es war einmal ...
… ein Menschensohn. Der hatte all seine Lebensfreude verloren!
Glaubt mir, ich kann das sagen.
Von meinem angestammten Platz aus beobachtete ich ihn schon seit langer, langer Zeit.
Die Zeit ist das höchste Gut bei uns Raben. Wir sammeln sie und nutzen sie zum Beobachten und Lernen. Und ich bin reich und angesehen unter Unseresgleichen. Reich an Jahren, reich an Beobachtetem und reich an Erlerntem.
Was mir die nötige Weisheit verleiht, euch von dem großen Menschensohn und meiner kleinen List zu erzählen.
Seinen Namen kenne ich nicht, doch ich nenne ihn Phillip. Denn Phillips Kopf scheint voller Ideen zu stecken!
Es hatte sich für mich wahrlich gelohnt, ihn zu beobachten!
Dieser Menschensohn war stets beschäftigt mit sehr wichtigen und auch etwas unwichtigeren Dingen.
Diese zu unterscheiden ist eine schwierige Aufgabe und meist kann man das erst beurteilen, wenn es vollbracht ist. Deshalb widmete sich Phillip allen Dingen gleichermaßen konzentriert, um am Ende zu sehen, zu welcher Kategorie er sie nun zählen konnte.
Ob frecher Bubenstreich oder bedeutsames Projekt für den Weltfrieden, stets setzte er seinen Verstand in gleicher Weise ein, um sein Ziel bestmöglich zu erreichen.
Und wenn es Abend wurde und die Projekte des Tages abgeschlossen schienen, setzte er sich mitsamt seiner Gitarre in den Garten und musizierte.
Seine Stimme war so tief wie die tiefste Rabenseele und dabei so klar wie die Luft nach einem Sommergewitter.
Selbst der Ast, auf dem ich saß, schien im Takt mitzuwippen.
Doch mit diesem Ritual sollte bald Schluss sein. Alles begann mit einem Herrn in Schlips und Kragen und einem kleinen Päckchen.
Der Herr in Schlips und Kragen strich um das Haus herum und wäre beinahe unbemerkt geblieben, wenn Phillip nicht genau zum falschen Zeitpunkt vom Garten ins Haus hätte gehen müssen, um irgendein Schräubchen zu holen.
Die beiden unterhielten sich lange sehr angeregt, bis das Kästchen den Besitzer wechselte und der Mann in Schlips und Kragen sich händeschüttelnd verabschiedete.
Mit einem breiten, ja geradezu diebischen Grinsen stieg er in sein elegantes Auto und brauste davon.
Phillip und das Päckchen blieben zurück.
Zuerst braute Phillip sich einen Kaffee und dann setzte er sich gemeinsam mit dem besagten Päckchen auf das Gartenbänkchen.
Das Schräubchen und die angefangene Arbeit schien er längst vergessen zu haben.
In dem Päckchen befand sich ein weiteres Päckchen und darin ein kleines schwarzes Kästchen. Nach Bedienung einer winzigen Taste begann es zu leuchten.
Phillip war völlig gebannt von diesem kleinen Etwas und tippte den ganzen Tag darauf herum. Er bemerkte nicht einmal wie es Abend wurde.
Er sah nicht den Mond, der gütig über seine Einfältigkeit zu lächeln schien.
Und er bemerkte auch nicht, dass sich die Sonne langsam über das Dach des Wohnhauses erhob und dem Garten ein wunderbares Leuchten verlieh.
Ich war mir sicher, hier musste es mit Hexerei zugehen und erinnerte mich nur zu genau an das teuflische Grinsen des Beschlipsten.
Nun war es an mir, dieser Intrige ein Ende zu setzen. Nur wusste ich noch nicht, wie.
Ich musste genau überlegen. Bis zur Lösung nutzte ich die Zeit und beobachtete weiterhin meinen in sich vertieften Menschensohn.
Der Pudel des Nachbarn stahl sich durch die Lücke des Lattenzauns. Mit wedelndem Schwanz stand er vor dem übernächtigten Phillip und bettelte um ein Stückchen Wurst. Immer hielt Phillip etwas für den kleinen Vierbeiner bereit. Aber nicht heute. Ganz im Gegenteil! Er bemerkte nicht einmal das Winseln des Hundes.
Mit gesenktem Kopf zog der Kleine enttäuscht weiter.
Ich verschränkte mein Gefieder vor der Brust und konnte es nicht fassen. Was war nur mit Phillip passiert? Ich konnte und wollte dieses Benehmen nicht tolerieren!
Mit dem Vorsatz, Phillips Aufmerksamkeit von dem kleinen Kästchen zu lösen, flog ich in immer engeren Kreisen um seinen Kopf herum. Dabei stieß ich laute Rufe aus.
Federn flogen um seine Nase herum.
So brachte ich Phillip zwar zum Niesen, dennoch sah er nicht von dem kleinen
Kästchen auf!
Erschöpft ließ ich mich wieder auf dem Ast des Baumes nieder und besah mir den Phillip, wie er dort alleine auf dem Gartenbänkchen saß. Unrasiert und mit Rändern unter seinen Augen hing er müde über diesem Ding, auf dem ständig bunte kleine Bilder wechselten.
Ich rief meinen Freund, den Maulwurf, zur Hilfe.
Gerne befassten sich die Beiden miteinander. Stets spielten sie ein Versteckspiel, wobei Phillip immer den Teil des Suchers übernahm.
Der Maulwurf buddelte und buddelte. Ein Hügel nach dem anderen entstand um die kleine Sitzgruppe herum. Doch Phillip schaute nicht ein einziges Mal auf.
Langsam verschwand die Sonne hinter dem Wald und ich konnte die klagende Gitarre genau hören. Sie jammerte leise im Wohnhaus in ihrer Halterung und konnte nicht hinaus. Konnte nicht ihre wunderbaren Klänge in die Welt schicken.
Wie jeden Abend öffneten die Nachbarn alle Fenster. Doch war es bereits der zweite Abend ohne die erfüllende Musik,
die sie alle so sehr liebten, wenn sie ihnen unter die Haut kroch.
Ein letztes Mal hörte ich das Getrappel der Hufe, bevor sich auch die Pferde auf der Nachbarkoppel zur Ruhe legten. Auch davon bekam unser Menschensohn nichts mit.
Und wieder schaute der Mond zu Phillip herab. Der saß, nicht wach und auch nicht schlafend, krumm und schief auf seinem Bänkchen und war nicht wiederzuerkennen. Die Erschöpfung fraß sich in sein Gesicht.
Es war der reinste Katzenjammer.
Mit einem Mal kam es mir vor, als zwinkerte der Mond mir zu und zog eine dicke Wolke vor sein Antlitz.
Das war mein Augenblick!
Zielgerichtet schoss ich auf Phillip zu und entriss ihm mit meinem Schnabel das kleine schwarze Kästchen.
Phillip war so übernächtigt und überrascht, dass er vom Schreck einen animalischen Schrei ausstieß, ansonsten jedoch nichts ausrichten konnte.
Im Schutze der Dunkelheit flog ich in die höchsten Äste des Baumes und besah mir das kleine Gerät.
Es gab Tasten und Löcher und auch eine Klappe. Mit meinem spitzen Schnabel und einiger Erfahrung mit Nüssen und dergleichen konnte ich diese schnell öffnen.
Irgendetwas fiel heraus. Stieß hier und da an einen Zweig und landete im Blattwerk des letzten Herbstes.
Mein alter Freund, der Maulwurf, ließ sich nicht lange bitten. Auch er vermisste den Phillip mit seinen erstaunlichen Spielereien.
Doch war nun bereits seit zwei Tagen das Leben im Garten um so viel langweiliger geworden.
So nahm mein kleiner Freund das heruntergefallene Ding beherzt mit sich in die Tiefe.
Das Kästchen leuchtete nun nicht mehr und ich dachte mir, so kann ich es dem Menschensohn getrost wiedergeben.
Unterdessen wurde Phillip von der Müdigkeit übermannt. Zusammengesunken saß er mit verstoppeltem Kinn da und schlummerte.
Das schwarze Kästchen legte ich vorsichtig in seine Hand zurück.
Die ersten Sonnenstrahlen kitzelten an Phillips Nase. Müde rieb er sich die Augen. Kostete von dem schalen Kaffee von vor zwei Tagen. Angewidert verzog er sein Gesicht.
Mühsam betrachtete er das schwarze Kästchen in seiner Hand und bediente das kleine Knöpfchen. Doch nichts regte sich!
Dunkle Schatten zogen über seine Stirn, dennoch sah er kurz auf.
Missmutig starrte er auf das Werk von meinem Freund, dem Maulwurf.
Er legte das Kästchen zur Seite und griff nach der Harke.
Aufgeregt hüpfte ich auf meinem Ast hin und her.
Dann sah Phillip auf seine angefangene Arbeit und beäugte das kleine Schräubchen, welches er aus dem Wohnhaus holen musste.
Er erinnerte sich an den Mann mit Schlips und Kragen.
Strich sich mit der Hand über seine Bartstoppeln und besann sich für einen Augenblick.
Mit einem Mal erinnerte er sich an seine Gitarre, die nun schon seit zwei Tagen einsam in ihrer Halterung gefangen war.
Eilig holte er sie heraus und musizierte schon am helllichten Tag.
Überall öffneten sich die Fenster und die Leute schauten beseelt hinaus.
Phillip war wieder da!
Von diesem Tage an spielte er besser als je zuvor.
Unterdessen sitze ich hier oben auf meinem Ast und gebe acht, dass alles im Gleichgewicht bleibt.
Und - dass mein Freund das schwarze Kästchen schön in den Tiefen des Erdreiches versteckt hält.