Wütend saß ich am Straßenrand und starrte aus leeren Augen auf die wenig befahrene Straße vor mir. Mein schmächtiges Gesicht spiegelte sich in einer tiefen Pfütze wieder, den Kopf hielt ich in beiden Händen. Ein Seufzer entfuhr meiner Kehle und ich blickte zum Himmel auf, aus dem sich noch immer Fluten von Regen ergossen. Das dunkle Haar hing mir in Strähnen klatschnass ins Gesicht. Dunkler Nebel, der fast schon schwarz wirkte, kroch bedrohlich durch die engen Gassen der Stadt und verdeckte mir die Sicht auf das bunte Treiben viele Meter vor mir.
Warum nur ich? Wieso immer ich? Sie konnten mich doch nicht für immer als
ihr Opfer betrachten. Vielleicht war ich nicht so gutaussehend wie sie, vielleicht trug ich nicht dieselben Klamotten. Ich wollte es doch auch nicht. Nicht einmal das Bedürfnis mit ihnen zu reden hatte ich. Aber sie sahen das wohl anders. Ich gehörte nicht zu ihnen und war der Außenseiter. So weit, so gut. Doch musste das denn bedeuten, von ihnen wie Dreck behandelt zu werden? All die hübschen Jungen, all die mehr als genug mit Schminke bedeckten Mädchen. Ich wollte nichts von ihnen. Sollten sie mir doch aus dem Weg gehen, wenn ich nicht in ihr Schema passte. Jeder halbwegs intelligente Mensch würde so handeln. Woraus ich Schlussfolgerte, dass sie
nicht in diese Kategorie gehörten. Aber war es denn nötig, mich vor allen anderen bloßzustellen? Mussten sie ich heimlich schlagen, mir drohen und mir erzählen, wie wenig wert ich war? War es denn die Wahrheit? Oh würden sie doch nur aufhören!
Ich wollte vor ihnen fliehen, einfach nur weg. Sehr weit weg. An einen Ort, an dem es kein Mobbing gab. Wo ich ungestört mein Leben leben könnte, wo Freunde da wären um mir Mut und Trost zu spenden.
Dieses verdammte Selbstmitleid! Ich musste endlich aufhören, mich zu verkriechen und vor ihnen zu verstecken. Aber sie waren so stark. So viele von
ihnen waren es, die mein Leben durch ihr unüberlegtes Tun Tag für Tag erschwerten. Ich konnte mich nicht gegen sie wehren.
Ich hatte kaum die Kraft, gegen die Schläge der Jungen zu bestehen. Mir fehlten die Worte, etwas auf die Sprüche der Mädchen zu antworten. So schwach war ich! Wie ein armseliges Tier, dessen Lebenssinn es war, sich vor jeder Gefahr in seinem Loch zu verkriechen. Eine kleine Maus gegen erbarmungslose Löwen, die täglich über mich herfielen. Was konnte ich schon allein ausrichten?
Eine Träne lief mir die Wange herunter. Salzig schmeckte ich das kalte Nass, das mir in den Mund rann. Ich durfte nicht
weinen. Nicht schon wieder. Ich war nicht so schwach. Sie wollten es doch so. Sie wollten mich fertig machen. Ich durfte es nicht zulassen!
Der Nebel, der ich umgab schien sich zu lichten. Nur noch wenige weiße Schwaden hingen in der Großstadtluft. Ich hörte, wie leise Schritte sich mir näherten. Ich sah nicht auf. Auf einmal setzte sich jemand neben mir nieder. Verwirrt starrte ich geradewegs in das Gesicht eines jungen Mannes. Ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen und seine blaugrünen Augen leuchteten mich warm an. Vorsichtig und ohne mich aus den Augen zu lassen rückte er näher und legte seinen Arm um meine Schulter. Ich
öffnete bereits den Mund, um zu protestieren, aber er legte seinen Zeigefinger auf meine Lippen und zog mich an sich heran.
Wer war er? Und was wollte er? Hatte er vor, mir etwas Böses anzutun? Vielleicht hätte ich nicht so lange an diesem gottverdammten Ort bleiben sollen. So viele Verbrechen konnten in Großstädten passieren. Doch der junge Mann wirkte nicht wie ein Verbrecher. Ich hatte sowieso keine andere Wahl, als ich zu vertrauen. Wollte er mir etwas tun, würde er es. Ich war schwächer als er.
„Wie heißt du?“, wisperte ich. Er lachte. Es war ein schönes Lachen. So voll von Lebensfreude. Es beruhigte mich und ich
entspannte mich in seinen Armen. Leise raunte er mir seinen Namen ins Ohr. Als auch ich ihm meinen sagen wollte, winkte er nur ab und fragte ruhig: „Was macht ein hübsches Mädchen so traurig, dass es mitten in der Stadt im strömenden Regen sitzen muss und weint?“ Ich antwortete nicht. Warum sollte ich eine Fremden meine Geschichte erzählen. Aber mein Herz gab mir eine Antwort darauf: Weil er zuhören würde. Niemand tat das. Er war hier für mich. Mich. Ein bis auf die Haut durchnässtes Mädchen, das er nicht kannte. Warum?
Aber es konnte mir egal sein. Er war da. Er würde bleiben. Also erzählte ich
knapp: „Mobbing, wie man es nennt. Einige Jungen, einige Mädchen. Ich kann nichts dagegen tun. Sie tun mir weh, körperlich und seelisch“
„Wie lange schon?“, wollte er wissen.
„Seit Jahren.“
Geschockt blickten seine großen Augen mich an.
„Und du hast dich nie zur Wehr gesetzt?“
Kopfschütteln von mir.
„Und deine Freunde?“, fragte er mich weiter aus.
„Hab ich nicht.“
„Keinen einzigen?“
„Nein.“
Ich spürte, dass die Tränen wieder fließen wollten. Wütend wischte ich mir
übers Gesicht und starrte den jungen Mann neben mir an. Er sollte ich nicht für so sensibel halten.
Stattdessen sagte er: „Lass sie laufen. Weinen tut gut.“
Ich nickte nur. Und dann begann ich, loszuheulen. Ich vergrub den Kopf in seiner Schulter und weinte seine Jacke noch nässer, als sie sowieso schon war. Er hatte recht, es tat gut. So gut. Ich vergaß alles um mich herum, es gab nur mich, ihn und den Schmerz. Doch der verklang langsam.
Als ich aufgehört hatte, lächelte der junge Mann zufrieden.
„Besser?“
„Viel
besser.“
“Und morgen?“
„Was meinst du mit „morgen“?“
„Was wirst du morgen tun? Dir das wieder von ihnen antun lassen?“
“Habe ich eine Wahl?“
„Die hast du! Entweder du lässt dich von ihnen zerstören, oder du stellst dich ihnen. Spüre die Wut in dir, nicht die Angst. Du bist etwas wert. Mehr, als diese Elenden, die vom Schmerz anderer leben. Deine Stimme hat ein Recht, erhört zu werden. Stell dich ihnen. Lass sie tun, was sie tun müssen. Zeig ihnen, dass sie dir egal sind. Sie werden es hassen. Und das nächste mal, wenn sie dir etwas tun kannst du erwidern:
„Seht her, es ist ok. Aber ihr könnt jetzt auch aufhören.“ Sie werden dich in Ruhe lassen.“
„Sie werden mich noch mehr ärgern!“
“Oh nein, das werden sie nicht. Ich verspreche es dir. Sie haben Spaß an deinem Schmerz. Empfindest du aber keinen, oder zeigst ihn nicht, macht das Spiel keinen Spaß mehr. Du kannst mir glauben. Ich kenne solche Leute. Auch ich habe ich lange Zeit nicht getraut, mich zu wehren, für mein Recht zu kämpfen. Aber sieh, jetzt bin ich glücklich. Und auch du sollst es werden.“
„Warum hilfst du mir? Du kennst mich doch gar
nicht.“
Wieder hörte ich sein liebevolles Lachen, aber er antwortete mir nicht, sondern zog mich in eine feste Umarmung. Dann zog er einen Stift und ein Stück Papier aus der Tasche seiner Jacke, dachte kurz nach und schrieb etwas nieder. Dann faltete er den Zettel und drückte ihn mir in die Hand. „Wenn du mal wieder Hilfe brauchst, öffne ihn.“ Dann grinste er mich ein letztes mal an, erhob sich und ließ ich völlig perplex zurück. Ich starrte ihm noch lange nach. Der dunkle Nebel in der Stadt war verschwunden.