie viele Euro die Berliner in den Himmel schießen. Der Nebel hat sich mittlerweile auch etwas gelichtet und so sind jede Menge Raketen in den Nachthimmel unterwegs. Es hat schon was, wenn man sich an den Feuerwerken der anderen erfreuen kann. Ein Schmunzeln huscht bei diesem Gedanken über mein Gesicht.
Doch plötzlich wird meine ganze Aufmerksamkeit in eine ganz andere Richtung gezogen. Da redet doch wer. Ich muss einfach lauschen, ob ich will oder nicht.
„... da hat sie doch das ganze Jahr vergeudet, nur an ihrem Laptop gesessen und gespielt und gespielt und gespielt. Zum Glück hat sich
nichts geändert. Kein Häkchen an ihre guten Vorsätze. Fantastisch. Ganz fantastisch.“
„Oh nein, mein Freund. Sie schreibt jetzt bei myStorys. Nichts mehr mit Gameduell und Facebook und Co. Sie schreibt sich jetzt ihren Frust von der Seele ...“
„Ja leider. Aber zum Glück hat sich ja an ihrem Lebenswandel nicht geändert. Ha … von einer Sucht in die andere ... Was kann schöner sein?“
„Aber sie hat jetzt einen ganz neuen Bekanntenkreis. Sie kann sich austauschen mit anderen Hobby-Autoren ... und es macht ihr Spaß ...“
„Oh ja! Das glaub ich gern. Ständig hascht sie nach neuer Anerkennung und ist frustriert, wenn sie keine Aufmerksamkeit bekommt.
Und diese Typen, die sie da kennengelernt hat ... ha ha ha ... Da passt einer besser als der andere zu ihr ...“
„Die hat da keinen richtig kennengelernt. Sie schreibt doch nur in diversen Spielen mit ihnen.“
„Doch, doch. ... und einer ist ihrem Mann so ähnlich ... ha ha ha. Kann den Alten in den Wind schießen und nimmt sich den Jüngeren ...“
„Nun ja wenn sie da einen besonders mag. Warum nicht. Sie hat doch ein wenig Glück verdient.“
„Genau. Wenn sie ihn doch mag ... ha ha ha … der hat den gleichen Beruf, die gleiche Vergangenheit, die gleichen Wehwehchen und sieht auch noch fast genauso aus wie der
Alte, den sie schon hat. ... Was hat sie doch für ein Glück.“
„Warum auch nicht? Sie chaten gelegentlich nur miteinander. Sie scheinen sich zu verstehen. … und schließlich weiß sie, was sie will ...“
„ Pah du mit deiner weißen Weste und deinem Heiligenschein. Was weißt du denn schon von dem, was sie will. Ich werde ihr noch ein wenig einheizen in Sachen Begierde der Liebe. Dann fragt sie nicht nach dem woher und wohin. Wenn das Feuer erst einmal so richtig brennt ... Glaub mir, damit kenne ich mich bestens aus. Mit dem Feuer! Ha ha ha ...“
Ich habe doch so etwas schon einmal gehört. Aber wann und wo? Ein Déjà vu? Brunhilde?
Oder bin ich gemeint?
Jetzt will ich es doch wissen.
Wer unterhält sich hier über wen? Wir sind doch allein. Reden die Nachbarn so laut oder ist das ein Gespräch im Fernseher gewesen?
Ich drehe mich also um, um zu schauen, remple meine Tochter an, die gerade mit der Sektflasche zu uns getreten ist, und … plötzlich fallen doch zwei Knallerbsen hinter mir zu Boden.
Ich schüttle erstaunt den Kopf. Knallerbsen in der Wohnung? Wir haben doch so was gar nicht.
Ich bin verunsichert. Da saßen doch eben noch …
Ich dachte, ich hätte einen Eng... Auf keinen Fall. So etwas gibt es doch nicht.
„Brunhilde, hast du auch eben das Gespräch vernommen? Da saß ein Engelchen und ein Teufelchen und haben sich unterhalten.“
Das hätte ich jetzt nicht sagen sollen. Brunhilde schaut mich an, als ob ich einen Hau oder zu viel getrunken hätte. Ähm... anti-alkoholischen Getränke. Also versuche ich, ihr von dem Gespräch zu erzählen. Doch wie ich schon vermutet habe, sie schaut mich noch immer an als … naja.
Ich winke ab und meine, es wäre wohl doch im Fernseher gewesen. Oder ich war mit meinen Gedanken wo anders. Nicht so wichtig.
Wir schauen weiter dem Feuerwerk zu, trinken unser Brabbelwasser und ein jeder hängt seinen Gedanken über das vergangene
Jahr nach.
Mir lässt dieses seltsame Gespräch keine Ruhe. Vielleicht ging es doch um mich. War ich doch die Einzige, die das Gespräch gehört hat.
Es stimmt. Ich bin irgendwie nach meinem Laptop süchtig. Den ganzen Tag bin bei myStorys eingeloggt, nur um ja keinen neuen Eintrag auf meiner Seite zu verpassen. Wie oft hab ich die Leser mit meinem Seelenschrott vollgelabert. Sicher, Frust muss raus und es geht mir damit auch viel besser. Trotzdem. Noch schlimmer ist es mit den Spielen. Schauen, wer da ist, immer gleich Antworten. Wie oft ist mein Name zu lesen in den einzelnen Treads? Wie oft halte ich Ausschau nach ganz bestimmten Personen?
Ich glaube es kaum. Ich habe mich total abhängig gemacht.
Das muss sich ab sofort ändern.
Da draußen gibt es noch ein anderes Leben.
Schuetzlein, halte deine Nase in den Wind. Du gehörst hinaus in die Welt. Egal, was du dir bisher vorgenommen hast.
DIES, dies wird vor allen anderen Dingen Vorrang haben.
MyStorys ist nicht der Nabel der Welt und die Mitglieder … nicht ... nicht greifbar.
Der Vorsatz für das neue Jahr:
Ein wenig spielen, lesen, schreiben,
und nicht zu lang am Laptop bleiben.
Hinaus, unter Menschen und in die Natur, denn da find' ich das wahre Leben pur.
© A.B.Schuetze 01/2015