Irgendwohin
Es war kurz vor Weihnachten 2013. Meine Schwester hatte mich gebeten, zur Apotheke zu fahren, um ihr etwas gegen Bauchschmerzen zu kaufen. Da es Sonntag war, wusste ich nicht genau, welche Apotheke Bereitschaft hatte und musste ein bisschen durch die Stadt fahren. Dementsprechend war ich genervt und wollte nur noch schnell das Medikament holen und nach Hause. Da vor der Apotheke kein Parkplatz war, musste ich etwas weiter weg parken und ein ganzes Stück laufen.
In der Apotheke war die Frau an der Kasse wohl auch genervt, weil sie sonntags arbeiten musste, und bediente mich äußerst mürrisch.
Also näherte sich meine Laune immer weiter dem Wert des Thermometers an diesem Tage an. Ich verließ die Apotheke und machte mich auf dem Weg zum Auto. Dabei fiel mir eine ältere Dame auf, die die erste war, die mir an diesem Tag auf der Straße begegnete. Sie hatte graues Haar, ging etwas gekrümmt und war, was mich sehr überraschte, nur sehr leicht angezogen. Eine braune Hose, ein Strickjäckchen und Hausschuhe. Hausschuhe!
Das hätte mich sofort stutzig machen müssen, aber ich bedachte sie nur mit einem kurzen Blick und beeilte mich, zu meinem Auto zu kommen. Aber nach weiteren 50 Metern blieb ich stehen. Da stimmte etwas nicht. Die Frau gehört eindeutig nicht auf die
Straße. Nicht bei diesen Temperaturen und in diesem Aufzug. Aber was hatte ich damit zu tun? Was ging mich eine Wildfremde an, die einen kleinen Sonntagsspaziergang unternahm? Vielleicht war sie nicht so kälteempfindlich und ging gerne etwas locker gekleidet aus dem Haus. Aber das war doch alles Quatsch. Was dachte ich da? Etwas in mir wusste, dass ich zurückgehen musste. Also drehte ich um und ging zurück zu ihr. Ich folgte ihr vorsichtig und schaute sie genauer an. Sie ging sehr langsam und versuchte offensichtlich mit ihren Armen die Balance zu halten. Als ich noch etwas näher kam, hörte ich auch, dass sie etwas vor sich her brummelte. Ich überholte sie und sprach sie vorsichtig an. Sie blieb stehen und schaute
mich an. Ich fragte, ob alles okay sei? Sie antwortete etwas Unverständliches. Ich fragte sie, wo sie her kommt. Sie schien mich zu verstehen, deutete mit dem Finger nach vorne und schwang die linke Hand zur Seite. Aber vorne war nichts. Ich überlegte mir, dass es dort irgendwo in der Nähe ein Altenheim geben musste, aus dem sie irgendwie abgehauen war. Jetzt galt es nur noch, herauszufinden, wo das Altenheim war und wie ich sie dorthin zurück bringen konnte. Also legte ich vorsichtig meine Hand auf ihren Rücken und sagte ihr, dass wir jetzt nach Hause gehen.
Es war ein seltsames Gefühl und ich rechnete fest damit, dass sie sich wehren und nicht mitkommen würde. Immerhin war ich
ein wildfremder Mann, den sie nicht kannte. Wieso sollte sie auf mich hören?
Aber sie wehrte sich keine Sekunde, dreht sich langsam um und ließ sich zurückführen. Ich hielt sie leicht am Arm und lotste sie langsam die Straße entlang. Sie konnte nur kleine Schritte machen ihre Gleichgewichtsprobleme verschwanden aber durch meine Hilfe. Die nächste Frage war nun, wo wir hinwollten? Ich wusste nicht genau, ob und wo ein Altenheim war, aber aufgrund ihres Zustandes und der kleinen Schritte konnte ich mir denken, dass unser Ziel nicht besonders weit weg liegen konnte. Auf der anderen Seite wusste ich auch nicht, wie lange sie schon unterwegs war …
Unterwegs trafen wir eine ältere Dame, die ich
nach dem Weg fragte. Sie sagte, dass in zwanzig Metern um die Ecke ein Altenheim sei. Ich bedankte mich und zog mit meiner Begleiterin weiter. Sie brummelte immer noch etwas vor sich hin und ich wusste nicht so genau, wie ich mich verhalten sollte. Mit ein paar ungeschickten Worten der Beruhigung hoffte ich das Richtige zu sagen, aber sie reagierte kaum darauf.
Dann sah ich aber auch schon den Eingang zu Altenheim: Eine einfache automatische Glastür, die ohne jegliche Kontrollen für jeden, der rein- oder raus wollte, aufging.
Wir gingen durch die Tür und traten in einen kahl eingerichteten Vorraum, der mit zwei Sofas und ein paar Stühlen bestückt war. Dort saßen drei betuchte Damen und
unterhielten sich. Als ich fragte, ob meine Begleitung aus ihren Reihen entflohen war, bejahten sie es wie selbstverständlich. Und wieso ihr keiner gefolgt sei, fragte ich. Es gäbe nicht genug Personal und niemand hätte es wohl mitbekommen, war die trockene und unaufgeregte Antwort. Und dann kam auch schon eine Schwester angerannt, bedankte sich bei mir und setze meine Begleiterin in eines der Sofa. Ich verabschiedete mich und sah beim Herausgehen die alte Frau, wie sie mit entgeistertem Blick vor sich her starrte, wieder allein gelassen, wie auf etwas oder jemanden wartend. Vielleicht war sie dorthin oder zu diesem jemanden unterwegs, als ich sie aufhielt? Ein Teil von mir wünschte ihr für
den nächsten Versuch mehr Glück.