Blinder Schmerz
Es tat so unglaublich weh. Mir liefen Tränen über die Wangen, während ich mich krampfhaft in dem kalten Metallgeländer verkrallte, welches die kleine Brücke über den Fluss zu beiden Seiten hin begrenzte. Ich konnte kaum etwas sehen, weil die Tränen meinen Blick verschleierten, ich spürte nur den beißend kalten Wind auf meinem Gesicht, der die Tränen in Windeseile auf meinen Wangen gefrieren ließ. Ich konnte nicht damit umgehen, dass er mich zurück gewiesen hatte. Sicher, es war nicht leicht, wenn man erfahren musste, dass
der eigene Kumpel schwul und an einem interessiert war, man selbst aber nie mehr als Freundschaft empfunden hatte. Aber es war unglaublich erniedrigend und demütigend, wenn man dann nicht den Mut dazu hatte, einfach die Wahrheit zu sagen, sondern sich monatelang über die Sache ausschwieg. Egal wie oft man gefragt und um einen Antwort gebeten wurde, man weigerte sich stur, irgendeine Form von Kommentar dazuzugeben, in der blinden Hoffnung, dass sich alles legen würde. Ich umklammerte das Geländer fester mit meinen Händen und spürte, wie sich das Metall schmerzhaft in meine Handflächen drückte, seine Kälte meine Haut und mein
Fleisch gefühllos zu machen begann. Ich wusste, dass es ein Fehler gewesen war, meinem besten Kumpel die Wahrheit über mein Gefühlsleben zu offenbaren. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, als würde mein Herz jeden Moment zerbersten und meine Brust explodieren lassen, weil der Schmerz darin mit scharfen Krallen zu toben und zu wüten schien, es regelrecht zerfetzte und mich doch physisch unversehrt hier stehen ließ. Ich schluchzte und neue Tränen flossen heiß über meine ansonsten kalte, gefühlslose Haut und tropften zum Teil auf das Geländer, die schneebedeckten Eichenbohlen der Brücke und in den reißenden Fluss darunter. Ich wollte
springen, doch irgendetwas hielt mich ab. Jedes Mal wenn mein Herz sich zusammenzog und ich mir vornahm, endlich auf das Geländer zu steigen und den letzten Schritt zu machen, tauchten Gesichter vor meinen inneren Augen auf: Meine Eltern, die untröstlich wären, weinen und sich fragen würden, warum ich das getan hätte. Gute Freunde, die wussten welche seelischen Höllenqualen ich durchlitt und mir zu helfen versuchten, wo sie nur konnten. Meine Brüder, die absolut nicht verstehen könnten, warum und ebenfalls eine unglaubliche Menge Tränen vergießen würden. Während all diese Bilder auf mich einströmten, merkte ich gar nicht,
wie ich das Geländer losließ und mich umdrehte um mich dagegen zu lehnen. Ich weinte noch eine Zeitlang mit geschlossenen Augen, bevor ich mich aufraffte und beschloss, nach Hause zu gehen. Ich würde leben, schon um diesen Schmerz nicht gewinnen zu lassen. Wenn ich nachgeben sollte, würde das nie wieder gut zu machen sein und ich wollte tief in meinem Herzen nicht, dass mich diese Sache in den Suizid trieb. Vorsichtig machte ich einen Schritt weg von dem Geländer, weg von der Brücke, weg von dem Fluss. Dann noch einen. Und noch einen. Ich begann erst zu gehen, dann zu laufen und schlussendlich zu rennen. Ich rannte
meine schlechten Gefühle, meine Selbstzweifel, meine Angst, schlicht meine ganzen Probleme; regelrecht in Grund und Boden. Und als ich schwer atmend und mit vor Anstrengung dampfendem Körper zu Hause ankam und mein kleiner Bruder mir entgegen kam, wusste ich, dass ich nicht aufgeben würde. Niemals würde ich zulassen, dass der Schmerz die Oberhand behalten und mein Leben zerstören würde. Ich würde kämpfen, egal um welchen Preis! Das schwor ich mir, als ich meinen Bruder auf den Arm nahm und dieser seine Arme um meinen Nacken schlang und sich an mich schmiegte. Ich würde nicht aufgeben! Niemals!