Nathan
Eine Stimme flüstert: „Na komm schon. Spring!“
Wieder einmal höre ich diese raue, kalte Stimme in meinen Ohren. Die Stimme, die mich nun dazu überredet hat, hierher zu gehen. Leicht bekleidet stehe ich in dieser warmen Sommernacht unter dem hellen weißen Vollmond, der hoch am Himmel steht und starre den Abgrund hinunter, und schaue den Wellen zu, die gegen die Steine schlagen und zerbrechen. Ich lausche dem Rauschen des Meeres und fange an zu zittern. Alter Erinnerungen schießen in meinen Kopf,
gefolgt von starken Kopfschmerzen. Der Mond scheint mich an zu lachen, meine Müdigkeit täuscht mir vor, ein Gesicht darin zu sehen. Nicht nur irgendein Gesicht, sondern das meines verstorbenen Bruders. Dem einzigen Mann in meinem Leben, der mir soviel bedeutet hatte, der immer für mich da war, der mich immer wieder aus meinem Zuhause gezerrt hatte, weil ich sonst zerbrochen wäre.
Nun stehe ich hier, alleine, einsam, verlassen, zerbrochen. Vielleicht auch wahnsinnig.
„Ist das Meer nicht beruhigend? Willst du dich nicht auch einfach in die Wellen
stürzen und dich von ihren sachten Armen umschlingen lassen und die angenehme Kälte genießen? Willst du nicht wieder zu deinem Bruder? In seinen Armen liegen? Mit ihm reden? Einfach nur bei ihm sein?“, flüstert wieder diese raue Stimme.
„Nein“, schreie ich voller Verzweiflung. Meine Knie geben nach, ich breche zusammen, und weine vor mich hin. Ich will wieder zu ihm, denn ich halte es hier nicht aus. Gibt es jenseits dieser Welt, eine andere Welt, in der Verstorbene leben können? Wenn ich mich jetzt dort hineinstürzen würde, würde mein Geist bei meinem Bruder
landen?
Ich spüre eine gewohnte Berührung an meiner Schulter. Schlagartig drehe ich mich um, aber es steht niemand hinter mir.
„Nathan...“, spreche ich leise vor mich hin. Ich habe Nathan, meinen Bruder gespürt. Ist er etwa hier? Gibt es eine Möglichkeit mit ihm zu kommunizieren? Wieder die gewohnte Berührung aber diesmal im Gesicht.
„Nathan, kannst du mich sehen oder hören?“, frage ich naiv in die Nacht hinaus. Mir wird plötzlich warm ums
Herz, so wie es immer wurde, wenn er mich umarmt hat.
„Ich will wieder zu dir!“
Mit wackeligen Knien stehe ich wieder auf, gehe einige Schritte nach hinten und nehme Anlauf.
„Nur so, Bruderherz, können wir wieder vereint sein. Nur so, werde ich dich wieder haben!“
Und ich laufe und springe ab...